Argentina, 1985 (2022)

NÜRNBERG WAR AUCH ANDERSWO

7/10


argentina1985© 2022 Amazon Studios


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA 2022

REGIE: SANTIAGO MITRE

BUCH: MARIANO LLINÁS, SANTIAGO MITRE

CAST: RICARDO DARÍN, PETER LANZANI, GINA MASTRONICOLA, FRANCISCO BERTÍN, SANTIAGO AMAS ESTEVARENA, ALEJANDRA FLECHNER, NORMAN BRISKI, GABRIEL FERNANDEZ CAPELLO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Versteckt im Angebotssortiment der Flatrate von Amazon Prime findet sich ein Film, der gute Chancen hat, bei den diesjährigen Oscars den Goldjungen für den besten internationalen Film mit nach Argentinien zu nehmen: Die Rede ist von Argentina, 1985, einem akkurat inszenierten Politdrama, das so ungefähr in jene Richtung geht, die seinerzeit Stanley Kramer mit Das Urteil von Nürnberg eingeschlagen hatte. Der für elf Oscar nominierte Streifen konnte einen für Maximilian Schell gewinnen, den anderen für das beste adaptierte Drehbuch. Letzteres ist wahrlich kein Wunder: Nazis bei ihrem verzweifelten Versuch zuzusehen, wie sie ihr bizarres Weltbild erörtern, hat schon etwas Verstörendes, abgesehen von den vielen niederschmetternden und an die Nieren gehenden Aussagen scheinbar unendlich vieler Zeugen, die allesamt das System hinter den Gräueln bestätigen konnten.

Was in Europa in den 30er und 40er-Jahren passiert war, gab es in abgewandelter, aber nicht minder heftiger Form auch in Argentinien – da riss in den 70erjahren das Militär die Macht an sich und errichtete eine Schreckensherrschaft aus Überwachung, Entführung, Verhör, Folter und Mord. 1983 war dann Schluss damit. Wie es zu diesem Befreiungsschlag kam, darauf geht Argentina, 1985 eigentlich nicht ein. Man muss jedoch, als nicht ganz so mit profundem Südamerika-Wissen ausgestatteter Zuseher, diesen Umstand nicht unbedingt kennen. Um hier noch tiefer in die Materie einzusteigen – dafür gibt es zahlreiche Dokumentationen, die man gerne begleitend sichten kann. Man muss es aber nicht. Argentina, 1985 funktioniert losgelöst von der restlichen Geschichte eines Landes, da der Film in seinem Bestreben, abzubilden, wie man Verbrechen an der Menschlichkeit ahnden kann, durchaus als universell gilt. Verbrechen wie diese gab und gibt es überall auf der Welt. Wer als Volk durch so eine Hölle ging, kann sich im Nachhinein nur noch darum bemühen, es nie wieder so weit kommen zu lassen.

Um ordentlich Gerechtigkeit walten zu lassen, wurde ein Jahr vor dem großen Prozess der Bundesanwalt Julio Strassera engagiert. Was zur damaligen Zeit besonders überrascht: der faschistische Sumpf ist da noch längst nicht trockengelegt, Anhänger hat das abgesägte Militär immer noch genug. Dieses Paradoxon lässt sich auch schwer nachvollziehen, doch wie auch immer: aufgrund dieses Engpasses an Integrität muss Strassera sein Team aus völlig unerfahrenen, aber hochmotivierten Justiz-Anfängern zusammenstellen, was ihm letzten Endes aber zum Vorteil gereichen sollte. Dieser erfrischenden, unverbrauchten Energie ist es zu verdanken, dass die Beweise in Rekordzeit zusammengetragen wurden, um die ersten neun Generäle, die für die dunklen Jahre Argentiniens verantwortlich waren, anzuklagen.

Zu Wort kommen diese vorwiegend ergrauten weißen Männer allerdings nicht. Wäre interessant gewesen, wie diese ihre Ideologie gerechtfertigt hätten, gleich den Psychopathen im Europa der Nachkriegszeit. Es wäre vermutlich auch erfüllend gewesen, ihre Argumentation im Keim ersticken oder bis auf den letzten Krümel versuchter Schadloshaltung verblasen zu lassen. Dieser Konfrontation geht Santiago Mitre aus dem Weg. Nichtsdestotrotz sorgt dieser mit seinem Aufarbeitungswerk und der originalgetreuen, fast schon gestengleichen Nachstellung der eindringlichsten Prozessmomente für eindringliche Geschichtsstunden nicht nur für jene, die wirklich viel Ahnung davon haben, was auf anderen Kontinenten in den vergangenen Jahrzehnten im Argen lag. Mitre komprimiert das Trauma und seine Verarbeitung auf leichte Überlänge und setzt seinen Fokus stets auf den Helden der Nation, nämlich Strassera, der wiederum von Argentiniens wohl bekanntesten Schauspieler dargestellt wird: Ricardo Darín. Hinter Achtzigerjahre-Frisur und Schnauzer ist er kaum wiederzuerkennen, und in seiner resoluten, furchtlosen und unkorrumpierbaren Art und Weise hält er wie ein Fels in der Brandung, bei Wind und Wetter, seine Prinzipien hoch. Angstmache und Einschüchterungen zeigt er die kalte Schulter. Strassera dürfte ein militanter Humanist gewesen sein. Argentina, 1985 ist daher auch weniger die Aufarbeitung des Schreckens, sondern viel mehr das Denkmal eines Mannes, der wie Captain America ein ganzes Team taufrischer Avengers angeführt hat, um die Heilung eines Staates voranzutreiben. Geschichte, die sich zum Guten wendet, wird eben von Leuten geschrieben, die nicht um ihrer selbst willen ins Rampenlicht treten, sondern für andere.

Argentina, 1985 ist penibel recherchiertes, dialoglastiges Kino, das zwar manchmal des Publikums erhöhte Aufmerksamkeit braucht, dann aber wieder Emotionen der Entrüstung und der Bestürzung lukriert. Dem Bösen ins Wort fällt der Film aber nicht. Was bleibt, ist ein klassischer Fall von lupenreinem Justizdrama, das nichts neu erfinden muss und es auch nicht tut – ausser die Zukunft eines friedlichen Zusammenlebens eines ganzen Volkes.

Argentina, 1985 (2022)

Offenes Geheimnis

NICHT OHNE MEINE TOCHTER

4,5/10

 

offenesgeheimnis© 2018 Thimfilm

 

ORIGINALTITEL: TODOS LO SABEN (EVERYBODY KNOWS)

LAND: SPANIEN, FRANKREICH, ITALIEN 2018

REGIE: ASGHAR FARHADI

CAST: PENELOPE CRUZ, JAVIER BARDEM, RICARDO DARÍN, BÁRBARA LENNIE U. A.

 

In Fluch der Karibik haben sie es ganz knapp nicht geschafft, gemeinsam über die reling zu hechten. Penelope Cruz war in Fremde Gezeiten an der Seite von Jack Sparrow ein rassiger Sidekick, Javier Bardem eine Episode drauf die hinkende Wasserleiche Salazar. In Asghar Farhadis Kriminaldrama haben sie es dann doch geschafft. Oder wieder einmal. Denn kennen und lieben gelernt hatten sie sich eigentlich schon in Woody Allens Vicky Christina Barcelona. Und die beiden Filme sind nicht die einzigen, in denen sie Seite an Seite aus vollen Emotionen schöpfen konnten. Irgend so einen Film über Pablo Escobar gibt es da auch noch, der ist aber seltsam untergegangen. Asghar Farhadi aber übersehen Filmkenner natürlich nicht. Mit The Salesman hat sich der Iraner sogar den Goldjungen aus Los Angeles geholt. Sein Nachfolger zwei Jahre danach ist allerdings nicht ganz so vielschichtig geworden wie der frei nach Motiven von Arthur Millers Stück erzählte Diskurs über Genugtuung und Gerechtigkeit. In Offenes Geheimnis – oder viel griffiger im Original: Todos Lo Saben (was soviel heisst wie: Jeder weiß es) – nimmt das Schicksal mit einer üppigen Hochzeitsfeierlichkeit seinen Lauf. Die ganze unübersichtliche Familie kommt zusammen, irgendwo in Spanien in einer übersichtlichen Kleinstadt, schön rustikal und wo die Nachbarn auch nicht gleich die Polizei rufen, wenn bis spät in die Nacht feuchtfröhlich die Sau rausgelassen wird.
So ganze Familien haben da auch den oder die eine im Schlepptau, der den oder die andere schon lange nicht mehr gesehen hat. Und das vielleicht aus gutem Grund. Denn war man jung und neugierig, gab’s da schon pikante Liaisonen, die dann versandet sind – und vielleicht wieder nachhaltig an die Oberfläche schwappen, wenn genug getrunken wurde. Oder anderes im Argen liegt.

Bevor es aber so weit kommt, verschwindet die halbwüchsige Tochter von Filmmutter Penelope Cruz aus ihrem Zimmer, wohin sie sich mangels Wohlbefinden zurückgezogen hat. Klar, man kann ja nochmal eine Runde drehen und frische Luft schnappen, aber der Teenie ist wie vom Erdboden verschluckt. Weiterfeiern ist nicht, und plötzlich liegt das Wort Entführung in der Luft. Oder ist sie einfach nur abgehauen? Nichts Genaues weiß man nicht, nur, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Was folgt, ist ein Drama voll des Wartens, Harrens und Bangens. Natürlich auch des Suchens, doch das eher vergeblich. Die Familie hält natürlich zusammen, und auch all die alten Bekannten aus der guten alten Zeit zeigen sich motiviert. Das bringt Bardem und Cruz wieder auf Augenhöhe, und im Laufe der Ver- und Entwicklungen dieser undurchsichtigen Tragödie treten Geheimnisse zutage, die sowieso schon jeder geahnt hat. Das ist also das Offensichtliche, und für manche, oder gerade für jene, die es am meisten trifft, dann doch wieder eine erschütternd neue Erkenntnis.

Dabei ist die wirklich spannende Geschichte daran jene, die anfangs mit dem Fokus auf das nonkonforme Denken besagten verschwundenen Mädchens bereits schon drauf und dran war, eine Richtung einzuschlagen, die wohl mehr Gewicht gehabt hätte als das, was letzten Endes dabei herausgekommen ist. Asghar Farhadi ist wohl einer, der eher wenig mit taktisch wohlplatzierten Twists, die den Zuseher trotz einer recht tristen Geschichte bei Laune hält, anfangen kann. In Offenes Geheimnis bleibt die Hoffnung auf die Untergrabung der Erwartungen unerfüllt. Es kommt, was kommen muss, es bleibt alles auf mehr oder weniger geraden Bahnen, mit wenigen Kreuzungspunkten, die aber eigentlich auf der Hand gelegen wären. Nur – Farhadi ergreift sie nicht. Macht daraus keinen Konflikt der Generationen oder auch kein Geheimnis, dessen Lüftung erst so richtig die Katze aus dem Sack lassen würde. Nein, alles ist erahn- und erwartbar. Gedankenspiele vorab vergebene Liebesmüh. Immerhin ist Penelope Cruz verzweifelt genug, und Javier Bardem entsprechend erstaunt darüber, was ohnehin schon alle wissen. Ja, manchmal gneisst man es nicht gleich. Und ich weiß nicht, warum Farhadi es auch nicht gleich begriffen hat, dass sein Drehbuch, hätte es eine andere Wendung genommen, viel mehr Möglichkeiten gehabt hätte, so richtig genüsslich gesellschaftliche Dogmen vor sich herzutreiben anstatt diese nur mit sorgenvollen Blicken zu begleiten. Der ganze Film ist also auch für den Zuseher ein offenes Geheimnis, und ich weiß nicht welchen Reiz das ganze Dilemma dann noch hat, wenn der Unterschied zur finalen Episode einer breitgetretenen Soap nur mehr der ist, mit der spanischen Ausgabe von Brangelina auf Sieg zu setzen. Ein durchaus schwülstiges, eher uninspiriertes Drama also, das an die große Glocke hängt, was eigentlich niemand erwarten will, und im Endeffekt auch nicht sonderlich tangiert, sobald man es endlich weiß.

Offenes Geheimnis