Red Rocket

LIEBER DURCHSTARTEN ALS FRÜHSTARTEN

8/10


redrocket© 2021 Universal Pictures International Germany


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SEAN BAKER

CAST: SIMON REX, SUZANNA SON, BREE ELROD, ETHAN DARBONE, JUDY HILL U. A. 

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Eigentlich hätte ich mir denken können, dass es dergleichen geben muss: den „Oscar“ fürs Adult Entertainment. Diese Preisverleihung ist natürlich eine, die abseits des Mainstream maximal die Themen-Presse an den dortigen roten Teppich lotst. Doch wie gesagt: es gibt ihn – den AVN oder Adult Video News Award. So eine Live-Übertragung kann da eine Spur länger dauern als bei der Academy, waren da zuletzt sage und schreibe 99 Kategorien am Start. Aber bitte – das alles weiß ich auch erst seit gestern, seit Sean Bakers neuem Wurf, der einen geschassten Pornostar zurück an den Start schickt, um neu Anlauf zu nehmen. Und eben dieser berufliche Stecher kann sich rühmen, besagten AVN bereits mehrmals gewonnen zu haben. Auf Pornhub hat dieser sogar einen eigenen Kanal. Also was will Mann in diesem Business eigentlich mehr? Da wir seit Pleasure wissen, wie schnell Porno-Starlets wieder in der Versenkung verschwinden, wird mit Red Rocket wiederum klar, wie es maskulinen Helden der Horizontalen eben auch gehen kann. Baker erfindet dafür eine vergnüglich-ironische Bestandserhebung übrig gebliebener Ressourcen, um im Business nochmal durchzustarten.

Gespielt wird dieser dreiste Lebenskünstler, der sich und seine Zukunft neu erfinden will, von einem tatsächlichen ehemaligen Pornoschauspieler, nämlich Simon Rex. Er weiß also zumindest ein bisschen, wie dieses Gewerbe funktioniert, hat aber seitdem bereits auch in anderen, jugendfreieren Filmen mitmischen dürfen, mit denen man aber nicht unbedingt hausieren gehen will. Darunter findet sich die gefühlt hundertteilige Scary Movie-Reihe und sonstiger parodistischer Klamauk. Gut, für Komödien hat Rex also ein gewisses Faible. Und ja: dieses naiv-beschwingte Mähen alltagsproblematischer Wiesen beherrscht der stattliche Schönling durchaus gut. Das fängt schon damit an, wie dieser  als Mickey bei seiner im Stich gelassenen Noch-Ehefrau in Süd-Texas nahe Galveston einfällt – mit nichts außer ein paar Dollars in der Tasche und dem wehleidigen Blick eines von der Bordkante getretenen Streuners. Nur ein paar Nächte Unterschlupf, bettelt er – bis er was Neues gefunden hat, wieder ausholen und durchstarten kann. So ein Mann mit Hundeblick erzeugt natürlich Mitleid, also hat er bald ein geliehenes Dach über den Kopf – sonst aber nichts. Er verdingt sich als Hasch-Dealer und lernt alsbald in einem Donut-Laden (klingt wie ein Adult Movie: Donut Hole) die gerade noch minderjährige Strawberry kennen, ein kokettes Mädel mit Sommersprossen und roten Haaren, offen für Neues und vor allem für den großen Traum von Hollywood. Mit der eigentlichen Ehefrau Lexi läuft es allerdings ebenfalls besser, doch Mickey sieht im Gegensatz zu dieser nur in Strawberry den Schlüssel für sein perfekt arrangiertes Comeback. Klar, dass es dabei zu Missverständnissen kommen kann, vielleicht auch zu kleinen Lügen, doch wenn es sich einer wie Mickey richten will, sind kleine Opfer das Mindeste auf dem Weg zu neuerlichem Ruhm.

Wie dieser Simon Rex auf einem klapprigen Fahrrad die kleinstädtischen Alltagsparameter durcheinanderwirbelt, ist kurios und auf sympathische Weise unfreiwillig selbstironisch. Nichts liegt diesem Mickey wohl ferner, als nicht ernstgenommen zu werden. Doch gerade diese Eulenspiegel‘sche Art eines professionelles Sex-Gottes, der wie ein gestrandeter Superheld auf der Suche nach seinem flirrenden Stretch-Overall Gönner, Neider und Skeptiker kompromittiert oder für seine eigenen Zwecke einspannt, schenkt dieser kauzigen, koitusaffinen Sozialkomödie den richtigen Dreh. Mit Bakers The Florida Project konnte ich beileibe weniger anfangen als hiermit.

Was aber da wie dort den pastelligen Traum eines glücklichen Lebens als abkratzbare Fassade vorzüglich illustriert, sind die dem amerikanischen Realismus verwandten blassbunten Bilder, die mit Sunny Side Up am Frühstückstisch beginnen und in der zuckerlrosa Pin-Up-Version eines Eigenheims enden. Mit diesem stilistischen Wunderland gibt sich Sean Baker als zutiefst amerikanischer, dieses Land und dessen Improvisationstalent über alles liebender Künstler, der mit Edward Hopper genauso auf einen schäumenden Milkshake gehen würde wie mit Chloë Zhao, deren Nomadland grundsätzlich betrachtet eine ähnliche, aber viel ernstere Klaviatur spielt.

Red Rocket

Ich bin dein Mensch

DIE SIMULATION DER ZWEISAMKEIT

7/10


IchBinDeinMensch© 2021 Majestic Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

REGIE: MARIA SCHRADER

CAST: MAREN EGGERT, DAN STEVENS, SANDRA HÜLLER, HANS LÖW, WOLFGANG HÜBSCH, ANNIKA MEIER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Es ist menschlich, sich was vorzumachen. Mit der eigenen zurechtverdrängte Realität lässt sich doch gut leben. Warum sollte man also da aufhören, wo es vielleicht am schönsten wäre? Bei der Partnerschaft. Manchmal reicht da einfach nur eine Stimme, um sich zu verlieben. Jean Cocteau hatte die Stimme am Telefon. Für Joaquin Phoenix in Spike Jonzes Her war Scarlett Johannsons Organ zu einer nicht körperlichen KI mehr als genug, um sich zu verlieben. Wenn dann aber ein attraktiver Mann mittleren Alters, augenscheinlich aus Fleisch und Blut, jeden Wunsch von den Augen abliest, kann das nur ein Erfolgsmodell werden. Damit nämlich rechnet eine in Berlin ansässige Robotik-Firma und hat bereits Eurozeichen in den Augen, als nur noch eine einzige Hürde überwunden werden muss, bevor die Innovation auf den Markt kommt: die Testung in privatem Haushalt. Für so etwas wird die Archäologin Alma mehr oder weniger zwangsverpflichtet. Sie muss den Partner-Androiden Tom für 3 Wochen mit zu sich nach Hause nehmen und auf die Frage Eignen sich Roboter als Partner-Ersatz? ein so gut es geht objektives Gutachten verfassen. Alma hat wenig Lust dazu, steckt sie doch bis über beide Ohren in einer Studienveröffentlichung zum Thema Keilschriften. Doch da muss sie durch – und nimmt den etwas hölzern wirkenden Charmebolzen mit in die eigenen vier Wände. Dieses Gekünstelte, so meint Tom, gibt sich bald – er muss seinen Algorithmus nur noch perfektionieren. Was aus diesen nächsten Wochen daraus entstehen mag – es ist nicht vorherzusehen. Und das ist schon mal eines der schönen Dinge, die diesen Film als etwas sehr Interessantes klassifizieren.

Ich bin dein Mensch ist ein Science-Fiction-Film, der noch weniger als Her visuellen Futurismus auch nur irgendwie nötig hat. Niemals blickt man in das Innere von Tom, niemals auch nur sind scheinbar schwebende Displays, Kabeln oder Knöpfe jemals relevant. Maria Schrader schlägt mit ihrem durchdachten Beitrag zum Informationszeitalter eine ganz andere Richtung ein. Dabei ist es, im Gegensatz zu ebenfalls recht durchdachten Filmen aus dem Roboter-Genre, auch nicht gerade die Frage der Ethik, die hier im Vordergrund steht. Für sie ist der Umstand, oder die Möglichkeit, alsbald einen Mensch-Ersatz menschlichem Willen zu unterwerfen, ein Umstand, der genauerer Betrachtung bedarf. Ein sozialpsychologisches Problem also. Eine ganz eigene Studie, die Maria Schrader hier betreibt, und für die sie mit Maren Eggert eine ebenso kritische wie leidenschaftliche Verfasserin gefunden hat. Vor ihr der charmante, ein bisschen als eine Mischung aus Anthony Perkins und James Stewart empfundene Gesellschafter – Dan Stevens (u. a. Die Schöne und das Biest, Downton Abbey) schafft als grüblerischer und gutmütiger Android mit britischem Akzent einen brillanten Balanceakt zwischen Star Trek´s Data und einem menschlichen Superhirn wie Sheldon Cooper, dazwischen aber gelingen ihm verblüffend menschliche Züge, bei welchen man als Zuseher fast schon selbst vergisst, dass dieser Tom eigentlich ein Roboter ist. Dabei zählen seine durchaus logisch nachvollziehbaren Handlungen, die enormes komödiantisches Potenzial entfalten, zu den wirklich witzigen Höhepunkten des Films.

Ich bin dein Mensch ist aber nur zum Teil Komödie. Im Grunde ist Schraders Film eine Gewissensfrage – an den Menschen im Zustand erdrückender Isolation und an ein künstliches Wesen, das vorgibt, alles zu verstehen. Die Simulation der Zweisamkeit allerdings kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, ist sie doch darauf ausgerichtet, die Grundmotivation der Lebenden, nämlich das Streben nach unerfüllten Wünschen, vorwegzunehmen. Doch andererseits… was weiß man.

Diese nachdenkliche, spitzzüngige und enorm pointierte Komödie über ein gesellschaftliches Grundproblem unserer Zeit schlägt zwar klar einen Kurs ein, lässt aber trotzdem alle Fragen offen. Und das in einer Zeit der vermeintlichen Fortschritte und anmaßenden Gewissheiten.

Ich bin dein Mensch

Ein bisschen bleiben wir noch

NICHT TRENNEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT

5,5/10

 

bisschenbleibenwirnoch© 2020 Filmladen

 

LAND: ÖSTERREICH 2020

REGIE: ARASH T. RIAHI

CAST: ROSA ZANT, LEOPOLD PALLUA, CHRISTINE OSTERMAYER, SIMONE FUITH, RAINER WÖSS, INES MIRO U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN

 

„Stoppt den Asylwahnsinn!“ Den Imperativ so mancher politischer Vereine legt Filmemacher Arash T. Riahi ganz anders aus. Für ihn ist der Asylwahnsinn nichts anderes als die gängige Methode, Flüchtlinge in das Chaos abzuschieben, aus dem sie gekommen sind. Riahi war selbst noch minderjährig, als er in den 80ern aus dem Iran nach Österreich kam. Was er da wohl erleben, und wie sehr er selbst bangen musste, um nicht wieder ausgewiesen zu werden? Dieses Trauma lässt sich in seinem Spielfilm Ein bisschen beiben wir noch recht gut erahnen. Vor allem lässt sich erahnen, dass Riahi dieser Flüchtlingsproblematik extrem emotional gegenübersteht. Am liebsten wäre er ein Kind, dass sich herausnehmen kann, seine Wut in den Himmel zu schreien, das dem Gehorsam nicht zwingend folgen muss, das sich einfach wegträumen kann in eine Alternative, die alles möglich macht. Mit Monika Helfers Roman Oskar & Lilli hat Riahi die richtige literarische Grundlage gefunden, um in kindlich naiver, fast schon polemischer Weise das Versagen diverser Institutionen vorzuführen. Das sind neben der österreichischen Exekutive vor allem auch die Erwachsenen, die sich als Pflegeeltern den heimatlosen Schützlingen annehmen möchten. Die eigene Mutter von Oskar & Lilli hat genauso versagt – sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen und landet in der Psychiatrie. Die beiden Geschwister werden getrennt, was alleine schon ein enorm inhumaner Akt ist. Vehementer lässt sich eine Einheit namens Familie nicht aufdröseln. Funktioniert so wirklich der österreichische Asyl-Apparat? Das wäre erschreckend.

Oskar & Lilli bleiben also noch ein bisschen – jeder für sich in einem Haushalt, in den sie nicht hineingehören, in dem sie eigentlich verweilen, weil die anderen sich als Gutmensch einfach besser fühlen. Die beiden Kinder, ein Herz und eine Seele, lassen nichts unversucht, um die Familie wieder zusammenzubringen. Was überraschend einfach fällt, denn: in Riahis Jugenddrama ist die Aufsichtspflicht der Erwachsenen eine unterlassene. Und hier beginnt das Problem, dass Ein bisschen bleiben wir noch im Grunde hat: all die handelnden (erwachsenen) Personen scheinen in ihrem Tun wenig plausibel. Deutlich wird dieser Umstand in der unerklärlichen Autonomie der Kinder, die tagsüber in der Weltgeschichte herumstromern, und niemanden kümmert´s. Befremndlich wird’s, wenn Flüchtlingsjunge Oskar die Verantwortung für ein Kleinkind und eine pflegebedürftige alte Dame übernehmen muss, während die Eltern ihren Hochzeitstag feiern. Gibt es wirklich solche Menschen, die so fahrlässig agieren? Kann sein, dass das adaptierte Drehbuch hier einfach gewaltige Lücken aufweist, was die Darstellung der Charaktere betrifft. Kann aber auch sein, dass überhaupt der ganze Film aus der Sicht der Kinder erzählt ist, wie in den Romanen und Geschichten von Christine Nöstlinger. Die vereinfachte Weltsicht lässt sich so natürlich ausreichend erklären, auch, weil der Film zusehends immer irrealer, märchenhafter zu werden scheint, und so auch seine thematische Schwere etwas aufhebt.

Was Riahi aber in gewisser Vollendung zuwege bringt, das ist die visuelle Komponente. Gemeinsam mit Kameramann Enzo Brandner findet er eine geradezu magische Bildsprache, stellt manchmal Ansichten buchstäblich auf den Kopf, lässt den Blick wild umherschweifen, um ihn dann wieder auf einen Punkt am Himmel zu fokussieren. Aus dieser Sicht ist Ein bisschen bleiben wir noch ein kreativ artikuliertes Neuzeitmärchen, mal rührend, mal aufmüpfig, mal von skurriler kindlicher Logik. Rosa Zant und Leopold Pallua machen ihre Sache ausnehmend gut, die reiferen Darsteller hingegen glauben die Phrasen manchmal selbst nicht, die sie da sagen müssen. Nur Christine Ostermeier als Oma mit Parkinson zaubert ihre eigene Welt, bringt die Thematik aber vom Weg ab, womit der Film dann auch mangels Konzentration und zu viel emotionaler Bindung des Regisseurs etwas den Halt verliert. Wir bleiben noch ein bisschen ist ein Film mit einigen Stärken, inhaltlich jedoch wird das angestrebte Come together durch zu viel Ambition und dem schablonenhaften Verhalten seiner Figuren empfindlich gestört.

Ein bisschen bleiben wir noch

The Kindness of Strangers

VERLOREN UND WIEDERGEFUNDEN

7,5/10

 

kindnessofstrangers© 2019 Alamode Film

 

LAND: USA, DÄNEMARK 2018

REGIE: LONE SCHERFIG

CAST: ZOE KAZAN, ANDREA RISEBOROUGH, TAHAR RAHIM, BILL NIGHY, JAY BARUCHEL, CALEB LANDRY JONES U. A.

 

An alle, denen soziale Nähe nicht nur in Corona-Zeiten suspekt vorkommt und die mit Free-Hugs-Aktivisten nicht viel anfangen können: in Lone Scherfigs feinfühligem Sozialdrama menschelt es gewaltig. Aber es menschelt auf eine gute Art, um nicht zu sagen: auf enorm gute Art. Das ist Nähe, die man zulassen kann. Nächstenliebe würden manche dazu sagen, Altruismus die Studierten. Vorweihnachtliche Umsicht diejenigen, die, von wärmenden Geschichten wie die von Charles Dickens inspiriert, gerne alle Menschen in Geborgenheit wissen wollen. Natürlich, niemanden soll es schlecht ergehen. Der sichere Hafen eines guten Zuhauses ist allerdings subjektiv. Für Machtmenschen wie den Ehemann von Clara (berührend unbeholfen: Zoe Kazan) gilt die harte Hand als Maß aller guten Dinge. Für den Rest der Familie nicht. Also flieht dieser Rest in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Aggression des Vaters ins winterliche New York – mit nichts außer einem Auto als Heimstätte, und ihrer Liebe zueinander. Dabei kann Clara durchaus ahnen, dass es nicht nur ihr so geht. Ein anderer junger Mann wiederum scheint zu keiner Arbeit fähig zu sein, weil das Pech ihn verfolgt. Wieder einer findet durch Glück Arbeit in einem russischen Restaurant – sonst aber plagt ihn die Einsamkeit. Und wieder eine arbeitet sich als Krankenpflegerin und Leiterin einer Selbsthilfegruppe zum buckligen Igor für andere.

Von den Unsichtbaren inmitten von Vielen erzählt dieser Film. Was anfangs scheint, als wären in The Kindness of Strangers thematisch verwandte Episoden der gemeinsame Nenner, verwebt sich zusehends und in keiner Weise verzettelnd zu einem großen, erkenntnisreichen Ganzen. Die Dänin Lone Scherfig (u. a. An Education) zeigt hier ganz viel Gespür für ihre strauchelnden Seelen, die niemals auch nur ansatzweise dem Sozialvoyeurismus die Hand aufhalten. Es sind die Zutaten für eine Art des Ensemblefilms, die scheinbar nur Script-Genie Richard Curtis so fein verweben kann. Sein Drehbuch zu Vier Hochzeiten und ein Todesfall ist längst Kult, Tatsächlich Liebe… und Alles eine Frage der Zeit, beides unter seiner Regie, sind bemerkenswert ausformulierte Filme zu leicht verbraucht wirkenden Themen wie Beziehung, Intimität und Herz. Vor allem letzterer ist pure Inspiration. Scherfig kann das genauso gut. The Kindness of Strangers schlägt aber deutlich düsterere Töne an, der soziale Abstieg der Familie rund um Clara lässt andere womöglich verzweifeln. Der von überall verbannte Taugenichts Jeff erweckt nur Mitleid. Und Krankenschwester Alice will man am liebsten gestern unter die Arme greifen. Andrea Riseborough sticht hier hervor wie eine wärmende Lichtgestalt an trüben Tagen. So selbstlose Menschen sind erstaunlich. Aber auch der Mut der anderen und der Trost von Fremden ist nichts, was alltäglich ist, aber durchaus sein könnte. Diese Erkenntnis ist letzten Endes unglaublich positiv und weckt Zuversicht in einem Zeitalter des Eigennutzes, in welchem viele sich selbst inszenieren und kaum mehr etwas geben, ohne zu nehmen. Interessanterweise erwarten all die Figuren in diesem Film für ihre Nächstenliebe gar nichts und erhalten viel mehr als jemals gedacht. Ein schönes, überlegtes und liebevoll inszeniertes Werk, indem die Gutmenschen jene sind, die sich niemals selbst dafür halten würden.

The Kindness of Strangers

The Peanut Butter Falcon

ANDERS ALS WIR DENKEN

7/10

 

PBF_0681.TIF© 2019 Tobis Film

 

LAND: USA 2019

REGIE: TYLER NILSON, MICHAEL SCHWARTZ

CAST: SHIA LABEOUF, ZACK GOTTSAGEN, DAKOTA JOHNSON, BRUCE DERN, JOHN HAWKES, THOMAS HADEN CHURCH U. A. 

 

Einer der warmherzigsten Filme des Jahres 2019 soll er gewesen sein, das Roadmovie rund um einen Heimausreißer mit Down-Syndrom und einem schuldzerfressenen Taugenichts aus den Südstaaten: The Peanut Butter Falcon. Relativ leicht ließe sich der Film aber auch anders betiteln. Wie wäre es mit: Der 22jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, frei nach Jonas Jonasson? Wer das Buch des Schweden kennt, weiß, welche Abenteuer der alte Mann da allesamt besteht. Womöglich sind die Abenteuer des jungen Zack weniger irrwitzig, dafür aber umso einschneidender für ein Leben, das noch gelebt und gestaltet werden will. Denn der rundliche, nur mit einer Unterhose bekleidete Zack, der will trotz seines geistigen Handicaps etwas aus sich machen. Er hat Pläne. Und ein Idol, dem er nacheifern will: Der junge Mann will zum Wrestling. Da gibt es einen, der nennt sich Saltwater Redneck, und der hat eine Wrestlingschule irgendwo in den Sümpfen Louisianas, und dort will er hin. In einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten vielleicht tatsächlich umsetzbar. Zufällige Variable, die ihm vielleicht einen Strich durch seine Rechnung machen könnten, die rechnet er natürlich nicht mit ein. Einer dieser Variablen ist – kaum zu erkennen – Shia LaBeouf mit unkontrolliertem Bartwuchs und versiffter Kleidung, auf der Flucht vor der krabbenfischenden Konkurrenz. Und die hat ihr gutes Recht, dem lebensuntauglichen Strauchelnden die Leviten zu lesen. Wie zu erwarten: die beiden Außenseiter treffen aufeinander – und raufen sich zusammen. Denn zweimal lebensuntauglich könnte einmal Lebensmut ergeben – oder nicht? Kein Problem, wäre da nicht Betreuerin Eleanor (reizend und liebevoll: Dakota Johnson), die so gar nicht mit den Plänen ihres Schützlings Zack klarkommt. Zumindest vorerst nicht.

Eine HuckFinniade, die sich Tyler Nilson und Michael Schwartz da ausgedacht haben. Ein zutiefst menschelndes Abenteuer mit einer erstaunlichen Entdeckung: nämlich Newcomer Zack Gottsagen, der die auf seinen Leib geschriebene Rolle mit Bravour meistert, Wortwitze kontert und selber mit genug Ironie die augenzwinkernden, teils lebensphilosophischen Dialoge bereichert. Dass Menschen mit Down-Syndrom auffallend gut schauspielern können, das hat letztens schon Luisa Wöllisch bewiesen, die in der deutschen Handicap-Komödie Die Goldfische für quirlige Diva-Momente gesorgt hat. Nicht zu vergessen natürlich Jaco van Dormaels belgisch-französisches Roadmovie Am achten Tag, in welchem der Schauspieler Pasqual Duquenne (Goldene Palme 1996!) an der Seite von Daniel Auteuil über sich hinauswuchs. Plotmäßig haben beide Filme – The Peanut Butter Falcon und Am achten Tag, deutliche Parallelen. In beiden Filmen ist das Pflegeheim anfangs ein Gefängnis, und hindert sie daran, sich trotz ihres Defizits selbst zu verwirklichen. Der Ausbruch gelingt, und folglich bleiben beide nicht lange allein. Ob Auteuil oder LaBeouf – die Komponente des beschützenden Erwachsenen, der von der Weltsicht des Anderen allerdings profitiert, bringt die herzerwärmende Story erst ins Rollen.

Und ja, das ist sie: herzerwärmend. Und positiv. Und wahnsinnig zuversichtlich. Was man anfangs nicht vermutet. Das Damoklesschwert der einschränkenden Realität hängt permanent über dem Willen nach Freiheit. Anderswo wäre diese Floßfahrt wohl ernüchtenderweise gekentert, zum Beispiel bei Clint Eastwood (A Perfect World), doch Tyler und Schwartz wagen ein brüderliches Märchen, das sich so gut anfühlt wie ein Kurzurlaub mit dem besten Freund oder der besten Freundin, wo man an nichts mehr anderes denkt außer an den Moment, der gerade passiert. Wo es keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt. Wo die Zukunft mit links machbar erscheint. Eingewoben in dieses tragikomische Szenario auf schwappendem Untergrund ist die Kulisse der feuchtheissen Swamps der Südstaaten. Die Schwüle, all die Gerüche und Klänge, all dieses Nowhere-Land, dieser Touch unbegrenzter Möglichkeiten, die lassen sich spüren, und die tun gut. Das letzten Endes The Peanut Butter Falcon einen Drall Richtung surrealer Traumphantasie bekommt, war unvermeidlich – das schließt aber auch den Kreis der sich hoffnungslos im Kreis drehenden Outlaws und Weltumdenker, die sich in unterschiedlicher Richtung irgendwann treffen müssen, um gemeinsam auszubrechen.

The Peanut Butter Falcon