Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

7 Gefangene

MIT FAUSTRECHT ZUM TRAUMJOB

8/10


7Gefangene© 2021Aline Arruda/Netflix


LAND / JAHR: BRASILIEN 2021

REGIE: ALEXANDRE MORATTO

CAST: CHRISTIAN MALHEIROS, RODRIGO SANTORO, JOSIAS DUARTE, VITOR JULIAN, LUCAS ORANMIAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Wie seht ihr das? Arbeiten, um zu leben? Oder leben, um zu arbeiten? Ich wähle ersteres, obwohl der hier verwendete Begriff von Leben in unseren Breiten ganz anders aufzufassen ist als zum Beispiel in Afrika oder Südamerika. Dort ist egal, wie man es angeht, es kommt immer aufs dasselbe raus. Nehmen wir mal Brasilien unter Bolsonaro. Dort ist Arbeit eine Gewalt, die über Leben und Tod entscheidet. Vom Leben selbst, von einem guten Leben wie wir es kennen, ist keine Spur zu sehen. Einen solchen ernüchternden Blick auf die Sklaverei des 21. Jahrhunderts und ihre perfiden Mechanismen gewährt sozialpolitisch interessierten Zusehern die heuer wohl größte Überraschung auf Netflix: 7 Gefangene von Alexandre Moratto, der seine Premiere bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig feierte.

Der südamerikanische Film schafft es auf Netflix immer wieder, wahre Perlen zwischen dem üblichen Einheitsbrei zu verstecken. Man muss die Augen nur offenhalten, dann gibt’s Erlebnisse jenseits des Mainstreams wie Nobody Knows I’m Here oder Tragic Jungle, die auch jede Menge Lokal- und Zeitkolorit mitbringen. 7 Gefangene, ein schonungsloser Sozialthriller, sieht sich auf Augenhöhe mit den nicht weniger düsteren Dramen City of God oder Tropa de Elite, nur bewegt sich Morattos Film in einem Dunstkreis, der auch in Europa zu finden sein kann, dem menschenrechtlichen Radar aber weitgehend verborgen bleibt. In solche, von Leuteschindern ausstreckten Fänge gerät der kluge und motivierte Mateus, als er mit drei Freunden nach Sao Paolo reist, um dort auf einem Schrottplatz seine Arbeit zu beginnen. Dort lässt sich gutes Geld verdienen – meint er. Bis allen langsam sickert, dass Betriebschef Luca (intensiv und ambivalent dargeboten von Rodrigo Santoro) nichts anders im Sinn hat als seine Gefangenen zur Akkordarbeit zu zwingen, ohne auch nur ein Real dafür springen zu lassen. Aufbegehren bringt alles nichts, denn die, die das Sagen haben, sind obendrein bewaffnet. Was bleibt einem wie Mateus also anderes übrig, als eine ganz andere Taktik anzuwenden, um in einer brutalen Welt wie dieser dennoch erfolgreich zu sein.

Ramin Bahrani, der mit dem ebenfalls auf Netflix erschienenen Der weiße Tiger eine ähnliche, aber parabelhaftere Geschichte erzählt, hat – niemanden wundert’s – 7 Gefangene mitproduziert. Es ist ein Film, der von Anfang an harte gesellschaftliche oder moralische Kontraste vermeidet. In diesem Brasilien, zwischen glänzenden Hochhausfassaden, Korruption und Tequila, herrscht wirtschaftliche Anarchie. The Purge für den Arbeitsmarkt: Menschenhandel, Missbrauch, Gewalt und der Sieg des Gewiefteren, der sich auf den Schultern der anderen aus der Stagnation kämpft und das moralische Bewusstsein auf das Machbare reduziert. Dieses Streben gestaltet sich als Kampf in einer Arena jenseits von Kollektivvertrag und sozialem Arbeitsrecht. Hier sagt an, wer den Dreh raushat. Die eigene Moral funkt hier dazwischen und zeigt sich so lange entrüstet, bis die Sympathie für den Gewinner diesen zur Identifikationsfigur macht, auch wenn die Welt mit unseren Idealen nicht mehr zu retten ist. Alternativen gibt es aber dennoch – und die stellt Moratto, ohne sie zu beurteilen, auf packende und atemlose Weise zur Auswahl.

7 Gefangene

Der junge Karl Marx

EIN GESPENST GEHT UM …

6/10

 

Autosave-File vom d-lab2/3 der AgfaPhoto GmbH© 2016 Filmladen / Foto: Kris Dewitte

 

LAND: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, BELGIEN 2016

REGIE: RAOUL PECK

MIT AUGUST DIEHL, STEFAN KONARSKE, VICKY KRIEPS U. A.

 

in Europa. Das Gespenst des Kommunismus!  – Das sind die ersten Worte des kommunistischen Manifests, erwogen, überlegt und ausgearbeitet von Karl Marx und Friedrich Engels. Mitte des 19 Jahrhunderts ertönte der Gongschlag zur Geburtsstunde einer politischen Vision, welche die Geschichte ganzer Länder dominiert, diese verändert und bewährte wie längst obsolete Strukturen schließlich zerstört hat. Über das Konzept des Kommunismus möchte ich hier allerdings nicht allzu viele Worte verlieren – das können andere besser, vor allem jene, die sich zeitintensiv mit Politikwissenschaften auseinandergesetzt haben. Literatur hierzu gibt es auch jenseits der Werke von Marx und Engels mehr als genug. Der haitianische Regisseur Raoul Peck will in seinem episodenhaften Polit-Melodram gar nicht erst den Kommunismus selbst erklären oder die Regeln der politischen Bewegung auseinanderdividieren. Sein Film ist ein ruhender, gänzlich unparteiischer Blick zurück auf die Anfänge einer Revolution der sozialen Gerechtigkeit und konzentriert sich eigentlich sogar mehr noch auf den gesellschaftlichen Nährboden eines alten, rezessiven, unbeweglichen Europa des Industriezeitalters. Industrie – das war und ist Profit. Das war und ist die Macht und die Habgier weniger über die Masse. Das war und ist – global gesehen – hauptsächlich noch moderne Sklaverei, um dessen Verbot man mit Groschenlöhnen herumkommt. Die Abhängigkeit der arbeitenden Klasse von denen, die das Geld haben. Und wer Geld hat, schafft an. Da der Mensch in seiner Natur zum Machtmensch neigt, diese Macht ungern teilt und den Schwächeren gemäß der Darwin’schen Regel Survival of the Fittest allerdings gerne ausbeutet und unterdrückt, solange es für sein existenzielles Seelenheil zuträglich ist, kann dieser gesellschaftliche Erdrutsch nicht ohne Getöse alles Umfeld ins Verderben stürzen. Das Getöse, das sind die, die überleben wollen. Und zwar nicht einzeln, sondern zu mehrt. Fast das ganze Volk. Denn wenn keiner mehr arbeitet, werden auch die Reichen arm. Menschenrechte im neunzehnten Jahrhundert, vor allem Arbeitsrechte, waren praktisch nicht vorhanden. Der Arbeit entsprechende Bezahlung unter Berücksichtigung des Härtegrades der Währung kein Thema. Um es allerdings zum Thema zu machen – dazu bedarf es einiger weniger Intellektueller und Philosophen, die den Missstand erkannt haben – wie zum Beispiel eben der Deutsche Karl Marx.  

Wir kennen sein Konterfei – der wild wuchernde Bart, die zerzauste weiße Frisur. Der Weihnachtsmann für Gewerkschafter und Arbeiterbünde. Der Gott des Kommunismus – oder eher das Gespenst dessen. Jedes Mal, wenn ich im 19. Wiener Gemeindebezirk am Karl Marx-Hof vorbeigehe, einer trutzigen Wohnburg erstaunlichen Ausmaßes, ein Palast des Sozialbaus schlechthin, fällt mir das provokant und funkelnd blickende Gesicht von Karl Marx ein. Dass der auch einmal jung war, das zeigt uns August Diehl. Auch mit wirrem Haar, auch mit Bart, aber weniger opernhaft. Diehl, ohnehin ein eher exzentrischer Schauspieler, der seinen Figuren stets etwas Manisches verleiht, lässt seine Interpretation des großen Denkers sehr abgehoben wirken. Ungreifbar, andauernd in Bewegung, ruhelos und obsessiv. Fast schon aufmüpfig. Womöglich dürfte Karl Marx so gewesen sein, genau weiß man das nicht. Um sich selbst so dermaßen in den Geschichtsbüchern zu verankern – dafür muss man schon für eine Sache mehr schlecht als recht sterben können. Aus Deutschland vertrieben, war fortan Paris und dann später Belgien das Zentrum seiner revolutionären Gedanken. Friedrich Engels, deutscher Industriellensohn, nicht weniger auflehnend und radikal, wurde fortan zu seinem Partner. Der Deutsche Stefan Konarske legt Engels ähnlich aufreibend an wie Diehl seinen Marx. Zwei Figuren, die durch die Jahrzehnte der neueren Geschichte irren, flirren und anecken, Er- und Bekenntnisse verfassen und das Volk für sich gewinnen. Die Reichen werden nicht erfreut sein, wie es auch heute noch in den Medien so schön heißt. 

Der junge Karl Marx ist ein Film wie aus dem Lehrbuch. Geschichtlich wie faktisch interessant, in notwendiger Authentizität ausgestattet und chronologisch erzählt. Angereichert mit einer Menge Namen und Persönlichkeiten, die man der Vollständigkeit halber kennen müsste, relativ schnell aber wieder vergisst, hat man nicht vor, sich länger damit zu beschäftigen. Die Anforderungen für einen pädagogisch wertvollen Unterrichtsfilm wären mit Sicherheit alle erfüllt. Und es ist Geschichte, die so als Spielfilm bereits so aufbereitet wurde, dass sie nebst Aufklärung sogar auch unterhält. Keine altbackene Doku aus inventurbefreiten Schularchiven. Da kann sich der Oberstufen-Nachwuchs glücklich schätzen. Und nicht nur der – nach Raoul Peck´s Film habe ich jetzt beim Vorbeischlendern am Karl Marx-Hof nicht nur mehr den wild wuchernden Weißbärtigen im Sinn, sondern auch den Lockenkopf von August Diehl – und seinen langen Weg zur Grundsteinlegung der kommunistischen Partei. Wieder etwas spielend dazugelernt – und das Kino erfüllt seinen Bildungsauftrag. Den es fraglos hat und auch haben soll.

Der junge Karl Marx