Green Border (2023)

MENSCHEN OHNE RECHTE

6/10


greenborder© 2023 Piffl Medien / Agata Kubis


LAND / JAHR: POLEN, TSCHECHIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: AGNIESZKA HOLLAND

DREHBUCH: AGNIESZKA HOLLAND, GABRIELA LAZARKIEWICZ-SIECZKO, MACIEJ PISUK

CAST: JALAL ALTAWIL, MAJA OSTASZEWSKA, TOMASZ WLOSOK, BEHI DJANATI ATAI, MOHAMAD AL RASHI, DALIA NAOUS, PIOTR STRAMOWSKI, JAŚMINA POLAK, MARTA STALMIERSKA, AGATA KULESZA U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Über zweieinhalb Stunden reichen fast nicht, um Schicksale wie diese zu erzählen. Es sind Zustände, die an die finsterste Zeit in Europa erinnern – oder die Dystopie eines totalitären Polizeistaates vorwegnehmen, der Polen vielleicht einmal sein wird. Das ganze Szenario in Schwarzweiß zu halten, trägt nicht unwesentlich dazu bei, auch an Steven Spielbergs Schindlers Liste zu erinnern, der von einer Zeit berichtet, in der Menschen wie Vieh behandelt, entrechtet und enteignet wurden. Misshandelt, ermordet – und keine Träne nachgeweint. So sehr das auch nach Drittem Reich klingt: Ein lebendiges, denkendes Wesen so zu behandeln, als wäre es minderwertig – diese Klaviatur des Grauens spielt es immer noch. Und zwar nicht irgendwo im tiefsten Afrika, in Russland oder im Nahen Osten. Solche Töne schlägt man an der Außengrenze der ach so liberalen, alles und alle verbindenden Europäischen Union an, wenn syrische, afghanische oder Flüchtlinge von sonst wo ihr Leben aufs Spiel setzen, um dieses zu schützen. Sie gehen nicht den Weg der bürokratischen Ordnung, sondern stehlen sich über die grüne Grenze zwischen Weißrussland und Polen – das geht schneller, ist einfacher, und wenn man die entsprechenden Verbindungen spielen lässt, die Verwandte, die es bereits geschafft haben, in petto haben, könnte der Traum vom sicheren Leben Wirklichkeit werden. Denn Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, zu trinken, zu essen und zu schlafen – sind Grundbedürfnisse des Menschen, die gewährleistet werden müssen. Das sagt nicht nur die UN Menschenrechtserklärung, das sagt auch der Menschenverstand, sofern er nicht vom autoritären Populismus so weit durchgeknetet wurde, um dann einer Doktrin zu folgen, die man kaum für möglich hält, würde man es nicht mit eigenen Augen sehen.

Unsereins im sicheren Nest irgendwo geborgen in Österreich oder Deutschland, mit garantiertem Einkommen, Wohlstand und zum Bersten gefüllten Supermärkten – wir bekommen solche Zustände gerade mal wohldosiert über die täglichen Nachrichten mit. Und auch dann nur, wenn diese die Freiheit genießen, unabhängig zu berichten. Das ist längst nicht selbstverständlich, man muss schließlich nehmen, was man vorgesetzt bekommt. Oder man fährt selbst dorthin, an den Ort des Geschehens, um sich ein Bild zu machen, ohne Zensur, ohne Propaganda, sondern direkt, echt und schrecklich.

In dieses Grauen wirft sich Agnieszka Holland mit allem, was sie zur Verfügung hat. Als wäre sie eine Korrespondentin vor Ort, folgt sie einer sechsköpfigen Familie auf Schritt und Tritt, von den Sitzplätzen im türkischen Billigflieger bis zum Stacheldrahtzaun, der mehr schlecht als recht die grüne Grenze markiert. Ökotouristen hätten mit dieser Waldgegend wohl eine helle Freude – die Biomasse ist enorm, Elche und Wölfe lassen sich sehen, zwischen den flechtenbewachsenen Bäumen kilometerweit nur Sumpf und Morast, in dem man leicht versinken kann. Außerdem ist es bitterkalt, Wasser ist knapp, zu essen gibt es nichts, und der Akku des Smartphones ist leer. Als die Familie polnischen Boden erreicht, werden sie aufgegriffen und nach Belarus zurückgeschickt. Es ist schmerzlich, mitanzusehen, wie schwangere Frauen Kartoffelsäcken gleich über den Drahtverhau geschmissen werden. Wie andere getreten, schikaniert und eingeschüchtert werden. Betroffenheitskino par excellence schafft Holland hier aufzuziehen, nah am Menschen, die Kamera herumwirbelnd, das Elend einfangend, als wäre ihr Film nicht fiktiv, sondern reine Dokumentation.

Dass Green Border eben alles ist, nur keine True Story, erkannt man an dem Bedürfnis, alles anzureißen und nichts auszulassen – Keine Sichtweise, kein Schicksal, kein noch so tragisches Ereignis. Zweifelsohne macht die Machtwillkür der bösen Grenzsoldaten, die fast alle indoktriniert wurden, einfach nur wütend, man wünscht ihnen alles nur erdenklich Schlechte und könnte sich selbst motiviert fühlen, wäre man einer ähnlichen Situation ausgesetzt, mit den Aktivisten gemeinsame Sache zu machen. Die Lust an der Rebellion ist das, was Holland entfacht. Die Wut, die Ohnmacht, es ist schlichtweg eine Schande, diesen Missstand ertragen und mittragen zu müssen. Den obligaten Umdenker bei den Grenzschützern gibt es aber dann doch. Genauso wie die selbstlose Lebensretterin, die für ihren Mut alles aufs Spiel setzt. Es gibt die, die sich aus blinder Verzweiflung, aber auch völlig grundlos den Löwen zum Fraß vorwerfen und den Lichtstreifen am Horizont.

Green Border will alles sagen, alles erwähnen, nichts schuldig bleiben, scheint dann aber bald unter seiner Last zusammenbrechen. Überambitioniert und anklagend donnert das wuchtige Werk über den Zuseher herein, der nicht weiß, wohin mit seiner Entrüstung, der sich irgendwann davon distanzieren muss, und die Chance ergreift, aus dieser Distanz eine gewisse reisserische Plakativität zu erkennen, eine pflichterfüllende Agenda, um als humanitäres Manifest zu funktionieren. Das alles ist rechtschaffen und völlig richtig, packend auch und verstörend. Vielleicht aber hätte ein Blickwinkel gereicht, vielleicht wäre es auch besser gewesen, den Film in Farbe und nicht in Schwarzweiß anzulegen, um so diesem Werk mehr von seiner künstlerischen Distanz zu nehmen. Filme wie der ukrainische Klondike, der eine kleine Geschichte aus nur einer Perspektive erzählt und gelegentlich mit Metaphern spielt, hat letztlich mehr Wirkung als die radikale Direktheit eines aus den Fugen geratenen Universaldramas.

Green Border (2023)

Ein bisschen bleiben wir noch

NICHT TRENNEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT

5,5/10

 

bisschenbleibenwirnoch© 2020 Filmladen

 

LAND: ÖSTERREICH 2020

REGIE: ARASH T. RIAHI

CAST: ROSA ZANT, LEOPOLD PALLUA, CHRISTINE OSTERMAYER, SIMONE FUITH, RAINER WÖSS, INES MIRO U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN

 

„Stoppt den Asylwahnsinn!“ Den Imperativ so mancher politischer Vereine legt Filmemacher Arash T. Riahi ganz anders aus. Für ihn ist der Asylwahnsinn nichts anderes als die gängige Methode, Flüchtlinge in das Chaos abzuschieben, aus dem sie gekommen sind. Riahi war selbst noch minderjährig, als er in den 80ern aus dem Iran nach Österreich kam. Was er da wohl erleben, und wie sehr er selbst bangen musste, um nicht wieder ausgewiesen zu werden? Dieses Trauma lässt sich in seinem Spielfilm Ein bisschen beiben wir noch recht gut erahnen. Vor allem lässt sich erahnen, dass Riahi dieser Flüchtlingsproblematik extrem emotional gegenübersteht. Am liebsten wäre er ein Kind, dass sich herausnehmen kann, seine Wut in den Himmel zu schreien, das dem Gehorsam nicht zwingend folgen muss, das sich einfach wegträumen kann in eine Alternative, die alles möglich macht. Mit Monika Helfers Roman Oskar & Lilli hat Riahi die richtige literarische Grundlage gefunden, um in kindlich naiver, fast schon polemischer Weise das Versagen diverser Institutionen vorzuführen. Das sind neben der österreichischen Exekutive vor allem auch die Erwachsenen, die sich als Pflegeeltern den heimatlosen Schützlingen annehmen möchten. Die eigene Mutter von Oskar & Lilli hat genauso versagt – sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen und landet in der Psychiatrie. Die beiden Geschwister werden getrennt, was alleine schon ein enorm inhumaner Akt ist. Vehementer lässt sich eine Einheit namens Familie nicht aufdröseln. Funktioniert so wirklich der österreichische Asyl-Apparat? Das wäre erschreckend.

Oskar & Lilli bleiben also noch ein bisschen – jeder für sich in einem Haushalt, in den sie nicht hineingehören, in dem sie eigentlich verweilen, weil die anderen sich als Gutmensch einfach besser fühlen. Die beiden Kinder, ein Herz und eine Seele, lassen nichts unversucht, um die Familie wieder zusammenzubringen. Was überraschend einfach fällt, denn: in Riahis Jugenddrama ist die Aufsichtspflicht der Erwachsenen eine unterlassene. Und hier beginnt das Problem, dass Ein bisschen bleiben wir noch im Grunde hat: all die handelnden (erwachsenen) Personen scheinen in ihrem Tun wenig plausibel. Deutlich wird dieser Umstand in der unerklärlichen Autonomie der Kinder, die tagsüber in der Weltgeschichte herumstromern, und niemanden kümmert´s. Befremndlich wird’s, wenn Flüchtlingsjunge Oskar die Verantwortung für ein Kleinkind und eine pflegebedürftige alte Dame übernehmen muss, während die Eltern ihren Hochzeitstag feiern. Gibt es wirklich solche Menschen, die so fahrlässig agieren? Kann sein, dass das adaptierte Drehbuch hier einfach gewaltige Lücken aufweist, was die Darstellung der Charaktere betrifft. Kann aber auch sein, dass überhaupt der ganze Film aus der Sicht der Kinder erzählt ist, wie in den Romanen und Geschichten von Christine Nöstlinger. Die vereinfachte Weltsicht lässt sich so natürlich ausreichend erklären, auch, weil der Film zusehends immer irrealer, märchenhafter zu werden scheint, und so auch seine thematische Schwere etwas aufhebt.

Was Riahi aber in gewisser Vollendung zuwege bringt, das ist die visuelle Komponente. Gemeinsam mit Kameramann Enzo Brandner findet er eine geradezu magische Bildsprache, stellt manchmal Ansichten buchstäblich auf den Kopf, lässt den Blick wild umherschweifen, um ihn dann wieder auf einen Punkt am Himmel zu fokussieren. Aus dieser Sicht ist Ein bisschen bleiben wir noch ein kreativ artikuliertes Neuzeitmärchen, mal rührend, mal aufmüpfig, mal von skurriler kindlicher Logik. Rosa Zant und Leopold Pallua machen ihre Sache ausnehmend gut, die reiferen Darsteller hingegen glauben die Phrasen manchmal selbst nicht, die sie da sagen müssen. Nur Christine Ostermeier als Oma mit Parkinson zaubert ihre eigene Welt, bringt die Thematik aber vom Weg ab, womit der Film dann auch mangels Konzentration und zu viel emotionaler Bindung des Regisseurs etwas den Halt verliert. Wir bleiben noch ein bisschen ist ein Film mit einigen Stärken, inhaltlich jedoch wird das angestrebte Come together durch zu viel Ambition und dem schablonenhaften Verhalten seiner Figuren empfindlich gestört.

Ein bisschen bleiben wir noch

The Red Sea Diving Resort

REISE NACH JERUSALEM

6,5/10

 

redseadiving© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: GIDEON RAFF

CAST: CHRIS EVANS, MICHAEL K. WILLIAMS, BEN KINGSLEY, GREG KINNEAR, HALEY BENNETT, CHRIS CHALK U. A.

 

Captain America ist zurück: einst aufgepimpter Held im Zweiten Weltkrieg, dann im Tiefschlaf und später Ruler der Avengers, mittlerweile aber im Ruhestand. Das Marvel-Universum hinter sich lassend, probiert sich Darsteller Chris Evans diesmal zwar ebenfalls in einer aufrechten Gutmenschen-Rolle, allerdings aber mit mehr Connex zur Realität als bisher. Und er kaschiert sein Image bis zur Unkenntlichkeit mit noch mehr Vollbart als zuletzt in Avengers: Endgame. Evans ist in Gideon Raffs Agententhriller ein dauermotivierter Abenteurer im Außendienst, ein Befehlsempfänger zwar, aber einer, der die Wahl der Mittel selbst trifft. Wie das Agenten eben so tun, einschließlich erhöhtem Risiko zu vorzeitigem Ableben. Der alte „Captain America“ ist nun der neue „Captain Israel“, und was die beiden Mächte miteinander verbindet, lernen wir aus der Geschichte, die sich durchwegs wie ein Schwarzbuch über Flucht und Vertreibung ganzer Völker und Glaubensgemeinschaften liest. In der vorliegenden Netflix-Produktion sind die Vertriebenen diesmal die Juden Äthiopiens, die in langen Verzweiflunsgmärschen Richtung Sudan auf ein Überleben hoffen. So zugetragen in den 80er-Jahren. Eine Krise fast schon als Fußnote, bekannt war mir die Operation Moses oder Joshua jedenfalls nicht, und da die Hungersnöte in Afrika zu dieser Zeit ohnehin die Schlagzeilen beherrschten, ist diese religiös motivierte Schandtat an einer jüdischen Minderheit wohl weniger bekannt geworden. Nun, es hat sie gegeben, und The Red Sea Diving Resort knüpft lose an diesen wahren Begebenheiten an, die sich womöglich nicht so abenteuerlich und auf Spannungskino zugeschnittene Weise zugetragen haben wie der Film uns erzählen will. So ein Kern der Wahrheit lässt sich mit reichlich Exotik und dem Reiz ferner Länder garnieren. Die Kunst liegt dabei, die eigentliche Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren und sich auch nicht vom Captain America-Liebhaberkult zufriedenstellen zu lassen.

Gideon Raff, der momentan – und zwar ebenfalls für Netflix – eine 6teilige Spionageserie mit dem griffigen Titel The Spy am Laufen hat (Sasha Baron Cohen in einer untypisch ernsten Rolle), und sich damit ebenfalls in das Netzwerk des Mossad einschleust, ist – wen wundert’s – selbst Israeli, und Themenspezialist, wenn’s um den lokalen Geheimdienst geht. Die Eckdaten von damals als Fakten auf dem Tisch, sind es nun mehrere Tage am glutheißen Strand des Sudan, die Chris Evans und sein Team mit Blick auf das Rote Meer verbringen. Neue Einstiegsstelle für den jüdischen Exodus ins Gelobte Land ist ein von Italienern errichtetes und wieder dem Zahn der Zeit überlassenes Tauchresort, das in unruhigen Zeiten wie diesen, und noch dazu in einem instabilen Land wie dem Sudan, wo das Militär macht, was es will, wohl kaum Touristen begrüßen kann. Ein paar allerdings verirren sich immer noch in dieses Niemandsland, und dem Minister für Tourismus freuts, kassiert er doch jede Menge Geld für ein paar rustikale Steinbungalows. Als getarnte Drehscheibe für Flüchtlinge, die in Nacht und Nebel vom Flüchtlingscamp hierher verfrachtet und von Schlauchbooten der Israelis abgeholt werden, ein ideales potemkinsches Feriendorf. Bis dem Camp an der Grenze die Flüchtlinge ausgehen, und das gewaltbereite Militär den Israelis vermehrt auf den Zahn fühlt.

Es ist spannend, mitanzusehen, wie in Zeiten der noch nicht totalen Überwachung Täuschungs- und Rettungsmanöver wie diese gelingen können. Und es ist weiter spannend, mitanzusehen, wie Flüchtlingsrouten wie diese geöffnet statt geschlossen werden, wie jene, die das Zeug haben, zu helfen, auch aktiv helfen, statt in wegsehender Ignoranz den unterzeichneten Menschenrechten wegen sowas wie Asyl gerade noch dulden, um den Rest der darbenden Menschheit sich selbst zu überlassen. Diese damals wie heute brandaktuelle Thematik bettet Gideon Raff in einen routinierten Politthriller, der sich voll und ganz auf seine True Story verlässt. Das heisst im Klartext: keine schauspielerischen Herausforderungen. Die eine oder andere Nebenrolle versandet gar in nichtssagender, allerdings auch klischeehafter Blässe. Dennoch ist dieses wenig beachtete, humanitäre Abenteuer gefällig formuliert, bemüht sich längst nicht um derartige sinnbildliche Deklarationen wie zum Beispiel in Styx, riskiert aber einen berichtenswerten Blick in die jüngere Geschichte humanitärer Krisen. So wuchtig und verstörend wie Klassiker aus dem Politfilm-Hype der 80er (u. a. Salvador, Under Fire oder The Killing Fields) ist The Red Sea Diving Resort aber auch nicht geworden, dafür lässiger, draufgängerischer, im Grunde also Spannungskino der geradezu unterhaltsamen, aber nicht verharmlosenden Art. Was für dieses Thema fast schon untragbar erscheint – so wie das riskante Retten von Menschenleben.

The Red Sea Diving Resort