Green Border (2023)

MENSCHEN OHNE RECHTE

6/10


greenborder© 2023 Piffl Medien / Agata Kubis


LAND / JAHR: POLEN, TSCHECHIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: AGNIESZKA HOLLAND

DREHBUCH: AGNIESZKA HOLLAND, GABRIELA LAZARKIEWICZ-SIECZKO, MACIEJ PISUK

CAST: JALAL ALTAWIL, MAJA OSTASZEWSKA, TOMASZ WLOSOK, BEHI DJANATI ATAI, MOHAMAD AL RASHI, DALIA NAOUS, PIOTR STRAMOWSKI, JAŚMINA POLAK, MARTA STALMIERSKA, AGATA KULESZA U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Über zweieinhalb Stunden reichen fast nicht, um Schicksale wie diese zu erzählen. Es sind Zustände, die an die finsterste Zeit in Europa erinnern – oder die Dystopie eines totalitären Polizeistaates vorwegnehmen, der Polen vielleicht einmal sein wird. Das ganze Szenario in Schwarzweiß zu halten, trägt nicht unwesentlich dazu bei, auch an Steven Spielbergs Schindlers Liste zu erinnern, der von einer Zeit berichtet, in der Menschen wie Vieh behandelt, entrechtet und enteignet wurden. Misshandelt, ermordet – und keine Träne nachgeweint. So sehr das auch nach Drittem Reich klingt: Ein lebendiges, denkendes Wesen so zu behandeln, als wäre es minderwertig – diese Klaviatur des Grauens spielt es immer noch. Und zwar nicht irgendwo im tiefsten Afrika, in Russland oder im Nahen Osten. Solche Töne schlägt man an der Außengrenze der ach so liberalen, alles und alle verbindenden Europäischen Union an, wenn syrische, afghanische oder Flüchtlinge von sonst wo ihr Leben aufs Spiel setzen, um dieses zu schützen. Sie gehen nicht den Weg der bürokratischen Ordnung, sondern stehlen sich über die grüne Grenze zwischen Weißrussland und Polen – das geht schneller, ist einfacher, und wenn man die entsprechenden Verbindungen spielen lässt, die Verwandte, die es bereits geschafft haben, in petto haben, könnte der Traum vom sicheren Leben Wirklichkeit werden. Denn Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, zu trinken, zu essen und zu schlafen – sind Grundbedürfnisse des Menschen, die gewährleistet werden müssen. Das sagt nicht nur die UN Menschenrechtserklärung, das sagt auch der Menschenverstand, sofern er nicht vom autoritären Populismus so weit durchgeknetet wurde, um dann einer Doktrin zu folgen, die man kaum für möglich hält, würde man es nicht mit eigenen Augen sehen.

Unsereins im sicheren Nest irgendwo geborgen in Österreich oder Deutschland, mit garantiertem Einkommen, Wohlstand und zum Bersten gefüllten Supermärkten – wir bekommen solche Zustände gerade mal wohldosiert über die täglichen Nachrichten mit. Und auch dann nur, wenn diese die Freiheit genießen, unabhängig zu berichten. Das ist längst nicht selbstverständlich, man muss schließlich nehmen, was man vorgesetzt bekommt. Oder man fährt selbst dorthin, an den Ort des Geschehens, um sich ein Bild zu machen, ohne Zensur, ohne Propaganda, sondern direkt, echt und schrecklich.

In dieses Grauen wirft sich Agnieszka Holland mit allem, was sie zur Verfügung hat. Als wäre sie eine Korrespondentin vor Ort, folgt sie einer sechsköpfigen Familie auf Schritt und Tritt, von den Sitzplätzen im türkischen Billigflieger bis zum Stacheldrahtzaun, der mehr schlecht als recht die grüne Grenze markiert. Ökotouristen hätten mit dieser Waldgegend wohl eine helle Freude – die Biomasse ist enorm, Elche und Wölfe lassen sich sehen, zwischen den flechtenbewachsenen Bäumen kilometerweit nur Sumpf und Morast, in dem man leicht versinken kann. Außerdem ist es bitterkalt, Wasser ist knapp, zu essen gibt es nichts, und der Akku des Smartphones ist leer. Als die Familie polnischen Boden erreicht, werden sie aufgegriffen und nach Belarus zurückgeschickt. Es ist schmerzlich, mitanzusehen, wie schwangere Frauen Kartoffelsäcken gleich über den Drahtverhau geschmissen werden. Wie andere getreten, schikaniert und eingeschüchtert werden. Betroffenheitskino par excellence schafft Holland hier aufzuziehen, nah am Menschen, die Kamera herumwirbelnd, das Elend einfangend, als wäre ihr Film nicht fiktiv, sondern reine Dokumentation.

Dass Green Border eben alles ist, nur keine True Story, erkannt man an dem Bedürfnis, alles anzureißen und nichts auszulassen – Keine Sichtweise, kein Schicksal, kein noch so tragisches Ereignis. Zweifelsohne macht die Machtwillkür der bösen Grenzsoldaten, die fast alle indoktriniert wurden, einfach nur wütend, man wünscht ihnen alles nur erdenklich Schlechte und könnte sich selbst motiviert fühlen, wäre man einer ähnlichen Situation ausgesetzt, mit den Aktivisten gemeinsame Sache zu machen. Die Lust an der Rebellion ist das, was Holland entfacht. Die Wut, die Ohnmacht, es ist schlichtweg eine Schande, diesen Missstand ertragen und mittragen zu müssen. Den obligaten Umdenker bei den Grenzschützern gibt es aber dann doch. Genauso wie die selbstlose Lebensretterin, die für ihren Mut alles aufs Spiel setzt. Es gibt die, die sich aus blinder Verzweiflung, aber auch völlig grundlos den Löwen zum Fraß vorwerfen und den Lichtstreifen am Horizont.

Green Border will alles sagen, alles erwähnen, nichts schuldig bleiben, scheint dann aber bald unter seiner Last zusammenbrechen. Überambitioniert und anklagend donnert das wuchtige Werk über den Zuseher herein, der nicht weiß, wohin mit seiner Entrüstung, der sich irgendwann davon distanzieren muss, und die Chance ergreift, aus dieser Distanz eine gewisse reisserische Plakativität zu erkennen, eine pflichterfüllende Agenda, um als humanitäres Manifest zu funktionieren. Das alles ist rechtschaffen und völlig richtig, packend auch und verstörend. Vielleicht aber hätte ein Blickwinkel gereicht, vielleicht wäre es auch besser gewesen, den Film in Farbe und nicht in Schwarzweiß anzulegen, um so diesem Werk mehr von seiner künstlerischen Distanz zu nehmen. Filme wie der ukrainische Klondike, der eine kleine Geschichte aus nur einer Perspektive erzählt und gelegentlich mit Metaphern spielt, hat letztlich mehr Wirkung als die radikale Direktheit eines aus den Fugen geratenen Universaldramas.

Green Border (2023)

A Private War

DEN BLICK DORTHIN, WO´S WEHTUT

6/10

 

privatewar© 2018 Ascot Elite

 

LAND: USA, GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: MATTHEW HEINEMAN

CAST: ROSAMUNDE PIKE, JAMIE DORNAN, STANLEY TUCCI, TOM HOLLANDER, GREG WISE U. A.

 

Einem Schulkollegen aus der gymnasialen Unterstufe bin ich vor Jahren zufällig mal auf Facebook begegnet. Beeindruckt hat mich, was aus ihm geworden ist – nämlich Journalist. Das wäre auch für mich eine Alternative gewesen, und zumindest als Blogger kann ich gegenwärtig der Freude am Schreiben ein bisschen nachgehen. Was aber besagter Kollege aus seiner Profession letzten Endes gemacht hat, das würde ich nie tun, schon allein aus einer gewissen Grundverantwortung heraus: mich beruflich in Gefahr begeben. Den Schreibtisch hat der Ex-Kollege schon mal gegen Schussweste und Helm getauscht, zum Beispiel auf seinen Recherchen nach Afghanistan. Sichere Wege sind das keine mehr, aber den Blick dorthin zu richten, wo es weh tut, das machen nur wenige. Wie sonst könnte man erfahren, was in Regionen wie diesen alles abgeht. Unerfreuliches, Bitteres, humanitär höchst Bedenkliches. Das wird, da man nur einer oder eine von wenigen ist, zu einer Berufung, zu einer ganz anderen Verantwortung, der man sich schwer entziehen kann, die sich schon fast damit vergleichen lässt, auserwählt zu sein. Mit so einem Umstand musste zum Beispiel die amerikanische Journalistin Marie Colvin klarkommen. Und die hat, was Krieg und Krisen betrifft, wirklich keine halben Sachen gemacht. Hat dabei sogar ein Auge verloren. Und ist auch sonst wie dem Tode entkommen, bist dieser dann doch zugeschlagen hat, im syrischen Homs, so geschehen im Februar des Jahres 2012.

Für die Lebens- und Leidensgeschichte dieser Reporterin ohne Grenzen hat sich Rosamunde Pike verpflichten lassen. Und sie entfesselt diesen diffizilen Charakter mit einer grimmigen Hartnäckigkeit, die preisverdächtig erscheint. Pike war schon immer für alle Rollen zu haben, doch meist waren es solche, die sich nicht so einfach auf einen Nenner bringen lassen, die gerne eine dunkelgraue Seite haben, die anecken und provozieren. Provokant ist ihre Marie Colvin in jedem Fall, denn das Bild, dass sie zeichnet, ist weder das einer furchtlosen Heldin, die den Adrenalinkick zum Eigennutz braucht, noch das einer schillernden Ikone des Kriegsjournalismus. Es ist die Studie einer Psyche mit massiver posttraumatischer Belastungsstörung, und viel weniger die Sucht nach dem Kick, den manchen Kriegsreportern nachgesagt wird. Regisseur Matthew Heineman differenziert die Stereotype einer manisch-selbstlosen Reporterin, die vielleicht nur auf den ersten Blick so wirkt, als wäre sie eine todesverachtende, fast schon mythologische Heldin, die in den Tartaros menschengemachter Zwistigkeiten eindringt. Auf den zweiten Blick ist Colvin eine ruinierte Seele, die ohne den Level der Anspannung in sich zusammensackt, die ein normales Leben nie wieder führen kann, die sich mit Haut und Haaren einer Wahrheitsfindung geopfert hat, die wir in den täglichen News konsumieren, nichts oder nur peripher ahnend, was dahintersteckt. In A Private War, wie der Titel schon sagt, blicken wir hinter und unter die Trümmer nicht nur ganzer Minderheiten, sondern auch eines Individuums, das seinen ganz privaten, inneren Krieg führt. Das ist etwas, was dem Film gelingt, wenngleich er aufgrund seines Fokus auf Rosamunde Pike das dramaturgische Grundgerüst etwas vernachlässigt. Was heissen soll, dass Marie Colvins letzte Lebensjahre wie von ihr besuchte Niemandsländer aneinandergereiht sind. Diese fragmentarische Erzählweise kann man machen, wenn man es kann. Heineman verlässt sich zu sehr auf seine Hauptdarstellerin, worauf man sich prinzipiell auch problemlos verlassen könnte. Nur ist der Unterbau unterkühltes Sückwerk ohne Raffinesse. Die Bilder aber, die sprechen für sich, und es ist ein besonderer Kniff dabei, A Private War mit demselben Bild beginnen und enden zu lassen: Mit dem Blick dorthin, wo nichts mehr wehtut, weil alles vernichtet ist.

A Private War

Jupiter´s Moon

DA HILFT NUR NOCH EIN WUNDER

5/10

 

jupitersmoon© 2018 Thimfilm

 

LAND: UNGARN, DEUTSCHLAND 2017

REGIE: KORNÉL MANDRUCZÓ

CAST: MERAB NINIDZE, ZSOMBOR JÉGER, GYÖRGY CSERHALMI, MÓNIKA BALSAI U. A.

 

Was gibt es eigentlich Neues aus Syrien? Seit sich hier in Österreich das Wahlkampfgetrommel tagtäglich im Takt erhöht und – natürlich zurecht – der Klimawandel ganz oben auf den Agenden steht, finden die Entwicklungen im Nahen Osten maximal nur in den Kurzmeldungen Erwähnung. Solange sich dieser Bürgerkrieg nicht als Teil des Wahlprogramms mancher Grenzwallerrichter verwenden lässt, wie zum Beispiel die Rückholung des Nachwuchses ausgereister IS-Bewerber, bleiben diese Schicksale unter ferner liefen. Wenn da kein Wunder geschieht, ändert sich dort kaum etwas. Auf Wunder lässt sich aber bis zum St. Nimmerleinstag hoffen. Und wenn so ein Wunder eintritt, dann sind das die Skills bemerkenswerter Geistlicher, die dann posthum heilig werden. Bei Wundern fällt mir natürlich sofort Jesus von Nazareth ein, oder Pater Pio, der angeblich die Wundmale Christi trug. Ihr könnt das natürlich halten, wie ihr wollt: Aber gesetzt den Fall, es gab und gibt dieses Paranormale: Wie damit umgehen? Und wie lässt sich so ein Wunder überhaupt nutzen, vor allem in so prekären Situationen wie während einer Flucht? Hat man da überhaupt die Muße, sich näher damit auseinanderzusetzen?

Interessante Fragen, ein spannendes Szenario, das der ungarische Filmemacher Kornél Mundruczó in seinem metaphysischen Flüchtlingsdrama Jupiter´s Moon da formuliert und entworfen hat. In seinem Werk, dessen Titel Bezug nimmt auf den Eismond Europa, der mit hoher Wahrscheinlichkeit unter seinem kilometerdicken Eispanzer flüssiges Wasser verbirgt, wagen sich der Syrer Aryan und dessen Vater über die grüne Grenze nach Ungarn. Leider geht im entscheidenden Moment so einiges schief, und Aryan wird auf der Flucht weiter Richtung Westen erschossen. Doch er stirbt nicht, er überlebt trotz mehrerer Schüsse in die Brust. Und er kann plötzlich fliegen, oder sagen wir besser: schweben. Und nicht nur das: im Laufe der Zeit entwickelt er die Fähigkeit, nicht nur sich selbst den Gesetzen der Gravitation zu entziehen, sondern auch alles, was ihn unmittelbar umgibt.

Ratlos ist da nicht nur der ungarische Schauspieler Zsombor Jéger als hilfsbedürftiger X-Men, sondern auch der Zuseher. Warum und wozu genau der Syrer als Auserwählter dieses plötzliche, allen Gesetzmäßigkeiten der Physik zum Trotz erhaltene Wunderhandeln besitzt, hat für den Film, wie es aussieht, nicht so wirklich Relevanz. Ganz klar – Jupiter´s Moon ist eine Allegorie auf so manche Zustände an der Grenze zum sicheren Heil. Keine Ahnung natürlich, wie sich Flüchtlinge fühlen müssen, wie hoch der Rest ihres Selbstwertes denn überhaupt noch ist, ob sich dieser noch messen lässt. Und ob überhaupt noch das Prinzip Hoffnung eine Rolle spielt. Ich hoffe, diesen Zustand niemals erfahren zu müssen. Doch würde ich als Flüchtling den Wunsch verspüren, fliegen zu können? Vielleicht nicht, aber vielleicht würde ich denken: Ach, wäre ich doch ein Superheld. Wäre ich doch etwas Besonderes. Jemand, den man nicht übersehen kann. Der gleichzeitig über allem schwebt, die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet, der vielleicht die Paradigmen umkehrt und der die Wertschätzung erhält, die ihm zusteht. Vielleicht ist das die Prämisse des eigenartigen, undurchsichtigen Streifens, der sich deutlich schwertut, seinen Willen zu formulieren.

Protagonist Aryan bleibt eine ratlose, verirrte, verstörte Figur. Sein Ziel ist es, seinen Vater zu finden, sein Weg aber kreuzt ihn mit dem eines in Ungnade gefallenen Arztes, der Flüchtlingen falsche Krankenakten ausstellt, um sie nach Europa zu retten. Mit Aryan wittert er das große Geschäft des Wunderheilens – klarer Fall von Scharlatanerie. Der Syrer macht vorerst mit, warum auch immer. Zsombor Jéger ist die Ratlosigkeit, die Orientierungslosigkeit in Person. Das überträgt sich auf den ganzen Film, der in verzweifelter Unfähigkeit, Ziele zu formulieren, in mehrere Richtungen gleichzeitig navigiert. Das ist konfus, und seltsam unnahbar. Da mag zwar eine noble Ambition hinter dem Projekt gesteckt haben – dafür manifestiert sich dieses Gleichnis als allzu verschwurbelt, diffus und unartikuliert, um die Bedeutungsschwere in vollem Ausmaß zu erfühlen. Bei Underdog ist Kornél Mundruczó diese Allegorie besser geglückt, der Plot, die Idee dahinter war begrenzter, kleiner und griffiger. Das Thema der Flüchtlingskrise so anzupacken scheint wie ein klarer Fall von fehlender Bodenhaftung.

Jupiter´s Moon

Der Himmel wird warten

REKRUTEN FÜR DEN GOTTESSTAAT

7/10

 

himmelwirdwarten© 2017 Neue Visionen

 

LAND: FRANKREICH 2016

REGIE: MARIE-CASTILLE MENTION-SCHAAR

MIT NOÉMIE MERLANT, NAOMI AMARGER, SANDRINE BONNAIRE, CLOTILDE COREAU, ZINEDINE SOUALEM U. A.

 

Der IS, die Sekte des Terrors, fehlgeboren aus der Religion des Islam, arbeitet mit den gleichen Mitteln wie alle anderen radikalen Vereine, die so tun, als würden sie eine Religion vermitteln: mit Gehirnwäsche, werbewirksamer Verführungskunst und Lügen, die einzig darauf abzielen, Ängste zu schüren. Im Grunde wirbt der IS wie seinerzeit der Katholizismus mit der Absolution durch den Ablasshandel. Was hätten diese geld- und machtgierigen Bonzen damals nur alles Erdenkliche noch tun können, wären sie durch soziale Medien wie Facebook oder YouTube vertreten gewesen? Die damals relativ leichtgläubige, furchtsame und vor der Obrigkeit devote Welt wäre dem Papst noch mehr zu Füssen gelegen als es tatsächlich der Fall war. Erzählen lässt sich schließlich viel, auch das Blaue vom Himmel mit all seinen Jungfrauen. Und die Hölle, die gibt es immer noch. Aus dem Konzept gerissen erscheinen diese Methoden ziemlich lächerlich – gelingt es aber, den noch formbaren Geist eines jungen Menschen an den Angelhaken perfider Manipulation zu bekommen, wird es erst richtig gefährlich. Genau davon berichtet Mention-Schaar´s Film über die Krümmung des guten Willens und das Brechen junger Seelen.

Dabei erzählt Der Himmel wird warten zwei Geschichten, die erst am Ende das Missing Link zueinander sichtbar machen. Die ineinander verwobenen Episoden schildern detailliert die Radikalisierung eines französischen Teenagers in eine Islamistin, die sich nur zu gerne für einen Einsatz in Syrien rekrutieren lässt. Auf der anderen Seite sehen wir eine Metamorphose in die andere Richtung, von der Resozialisierung in ein normales Leben. Die Mechanismen, die für beide Richtungen jeweils angewandt werden, sind erstaunlich gut extrahiert. Blickt man in die Abgründe sowohl während der Befreiung aus einer verzerrten Realität als auch während der Vergiftung des Geistes durch den Fanatismus islamistischer Rattenfänger, lassen sich für einen Außenstehenden Warnsignale gut erkennen und abgrenzen. Für einen Gefangenen inmitten diffuser Wahrheiten, die nichts als Propaganda sind und als Fake News auf den ersten Blick logisch erscheinen mögen, ist die Abgrenzung vor dem „Bösen“ leichter gesagt als getan.

Der Himmel wird warten basiert lose auf dem Buch der Sozialpsychologin Dounia Bouzar (die auch im Film sich selbst spielt) und ist ein Pflichtprogramm für Schulen rund um den Erdball. Klar auch, dass dieses Lehrstück über Manipulation aus Frankreich kommt, hat dieses Land nicht genug Scherereien mit den scheinbar wahllos wie Metastasen aufpoppenden Terrorismus, der Stadt und Land in Angst und Schrecken versetzt hat. Doch nicht nur Frankreich, auch Österreich hat das eine oder andere Opfer vom Kreuzzug in den Nahen Osten abhalten können – manche wiederum nicht. Der vorliegende Film ist brisanter denn je, und so geradlinig und edukativ in seiner Szenenwahl, dass sich Schülerinnen und Schülern richtigen Alters die faschistoiden Mechanismen nicht nur im Moment, sondern auch merkbar für die Zukunft sonnenklar erschließen. Der Himmel wird Warten ist eine Präventivmaßnahme fürs Kino und für den Fernseher aus dem Lehrerzimmer. Ein Film, der gezeigt werden muss, gefährliches Denken im Ansatz ersticken kann oder gar nicht gleich aufkommen lässt. Anfang der Achtziger war es der semidokumentarische Sekten-Film Ticket to Heaven mit Kim Catrall und Saul Rubinek, der das Leben nach der Gehirnwäsche präzise schildert. Nicht zu vergessen Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Die schonungslose Drogenstory nach Tatsachen war zu meiner Schulzeit das Aufklärungskino schlechthin. Zwar manchmal notwendig reißerisch, dafür aber Mittel zum Zweck. So und nicht anders funktioniert das Medium Film, wenn es einen Bildungsauftrag erfüllen muss. Und dieser Auftrag besteht. Auch dafür muss Kino eine Plattform sein.

Der Himmel wird warten

Die andere Seite der Hoffnung

DER LIEBE AUGUSTIN DES MIGRATIONSZEITALTERS

7/10

 

andereseitehoffnung© 2017 Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG

 

LAND: FINNLAND 2017

REGIE: AKI KAURISMÄKI

MIT KATI OUTINEN, VILLE VIRTANEN, TOMMI KORPELA, MATTI ONNISMAA, SHERWAN HAJI U. A.

 

Und wieder einmal ist da einer so ziemlich abgebrannt in Helsinki. Aber nicht, weil dieser Jemand aus Finnland raus will, um mit einem Schiff namens Ariel nach Mexiko auszuwandern. Diesmal will dieser Jemand hinein nach Finnland und in Helsinki neu anfangen. Abgebrannt sind sie beide. Und der eine ist noch dazu anfangs ziemlich schwarz um die Nase. Klarer Fall von Menschenschmuggel. Genauer gesagt hat sich der Syrer Khaled in einem Kohlefrachter selbst nach Finnland manövriert. Eigentlich wollte er das gar nicht. Und seine Schwester, mit der ihm die Flucht aus Syrien gelungen war, ist auch vom Radar verschwunden. Also ein ziemlich düsterer Status Quo. Allerdings längst nicht so düster als würde man in Aleppo bleiben und sich die Bomben auf den Kopf fallen lassen.

Wie sich ein finnischer Filmemacher der Sache mit den Flüchtlingen stellt, zeigt Kultregisseur Aki Kaurismäki mit Die andere Seite der Hoffnung nun schon ein zweites Mal. Mit Le Havre hatte der Meister des lakonischen Humors ein künstlerisch hochwertiges Glanzstück hingelegt, ein berührendes Märchen rund um Integration und die Idee eines besseren Lebens. Ganz so versöhnlich geht es in der thematisch verwandten Ergänzung dieses hochkomplexen Themas längst nicht mehr zu. Die Welt, in der sich nicht nur Khaled, sondern auch der Hemdenverkäufer Waldemar orientieren muss, ist eine zugegeben ziemlich triste. So trist, als befänden wir uns in einem dieser alptraumhaften Tableaus eines Roy Andersson. Dieser Ausnahmeschwede ist vermutlich nur hartgesottenen Filmkunstgenießer ein Begriff. Seine Werke sind bühnenhafte Arrangements, die bis ins kleinste Detail komponiert und einer beklemmenden, höchst artifiziellen Isolation unterworfen sind. Themen wie Fremdenhass, Katholizismus, Macht und Existenz sind nur einige der vielen Fragen, die Andersson dem Zuschauer stellt. Aki Kaurismäki gesellt sich in seinem Anti-Hoffnungsschimmer auf ähnliche Weise dazu. Sein an Ort und Stelle verharrendes Panoptikum verlorener, aber niemals mutloser Gestalten, die erstmal keinerlei Ausweg aus ihrer kleinen Existenz finden können, begegnen dem Schicksal mit sturer Phlegmatik. Es ist das Recht auf Wohlstand, dass sowohl der Einwanderer als auch der alteingesessene Lokalheld einfordern. Beide stehen in ihrer registrierten Identität wieder am Anfang, begegnen sich zu Beginn des Filmes rein zufällig, um sich für sagen wir mal zwei Drittel der Geschichte wieder aus den Augen zu verlieren. Lange fragt man sich, was beide Episoden wohl miteinander zu tun haben sollen. Doch wie es bei Kaurismäki meist der Fall ist, fügt das finnische, dem Schicksal trotzende Schicksal Welten zusammen, die sich auf den ersten Blick nichts zu sagen haben – auf den zweiten Blick aber viel voneinander profitieren können. Wäre da nicht das latent bedrohliche Gespenst des Nationalismus in Europa, das gerne die Hoffnung auf ein genügsames Leben ersticken will.

Natürlich lässt sich die Flüchtlingskrise, das Migrationschaos und die Angst vor Terror und des Fremden nicht so einfach und mit solch boulevardesker Naivität über den Kamm scheren. Dazu neigt Kaurismäki – seine Geschichten sind simpel, aber nicht verhöhnend simpel. Seine Figuren scheinen in ihrem neorealistischen Dasein nicht viel zu sagen zu haben. Aber vielleicht ist das endlich mal der Ausweg aus einem Dilemma des Zerdachten, dem der Finne sich längste Zeit zugeneigt fühlt. Vielleicht ist das pragmatische Herankommenlassen unvermeidlicher Ereignisse, die Vorort-Lösung kleinerer Probleme, die letzten Endes imstande sind, das große Ganze zu ändern, wirklich die allerbeste Methode, dem europäischen Schlamassel zu entkommen. Diese heruntergekommene, völlig uneinladende Gaststätte im Film ist wie das Europa der Gegenwart. Die liebevoll ausgestattete Grunge-Bühne des versifften Pseudo-Gorumetlokals ist Schauplatz zufällig scheinender Konsequenzen, ein Labor des Probierens einer Zukunft, die niemals festgeschrieben steht. Und die auch neue Gesetze des Zusammenlebens in völliger Autarkie zusammendichten kann. Es ist so eine befreiend zurückgenommene Einfachheit, die Die andere Seite der Hoffnung motivierend belächelt. Wie in den gemalten Bildern eines kaum erstrebenswerten Glücks sitzen Kaurismäkis bewährte Protagonisten einem Maler Modell, der filmt statt zu pinseln. Seltsam arrangiert wirkt das Ganze, hölzern, wächsern und künstlich beleuchtet. Der  Stil des Finnen ist unverkennbar, Und treibt auch hier wieder ausufernde Blüten. Und dann, wenn alles schief zu gehen scheint, werden die Pechvögel für ihre Aufmüpfigkeit belohnt – so sehr sie auch bluten müssen. Einen Kaurismäki sieht man immer wieder gerne. Zwar nicht dauernd, aber in gesunden Abständen tut das richtig gut. Vor allem, weil Kaurismäki so befremdend anders seine Geschichten erzählt. Und dort nichts vortäuscht, wo anderswo dick aufgetragen wird. Ein Kino der Gestrandeten und Improvisateure – ermutigend, ironisch und von zäher Natur.

Die andere Seite der Hoffnung

Welcome to Norway

WIR BAUEN UNS EIN FLÜCHTLINGSHEIM

6,5/10

 

norway
© 2016 Neue Visionen / Quelle: filmstarts.de

 

LAND: NORWEGEN 2016
REGIE: RUNE DENSTAD LANGLO
MIT Anders Baasmo Christiansen, Olivier Mukuta, Slimane Dazi

 

Irgendwo in Norwegen. Eine leerstehende Immobilie, die einmal ein Hotel hätte werden sollen. Und ein Möchtegern-Unternehmer mit Mangel an nötigem Kleingeld. Da kommt der Flüchtlingsstrom ja wie gerufen. Was für die einen unendliches Leid bedeutet, kann für den einstweiligen Selfmade-Pechvogel nur von Vorteil sein. Klingt bitter und zynisch – und ist es teilweise auch. Denn das Hotel, das wird zum Flüchtlingsheim. Eigentlich eine brillante Idee, um an Geld zu kommen. Der Staat hat dafür einiges an Zuschuss parat. Doch zuvor muss man überhaupt erst mal wissen, wie denn ein Flüchtlingsheim aussehen soll. Und was es braucht. Wer weiß das besser als die Flüchtlinge selbst. Denn die stehen im wahrsten Sinne des Wortes erstmal vor ungemachten Betten.

Bei IKEA gibt es noch keine Flüchtlingsheime im Eigenbau, auch kein Flüchtlingsheim für Dummies in gelbschwarzem Einband. Klar, dass Welcome to Norway voller unerwarteter wie schräger Momente stecken muss, die auf den ersten Blick zwar erheiternd und kauzig wirken, des weiteren aber in ihrer satirischen Form ihre Tragik offenbaren. Die Idee, eine Komödie zur Flüchtlingskrise dem Medium Kino beizusteuern, ist ungefähr so geschmacklos wie den islamistischen Terror in Four Lions zu veralbern oder den Holocaust als Clownerie darzustellen. Tabuthemen, die so gar nicht augenzwinkernd auserzählt werden dürfen. Oder doch? Der norwegische Regisseur Rune Denstad Langlo denkt sich so seinen Teil – und beantwortet die Frage mit Ja. Es hat schon etwas befreiendes, die Flüchtlingspolitik insbesondere Norwegens und die damit einhergehende Xenophobie Europas zu karikieren. In der Karikatur liegt viel Wahrheit. Und Betroffenheitskino lässt die, die sich ohnehin schon mit dieser Thematik beschäftigt haben, in phlegmatischer Selbstbestätigung zurück. Also hat die Komödie mehr Wirkung, auch wenn hier das Schmunzeln im Halse stecken bleibt. Schonungslos, aber versöhnlich.

Welcome to Norway ist eine geradlinige, teils ernüchternde Do-it-yourself-Dramödie, die den medial projizierten Asylhorror zum Teil des Alltags werden lässt. Allerdings zu einem Alltag, in dem jeder vom anderen profitieren kann. Die Einwanderer von den Einheimischen und umgekehrt. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die aufgeht. In einem komprimierten, vereinten Europa als Hotel im windumtosten Nirgendwo. Wenn schon ein Miteinander, dann tatsächlich nur in der Not.

Welcome to Norway