Piggy (2022)

DER FEIND MEINER FEINDINNEN

6,5/10


piggy© 2022 Alamode Filmdistribution Österreich


LAND / JAHR: SPANIEN, FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: CARLOTA PEREDA

CAST: LAURA GALÁN, RICHARD HOLMES, CARMEN MACHI, CLAUDIA SALAS, IRENE FERREIRO, CAMILLE AGUILAR, PILAR CASTRO, JOSÉ PASTOR U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Gibt es das tatsächlich noch, dass Menschen aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit gehänselt, verspottet und gemobbt werden? Womöglich würden mir jetzt einige die Gegenfrage stellen, in welcher Welt ich denn lebe. Irgendwie aber denke ich mir, dass Dinge wie Übergewicht längst nicht mehr Grund dafür sind, Menschen auszugrenzen. Das mag naiv sein, ich geb’s zu. Umso erschreckender ist es, dass junge Frauen wie Saras Altersgenossinnen, die in einer spanischen Kleinstadt ihren Sommer herunterbiegen, ungebildet und gehässig genug sind, um den Sprung in eine moderne Welt der Toleranz nicht geschafft und diese auch nicht im Rahmen ihrer Erziehung mit auf den Weg bekommen zu haben. In manchen Teilen der Welt hängt man halt noch immer einige Jahrzehnte hinterher, so traurig es sein mag. In diese kummervolle Wolke, entstanden aus Ablehnung von außerhalb, hängt die Tochter eines Fleischers ihren Gedanken nach, hört Musik und träumt davon, dazuzugehören. In diesem Sommer aber, wo sie ihrem Vater stets zur Hand gehen muss und von ihrer Mutter permanent bevormundet wird, wird alles anders werden. In diesem Sommer wird Piggy, wie sie von den anderen beschimpft wird, über sich selbst hinauswachsen und allen zeigen, wo der Fleischhaken hängt.

Denn ein Psychopath treibt sein Unwesen, der scheinbar wahl- und ziellos mordet und eines heißen Badetages ganz zufällig auf Sara trifft, die gerade eine Kaskade an Beleidigungen und üble Quälereien über sich ergehen lassen muss. Anscheinend hat der tumbe Killer ein Herz für Außenseiter – und überhaupt für Sara, die es ihm angetan hat. Also tut er das, was das gehänselte Mädchen nicht zustande bringen kann: Er knöpft sich all die Mobberinnen vor, entführt sie und verfrachtet sie in seinen Lieferwagen. Als Sara des Verbrechens gewahr wird, entschließt sie sich, einerseits aus Angst und andererseits aus Genugtuung für erlittene Schmach, nichts zu tun. Eine stille Vereinbarung zwischen Killer und Gemobbter scheint besiegelt, denn der Feind meiner Feindinnen könnte ein Freund sein. Noch dazu ein Mann, der Sara erstmals das Gefühl gibt, als junge Frau wahrgenommen zu werden.

Die dramatische Konstellation des im letzten Jahr auf dem Wiener Slash Filmfestival präsentierten, spanischen Thrillers birgt schon eine groteske, knackige Prämisse. Während sich bei Steven Kings Carrie dank telekinetischer Fähigkeiten nämlicher Teenie aus eigener Kraft heraus zu wehren weiß, greift Sara auf ein menschliches Monster zurück, dass ihr Zärtlichkeit entgegenbringt und als Beschützer fungiert. Ob edler Ritter oder nicht – das Ideal vom Beistand einer Frau gegenüber stellt sich in Carlota Peredas Autorenfilm einem kritischen Diskurs über Rollenbilder und Verantwortung, über Gut und Böse und dem Recht auf Rache. Dabei fädelt sie ein Coming of Age-Drama unter das Thriller-Genre, dem Hauptdarstellerin Laura Galán ein ausdrucksstarkes Gesicht verleiht.

Während sich das moralische Dilemma einer sich längst als Frau verstanden werden wollenden Persönlichkeit ausweitet und einige interessante Impulse setzt, greift das übrige Szenario auf gängige Slasher-Versatzstücke zurück, die manchmal an M. Night Shyamalans Split erinnern oder in der klischeehaften Darstellung sämtlicher Provinzbürger münden. Diese Elemente holen einen dann doch nicht so ab wie die Killer-Mädchen-Konstellation, wobei am Ende aber die Erwartungen im blutigen Finale fast schon wieder unterlaufen werden. Wie sich Laura Galán als brachiale Naturgewalt durch die Grauzonen physischer wie psychischer Gewalt kämpft, um eine Richtung für sich selbst zu finden, lässt sich als spektakulärer Showdown bezeichnen. Piggy ist ein zwar simpel gestrickter und manchmal etwas unbeholfen inszenierter, aber letzten Endes durchdachter schräger Thriller, den wohl, würde Harris Glenn Milstead als Divine noch leben, John Waters (u. a. Female Trouble) zu seinen Bestzeiten des Undergroundkinos auch gerne inszeniert hätte. Nur fraglich, ob die zarte Selbstfindung Saras zugunsten schockierender Trash-Momente nicht auf der Strecke geblieben wäre.

Piggy (2022)

End of the Road

THE QUEEN IS NOT AMUSED

3,5/10


endoftheroad© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MILLICENT SHELTON

BUCH: CHRISTOPHER J. MOORE, DAVID LOUGHERY

CAST: QUEEN LATIFAH, BEAU BRIDGES, LUDACRIS, MYCHALA LEE, SHAUN DIXON, JESSE LUKEN, FRANCES LEE MCCAIN, TABATHA SHAUN U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Wenn man in den USA Überland unterwegs ist und dabei in einem Motel übernachten muss, gilt als erste Regel: Mische dich niemals – ich wiederhole: niemals – in Angelegenheiten der Zimmernachbarn ein. Auch wenn sich diese lautstark zu irgendwelchen Handgemengen hinreissen lassen, die noch dazu das Ableben eines der Streitenden nach sich ziehen. Die zweite Regel besagt: Auch wenn es den Anschein hat, dass die Querelen nebenan nun vorbei sind und dort niemand mehr aufzufinden ist: Gehe niemals dort hinein und schnüffle am Tatort rum. Und die dritte Regel – obwohl man davon ausgehen sollte, dass niemand so bescheuert sein sollte, diese wirklich und wahrhaftig zu brechen: Nimm, nachdem du Regel zwei schon gebrochen hast und sowieso alles egal ist, zumindest nichts mit, was nicht dir gehört. Auch – oder gerade, wenn es Millionen an Dollars sind, die in einer Tasche unterm Waschbecken ihrer Abholung harren. Diese Millionen lässt niemand so einfach stehen. Schon gar nicht jemand, der den Vorbesitzer dieses Trageutensils in die ewigen Jagdgründe geschickt hat.

Nun, so viel bei Verstand sollte zumindest jeder sein, der bis zehn zählen kann. Ist er aber nicht. Da gibt es den naiven Reggie (Rapper Chris „Ludacris“ Bridges), ein Ex-Knastbruder, der gemeinsam mit seiner älteren Schwester Brenda (Queen Latifah), seiner Nichte und seinem Neffen unterwegs ist zu deren Mutter, um neu anzufangen. Die Fahrt ist lang, und ohne Sleepover wird’s nicht gehen. Und siehe da: Die Nacht bringt eingangs erwähnte Unruhen mit sich. Und siehe da: der naive Reggie bricht Regel Nummer drei und schnappt sich, ohne dass die anderen es wissen, die Tasche voller Geld. Was folgt, sind Komplikationen, die entstehen, wenn man sich unter den Nagel reisst, was einem nicht gehört. Bares in Taschen ist meist unrechtmäßiges Eigentum von Verbrechern, die auch nicht zögern, Gewalt anzuwenden. In End of the Road kommt es, wie es kommen muss. Zum Glück aber haben sie einen kauzigen Sheriff in Gestalt von Beau Bridges an ihrer Seite, den genauso gut Clint Eastwood oder gar Liam Neeson hätten spielen können. Behäbig, jovial, und im Bilde, wenn es um gesetzliche Schieflagen geht.

Um diese flüchtenden und jagenden Figuren weht der Staub eines unerbittlichen New Mexiko. Die Einschicht und Isolation dieses Landstriches, der Hang zur Anarchie, die Gesetzlosigkeit, wie sie schon Steven Spielberg in seinem Duell bestens beschrieb, und die schon der Roadmovie-Thriller Joyride knackig formuliert hat, trägt auch in End of the Road von Millicent Shelton dazu bei, die Anzahl an Möglichkeiten, um aus dieser Sache schadlos herauszukommen, drastisch zu reduzieren. Wäre Queen Latifah nicht, die als Big Mama ordentlich auf den Putz haut und auch gleich einem ganzen Dutzend stiernackiger Nazis zeigt, wo die mütterlichen Instinkte herkommen, wäre der auf Netflix erschienene Durchreise-Thriller ein dramaturgischer Kolbenreiber mitten auf dem Highway.

Doch es kommt kein Hitcher, es kommt kein Truck, es kommt, wie man befürchtet hat, dass es nicht kommen soll. End of the Road bedient sich stereotypischen Story-Twists, die so abgenützt sind, dass sie jeglichen Suspense vermissen lassen. Die so konstruiert sind, dass sich selbst Millicent Shelton (die leider nicht das Script selbst schrieb) am Ende gar nicht mehr bemüht, ihren Film sorgfältig auszuerzählen. Und Queen Latifah? Nun, sie tut, was eine verzweifelte Mutter eben tut, um es allen recht zu machen. Selbst ihrem trotteligen jüngeren Bruder, den man eigentlich durch Sonne und Mond schießen sollte.

End of the Road

Lou

ALWAYS TAKE THE WEATHER WITH YOU

5/10


Lou© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANNA FOERSTER

BUCH: MAGGIE COHN, JACK STANLEY

CAST: ALLISON JANNEY, JURNEE SMOLLETT, LOGAN MARSHALL-GREEN, RIDLEY ASHA BATEMAN, MATT CRAVEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. Wenn’s mal regnet, dann hat das durchaus auch was für sich. Ganz besonders, wenn man durch den Wald wandert, selbst gar nicht mal so nass wird aufgrund eines dichten Blätterdachs und sich vom Geräusch der aufklatschenden Regentropfen auf allerlei Blattwerk einlullen lassen kann. Doof nur, wenn man für all das keine Zeit hat und einen Kidnapper erwischen muss, der gerade zum ungastlichsten Sauwetter, das man sich nur vorstellen kann, die Nachbarstochter entführt. Gut, dass man selbst das Richtige gelernt hat – nämlich allerlei Methoden, wie unliebsame Gesellen aus dem Weg geräumt werden können. Dieser jemand mit solchen Skills ist Allison Janney. Sie gibt Lou, eine eigenbrötlerische und recht unfreundliche Person, die sich scheinbar nur um ihren eigenen Kram kümmert und für sonst niemanden irgendein höfliches Wort auf den Lippen trägt. Wenn Mutter und Tochter, die bei ihr auf ihrem Grundstück zur Untermiete leben, dann nicht rechtzeitig das Geld rüberwachsen lassen, kann’s schon mal ruppig werden. Bei Kidnapping hört sich der Spaß jedoch auf, und in eben jener verregneten Nacht klopft es an Lous Tür – gerade dann, wenn diese ihrem Leben ein Ende setzen will. Die Dame mag zwar unfreundlich sein, aber nicht herzlos und macht sich mit der verzweifelten Mutter auf die Suche nach deren Ex, der, angeblich verblichen, von den Toten wieder auferstanden zu sein scheint und sein väterliches Recht fordert.

In dieser nasskalten Botanik auf Orcas Island im äußersten Nordwesten der USA ernennt Anna Foerster (Westworld, Underworld: Blood Wars) Allison Janney zum weiblichen Liam Neeson. Als jemand, der nichts mehr von der Welt wissen will, ein Leben gelebt hat und auch alles bereut, was so passiert ist, scheint die Figur der Lou perfekt in dieses Bild der einsamen Frau fürs Grobe zu passen, die durchtrainierten männlichen Bösewichten nicht nur das Wasser, sondern auch die zur Waffe umfunktionierte Konservendose reichen kann. Da staunt man nicht schlecht über die gute Knochendichte von Janneys Antiheldin, die sich auch nach mehrmaligem Herumschleudern aus den Trümmern stemmt und immer noch Kraft genug hat, um sich aus kniffligen Situation rauszumorden. Jurnee Smollet kann da nur groß staunen und bibbern vor lauter herbstlicher Kälte. Irgendwann hört aber auch der Regen auf, und auf Regen folgt zwar kein Sonnenschein, aber eine etwas gemäßigtere Witterung. Und mit der gemäßigten Witterung geht auch dem Survivalabenteuer die Luft aus. Die Challenge durchs regennasse Unterholz, die das schlechte Wetter als erschwerende Komponente freudig mit einbezogen hat, kann den Ausnahmezustand später nicht mehr aufrechterhalten. Was bleibt, ist ein Thriller von der Stange, der gerade durch seine bemühten Story Twists auf matschigem Untergrund die Balance verliert. Zumindest wollten die beiden Skriptautorinnen und -autoren einer gewissen Routine entkommen; einem gewissen Schlendrian, der in gefühlt jedem zweiten Actionthriller mittlerweile für Langeweile sorgt. Gut, kann man so sehen. Wirkt zwar etwas konstruiert, aber zumindest spielt die Komponente eines Familiendramas erst gegen Ende ihre verdeckten Karten aus. Erwartet hätte man solche Offenbarungen letztlich nicht. Und sie wären auch nicht notwendig gewesen, hätte die gnadenlose Natur wohl etwas ausdauernder mit der Peitsche geknallt. Im Regen ist alles den gleichen Erschwernissen unterworfen – da hätte man viel mehr daraus machen können, anstatt einen Kreis zu schließen, der gar nicht hätte geschlossen werden müssen.

Lou

Die geheime Tochter

DAS KIND MIT DEM BAD AUSSCHÜTTEN

7/10


diegeheimetochter© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

REGIE: MANUEL MARTÍN CUENCA

BUCH: MANUEL MARTÍN CUENCA, ALEJANDRO HERNÁNDEZ

CAST: IRENE VIRGÜEZ, JAVIER GUTIÉRREZ, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, JUAN CARLOS VILLANUEVA, MARIA MORALES, SOFIAN EL BENAISSATI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eltern haften für ihre Kinder. Und nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Minderjährige, die diesen Erwachsenen ihr Vertrauen schenken. Das zumindest tut die 15jährige Irene (Irene Virgüez), eine jugendliche Straftäterin, die von ihrem Freund, ebenfalls straffällig, geschwängert wird. Irene hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Und schon gar keine Lust, das Kind auch auszutragen. Womit denn? Und mit welchem Geld? Da hat Javier, einer der Jugendpsychologen aus der Anstalt, eine Idee: Was, wenn eine Hand die andere wäscht? Wenn Irene ihr Kind heimlich bei ihm daheim austrägt und dessen Frau dann so tut, als wäre es ihre eigene Geburt gewesen? Irene ist die Muttersorge los, und jene, die sowieso keinen Nachwuchs zeugen können, haben dann etwas, worauf sie sich freuen können. Das Mädel hat nichts zu verlieren, also willigt sie ein, nachdem sie Javier über alle Regeln, die während dieser Zeit der Schwangerschaft tunlichst befolgt werden müssen, aufklärt. Keine Besuche, keine Ausflüge ins Tal, keine Anrufe. Irene soll als flüchtig gelten und dann, nach neun Monaten, zufällig wieder gefunden werden.

Wir sehr kann man als psychologisch versierter Experte in Sachen Teenager auch nur annehmen, dass das, was eine Problemjugendliche wie Irene vertrauensvoll zusichert, auch neun Monate später noch Bestand hat? Natürlich gar nicht. Mädchen in diesem Alter können wankelmütig und launenhaft sein, lassen sich leicht beeinflussen oder ändern ihre Meinung so oft wie ihren Look. Wieso sollte das beim Kinderkriegen anders sein? Ist es schließlich nicht. Und das stößt Javiers Frau sauer auf, nachdem die Eltern nach mehreren Monaten Isolation einwilligen, dass Irene ihren Freund wiedersehen darf. Ein grundlegender, irreversibler Fehler, der das ganze freudig-hoffnungsvolle Konstrukt werdender Eltern und unbekümmerter Jugend in sich zusammenbrechen lässt.

Autorenfilmer Manuel Martín Cuenca spielt mit der Unreife junger Menschen und der Ratlosigkeit ob deren Zukunft. Volatile Entscheidungen kriechen wie Nebel auf eine spanischen Hochebene und errichten das Dilemma einer ausweglosen Lage, die nur unter Einsatz von Gewalt wieder hingebogen werden kann. Bis es soweit kommt, lässt sich Die geheime Tochter gerade so viel Zeit wie nötig, um die Charaktere in ihrer Risikofreude und Labilität ins Spiel zu bringen. Was eignet sich da besser als eine isolierte Ranch irgendwo in den Bergen – ein paar Meter weiter geht’s steil bergab ins Verderben. Ein Setting, geradezu perfekt für einen Thriller, der sich anfühlt wie aus der Feder Patricia Highsmiths. Die Zutaten: Psychologische Einengung, diktierte Isolation und der manipulative Sprech eigennütziger Erwachsener, die aus ihrer Arroganz weniger Erfahrenen gegenüber keine Kompromisse eingehen wollen. Doch die Rechnung, die sie Irene vorsetzen wollen, haben sie ohne den Instinkt einer Mutter gemacht. Cuenca setzt dabei auf volle Breitseite im Austragen eines Konfliktes, der clever konstruiert und grimmig genug erscheint, um ihn auf eine Länge von neun Monaten dehnen zu können. Vorglühen und Nachbrennen ist alles in diesem Hickhack rund um Selbstbestimmung, dem Missbrauch erzieherischer Verantwortung und jugendlichen Idealen.

Dabei geraten so manche Details zum Selbstläufer oder fast schon zur kleinen Nebenstory: Seit Stephen Kings Cujo oder dem Bluthund-Reißer Bullet Head gab es keine so furchteinflößenden Vierbeiner mehr. Wie sich Irene Virgüez als zäher Teenie mit diesen knurrenden Monstern auseinandersetzt, scheint fast schon ein Film für sich zu sein, ist aber das Sahnehäubchen auf einem europäischen Genrebeitrag, der die gefährliche Dynamik zwischen der Gönnerhaftigkeit des Wohlstands und der notgedrungenen Abhängigkeit sozial Benachteiligter bis in jede dunkle Ecke des abgesteckten Schauplatzes ausnutzt.

Die geheime Tochter

I Came By

IM SCHATTEN DES ESTABLISHMENTS

6,5/10


ICameBy© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

BUCH / REGIE: BABAK ANVARI

CAST: HUGH BONNEVILLE, GEORGE MACKAY, PERCELLE ASCOTT, KELLY MACDONALD, ANTONIO AAKEEL, VARADA SETHU U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Anarcho-Sprayer sind die Erzeuger oft unliebsamer Hinterlassenschaften auf Wänden des öffentlichen Raumes, meist sind es Gang- und Clan-Symbole, manchmal einfach nur ein Pimmel oder unfertiges, wirres Zickzack an Linien, die, wäre man vermutlich nicht erwischt worden, ein Schriftbild abgegeben hätten, das durchaus einen Hingucker wert gewesen wäre. Dann gibt es die Graffiti-Künstler, die Street Art auf ein neues, bereicherndes Level heben – egal, ob in einer Nacht- und Nebelaktion fabriziert oder von liberalen Bezirksvorstehern in Auftrag gegeben. Berühmtester X-Faktor: Banksy. Doch wie wäre es, würden militante-Graffiti-Schreiberlinge einfach in Wohnungen des Establishments einsteigen, um ihre Botschaften zu hinterlassen, die mitunter wäre: Ich war hier, auf gut Englisch: I Came by. Gut, das ist weniger aussagekräftig als Die fetten Jahre sind vorbei, so gesehen in gleichnamigem Film mit Daniel Brühl. Im Suspense-Thriller des britisch-iranischen Autorenfilmers Babak Anvari (u. a. Under the Shadows od. Wounds mit Armie Hammer) schleicht sich der dreiundzwanzigjährige Toby (George MacKay, u. a. 1917) in die Anwesen reicher Bonzen, um diesen mit dem ewig gleichen Schriftzug ihre Verletzbarkeit unter die Nase zu reiben – ihren Tanz auf Messer Schneide, von der man leicht abrutschen kann und in die Arme eines weniger begünstigten Mobs zu gelangen, der die neue Revolution gegen die Kluft in der Gesellschaft anführt. So könnte man es also sehen, braucht dafür aber die Muße, das Ganze entsprechend zu interpretieren.

Wie auch immer – bei einem dieser Einbrüche gelangt Toby im Alleingang in das stattliche Herrenhaus eines pensionierten, allerdings immer noch recht einflussreichen Richters, der im Keller seines Hauses Dinge treibt, die rechtschaffene Menschen wohl schockieren würden. In Panik versetzt, versucht der junge Anarchist, seinen besten Freund dazu zu überreden, im dabei zu helfen, dem distinguierten älteren Herren das Handwerk zu legen. Doch daraus wird nichts: Jay, ehemals straffällig, will sich nicht wieder auf die schiefe Bahn bringen lassen, wird er doch bald Vater. Ein schwerer, aber nachvollziehbarer Fehler: Toby verschwindet spurlos, also muss seine verzweifelte Mutter ran, die über einen längeren Zeitraum versucht, das Geheimnis des verdächtigen Akademikers zu lüften.

Ein Mann, dessen verbrecherisches Tun man nicht beweisen kann, der aber garantiert Dreck am Stecken hat: Eine Art Suspense, die wir von Alfred Hitchcock kennen – bravourös umgesetzt in Das Fenster zum Hof. Bei I Came By wird die vage Vermutung schon bald durch die Gewissheit von Seiten des Zuschauers ersetzt – und dieser staunt nicht schlecht, wenn einer wie Hugh Bonneville, bekannt als Earl of Crawley aus der beliebten Fernsehserie Downton Abbey, trotz seines gefälligen Gehabes und jovialen Schmunzelns dieses auch tragen kann, um das Grauen im Verborgenen anzukündigen. Der elegante Brite gibt alles, um seinen House am Eaton Place-Charme abzulegen und kurvt in Gefilden herum, die ihm genauso gut zu Gesicht stehen. Mit diesem chamäloiden Farbwechsel, den auch Anthony Hopkins beherrscht, könnte Bonneville mit Leichtigkeit Rollen wie die des Hannibal Lecter besetzen. Der akkurate Finsterling, dem man auf den Leim geht, steht dem Briten also genauso gut wie der adelige Patriarch, der sich im goldgelben Licht vergangener Tage sonnt. Dank seiner Ambivalenz trägt der Schauspieler eine Bedrohung in den Film, die bis zuletzt nicht nachlässt. Im Gegenteil: Babak Anvari verzichtet darauf, einen Thriller zu erzählen, der bewährten Muster folgt. Viel mehr gelingt es ihm, die formelhafte Gunst für die Guten in die Kraft des Zufalls und der kompromisslosen Konsequenz zu sublimieren.

Durch weitgehenden Verzicht auf lang ausholende Erklärungen und der Chance, dem Zuseher vieles seinen Vermutungen zu überlassen, bleibt I Came By kaum abgelenkt auf der richtigen Spur, manchmal aber auf Kosten einer plausiblen Logik, die gerade in kleinen Szenen wie dem Knarren von Dielenböden oder lautstarkem Rumoren im Keller jene Konsequenz, die im Plot liegt, nicht übernehmen kann. Das ärgert zwar ein bisschen, andererseits aber ist die Absicht, als Thriller ganz woanders abzubiegen, lobenswert genug, um den Film dennoch zu empfehlen.

I Came By

The Black Phone

WENN DIE TOTEN ZWEIMAL KLINGEN

7/10


The Black Phone
© 2022 UNIVERSAL STUDIOS. All Rights Reserved.

LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: SCOTT DERRICKSON, NACH EINER KURZGESCHICHTE VON JOE HILL

CAST: ETHAN HAWKE, MASON THAMES, JEREMY DAVIES, JAMES RANSONE, MADELEINE MCGRAW U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Wenn Jugendliche im Schulterschluss gegen das Böse kämpfen, kommt einem derzeit natürlich sofort Stranger Things in den Sinn. Wenn nicht Stranger Things, dann zumindest Stephen Kings Es. Der Manifestation panischer Ängste in Gestalt eines zähnefletschenden Clowns konnte Bill Skarsgård unter der Regie von Andrés Musschietti neues Grauen einhauchen, allerdings trieb das Böse hier auf keinem Boden der Tatsachen sein Unwesen, sondern im Genre des phantastischen Horrors. Dort stehen seit jeher unbedarfte, von den Härten des realen Leben noch weitgehend verschonte Kids im Fokus der dunklen Mächte. Denn: Irgendwann zieht irgendwo immer etwas Paranormales ein Kind auf die andere Seite.

Scott Derrickson lässt das Phantastische außen vor. Er probiert es von der anderen Seite. Und krempelt die gesetzte Ordnung von Metaphysischem und Irdischem ordentlich um. Sein Psychothriller The Black Phone zeigt das Böse in Gestalt eines maskierten Mannes, der für jede Situation die richtige Visage hat. In diesem Thriller, der Ende der Siebziger in irgendeiner Kleinstadt spielt (wo sonst?), treibt dieser Grabber sein Unwesen. Ein finsterer Geselle mit schwarzem Lieferwagen, der Kinder, vornehmlich Buben, von der Straße wegzerrt und schwarze Luftballone am Tatort hinterlässt. Ein Psychopath mit System. So wie Kindermörder M aus Fritz Langs gleichnamigem Klassiker. Eines Tages trifft es den jungen Finney, der ohnehin eine schwere Kindheit mit sich herumschleppen muss. Die Mutter verstorben, der Vater Alkoholiker, in der Schule mobben die Halbstarken. Einzig Schwester Gwen, die in ihren Träumen in die Zukunft sieht, gibt ihm Halt. Als sich Finney jedoch im Keller des bösen Mannes auf sich allein gestellt sieht, läutet ein kaputtes, schwarzes Telefon. Am Apparat: Das Jenseits. Es gilt: Kein Anschiss unter dieser Nummer. 

Klingt extrem gruselig. Ist es aber nur manchmal. Denn, wie schon gesagt, dreht Derrickson den Spieß um. Aus einem paranormalen Horrorfilm im Gewand eines Krimis wird ein durchwegs düsterer, in schmutzig-rostigen Brauntönen gefilmter Entführungsfall, der in seiner desillusionierenden Machart an David Finchers Zodiac erinnert, allerdings durchsetzt mit paranormalen Elementen. Peter Jacksons Jenseits-Thriller In meinem Himmel mit Saoirse Ronan kommt ebenfalls hin, nur bleibt von bunten Seifenblasen und einer CGI-Wunderwelt nichts mehr übrig. Derrickson macht auf Aktenzeichen XY ungelöst, bleibt puristisch, ungeschönt und karg. Ethan Hawke, dessen Verhalten mit keinerlei psychologischen Erklärungen untermauert wird und der als finsteres wie plakatives Abziehbild eines vorsätzlichen, allerdings auch recht generischen Verbrechers seine wohl böseste Rolle verkörpert, kaspert bedrohlich durchs Halbdunkel. Ein gesichtsloses Schreckgespenst, vor welchem Kinder wie vorm schwarzen Mann händeringend vor die Knie gehen oder sich hinter dem Rockzipfel der Mutter verstecken, wäre sie hier.

Doch all diese Gestalten, bösen Männer und Psychopathen, die sollen zum Teufel gehen. Das ist dort, wo die Geister in diesem Film nicht sind. Wenn Finney seine Tipps von all jenen erhält, die der Grabber über die Klinge springen ließ, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man Finney und seine Schwester, die durch ihre Träume versucht, ihren Bruder zu finden, im Stillen anfeuert. Dabei zeigt Derrickson viel Mitgefühl für seine Protagonisten und entwirft mit ruhiger Hand ein Szenario des morbiden, leisen Schreckens hinter und vor verschlossenen Türen – aber auch einen so beharrlichen wie berührenden Siegeszug der Verlorenen, die nicht umsonst gestorben sein wollen.

Kinder sind zäh. Lassen sich kaum unterkriegen oder brechen. Sind resilienter als Erwachsene und greifen auf ein Spektrum helfender Imaginationen zurück, die entweder eine ganz neue, irreale Welt erzeugen – oder mit einer existierenden, verborgenen Dimension in Verbindung treten. Und: Sie haben einen langen Atem. Alles Dinge, womit das Böse nicht rechnen will. Und zwar aus reiner Überheblichkeit.

The Black Phone

Infidel

DIE STURHEIT DER ALLWISSENDEN

5/10


infidel© 2021 Kinostar


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE / PRODUKTION: CYRUS NOWRASTEH

CAST: JIM CAVIEZEL, CLAUDIA KARVAN, HAL OZSAN, STELIO SAVANTE, BIJAN DANESHMAND, ISABELLE ADRIANI U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Offen seine eigene Meinung zu sagen, das ist schon eine Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt. Offen den eigenen Glauben zu bekennen: warum nicht? Auch das ist gelebter Liberalismus, in manchen Ländern mehr, in manchen weniger, in wenigen gar nicht. In Ländern, in denen es weniger bis gar nicht geht, verleitet das natürlich zur Provokation, sofern man tough genug ist, die eigene Verschleppung, Kasernierung oder gar Hinrichtung in Kauf zu nehmen. Vielleicht ist das ja für einen guten Zweck, und Märtyrer sind ja schließlich seit Jesus von Nazareth Trendsetter, wenn es heißt, sich selbst bis über den Tod hinaus treu zu bleiben. Aus der Geschichte lässt sich lernen, das sowas funktioniert. Also probiert es Jim Caviezel, diesmal nicht in Sandalen, sondern im schicken Anzug und noch dazu in der Gegenwart, im muslimischen Kairo. Kompliziert wird’s dann, wenn ein Pamphlet für freies Denken mit dem Ziel, ganze Kulturkreise zu missionieren, verwechselt wird.

Dem US-Journalisten Doug Rawlins passiert das. Er verwechselt Diplomatie mit Kompromittierung und stößt im Rahmen eines Fernsehinterviews in Ägypten die muslimische Gemeinde vor den Kopf. Die Kunst der Rhetorik will gelernt sein, und man könnte davon ausgehen, Rawlins würde diese beherrschen. Dem ist aber nicht so. Er macht unmissverständlich klar, dass nur der christliche Glaube der einzig wahre sei. Feingefühl lässt sich woanders verorten. Folglich wird dem eitlen Gecken schon bald ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt, der Sitzplatz im Flieger zurück in die vereinigten Staaten bleibt leer. Natürlich spielen da auch noch ganz andere Faktoren mit, denn ein heikles Missverständnis zwischen Rawles und einem muslimischen Geschäftskollegen war einige Zeit vorher aus dem Ruder gelaufen. Entführt, gefoltert und eingesperrt, muss Jim Caviezel nun um seinen Lebensabend bangen, während Ehefrau Liz sämtliche Hebel in Bewegung setzt, um auf eigene Faust ihren Mann zu finden und freizubekommen.

Der christliche Glaube als einzig wahre Religion: Cyrus Nowrastehs Politdrama Infidel zweifelt nicht an seiner überlegenen Gottesgläubigkeit und legitimiert ungefragtes missionarisches Handeln. Selbstredend darf Jim Caviezel nach Die Passion Christi wieder in die Rolle eines neues Messias schlüpfen, der für das Heil der Welt dem Tod ohne weiteres ins Gesicht sieht. Seine Rolle ist die eines predigenden Jesus sehr ähnlich, nur statt auf Bergen oder öffentlichen Plätzen offenbart der von ihm dargestellte Journalist seine Weisheiten per Blog – bis eben das Fernsehen ruft, und er dort schließlich nicht anders kann, als zu seinem Glauben zu stehen. Das hausgemachte Dilemma schmeckt dann auch nicht so richtig. Und wenn, dann nach zu offensichtlicher Anbiederung an ein obsoletes Märtyrertum. Caviezel legt seine Figur viel zu gelassen an, auch dirigiert Nowrasteh, der mit dem Heiland-Biopic Der junge Messias so ziemlich durchfiel, seinen Befreiungssthriller zwar zügig und kaum langweilig, dafür aber recht routiniert und angesichts der Motive der einzelnen Figuren relativ einseitig.

Infidel

The Lost City – Das Geheimnis der verlorenen Stadt

EIN ABENTEUER, WIE ES IM BUCHE STEHT

4/10


thelostcity© 2022 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: AARON & ADAM NEE

CAST: SANDRA BULLOCK, CHANNING TATUM, DANIEL RADCLIFFE, DA’VINE JOY RANDOLPH, BRAD PITT, OSCAR NUÑEZ, PATTI HARRISON U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Was waren das für herzhafte Screwball-Sidekicks in den Achtzigern, als sich Kathleen Turner und Michael Douglas schwitzend durch ein Abenteuer gekämpft hatten, das beide Seiten ihre Sünden abbüßen ließ: Die Jagd nach dem grünen Diamanten. Wenn aus Turners italienischen Stilettos plötzlich Praktische werden, ist das nur eines von vielen süffisanten Bonmots, die nur einer wie Robert Zemeckis inszenieren kann. Doch die Zeiten der geschmackvollen Was-sich-liebt-das neckt-sich-Parcours, die sich eigentlich schon mit African Queen ihren Einstand gaben, scheinen auf seltsame Weise vorbei zu sein. Es stelzt diesmal Sandra Bullock – im pinkfarbenen Glitter-Overall und wildnis-getunten High Heels – mit Magic Mike Channing Tatum durch den brasilianischen Inselregenwald. Beide necken sich dabei wenig, und von Liebe ist überhaupt keine Spur (wenn man von der letzten Minute des Films absieht). Katherine Hepburn oder Kathleen Turner würden mit den Augen rollen: So viele Klassiker, so viele Vorgaben – und dabei ganz vergessen, worauf es ankommt.

Ein guter Cast allein ist nämlich nicht alles. Immerhin – den haben wir hier, mit Bullock, Tatum, Da’Vine Joy Randolph als schrägen Sidekick und Daniel Radcliffe als schmierigen Bösewicht mit gefälligem Grinsen. Bullock selbst gibt eine sich selbst zwangsbeglückende Bestsellerautorin namens Angela, die aber viel lieber irgendwo auf der Welt nach antiken Schätzen graben würde als bei Marketingshows in peinlichem Outfit auf Hochstühlen herumzurutschen. Zum Femdschämen wird’s erst, als Coverboy Dash mit Hansi Hinterseer-Gedächtnisfrisur auf die Bühne schwebt, das Model all ihrer Buchcover. Die beiden verbindet nichts, nur der schnöde Mammon. Doch das ändert sich, als Angela von Radcliffes Männern fürs Grobe entführt wird. Sie soll helfen, die Schriftzeichen einer untergegangenen Kultur zu übersetzen, die damals Bestandteil ihrer Studienzeit gewesen war. Währenddessen will Dash nicht nur Covermodel, sondern auch Lebensretter sein, und engagiert den abgehobenen Mähnenlöwen Brad Pitt (leider nur in einer kleinen Nebenrolle), um die Autorin da rauszuhauen. Klar geht das schief, und alsbald sind beide, Angela und Dash, auf sich allein gestellt. Das romantische Dschungelabenteuer kann beginnen. Nur funkt und zündet hier leider so gut wie kaum etwas, und das liegt nicht an der tropischen Feuchtigkeit. Obwohl das Ensemble einander nicht im Weg steht, und auch das Wohlwollen des Publikums gewinnt, müht sich das Regieduo Adam und Aaron Nee vergeblich, aus dem wiederbelebten Subgenre erfrischend Neues hervorzukitzeln.

The Lost City ist so vorhersehbar wie ein Langstreckenflug bei gutem Wetter und bestens gewarteter Technik. All diese Versatzstücke, die The Lost City ausstatten, reihen sich in einer fast zweistündigen Formel aneinander, um den perfekten Abenteuerfilm zu mixen. Was dabei herauskommt, ist irgendwas. Jedenfalls etwas, das zur Zerstreuung dient und vorzugsweise Langeweile entstehen lässt, die ganz nett anzusehen ist, weil eben der Cast seine Arbeit macht. Der Rest bleibt ein schales Straucheln, Stolpern und Rutschen mit müden Gags, gestelzter Romantik und gar keinem Grip.

The Lost City – Das Geheimnis der verlorenen Stadt

Fresh

ROTKÄPPCHEN UND DAS WOLFSRUDEL

8/10


fresh© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MIMI CAVE

SCRIPT: LAURYN KAHN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, SEBASTIAN STAN, JONICA T. GIBBS, CHARLOTTE LE BON, ANDREA BANG, DAYO OKENIYI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Männer wollen doch immer nur das eine! Vermutlich schon, denn wären die Triebe nicht, gäbe es keine Beziehungen. Oder nur wenige, rein platonische. Die Lust am anderen (oder gleichen) Geschlecht ist stets der Anfang von viel mehr. Oder bleibt in den niederen Gefilden von Sex und körperlicher Liebe verhaftet, weil so manche Männer einfach nur genau das wollen und Frauen auf ihre äußerlichen Reize reduzieren. Gegen die aufblasbare Gummipuppe aus dem Beate Uhse-Versandkatalog scheinen „echte“ Frauen aber stets die Nase vorn zu haben, nichts kann die natürliche Physis ersetzen. Um das zu bekommen, was Mann will, gibt’s Dating-Apps wie Tinder. Passen die Matches, ist noch längst nicht gesagt, ob‘s Auge in Auge dann auch noch hinhaut. Meist nicht, meist ist es nach einem One-Night-Stand nicht nur beziehungstechnisch vorbei, sondern auch die Würde dahin. Doch Mann hat bekommen, was er wollte und zieht weiter. Wie ein Jäger auf der Pirsch nach Freiwild. Oder – wie wir seit EAV’s Märchenprinzen wissen: Zu viele Jäger sind der Hasen Tod.

Dazwischen jedoch, und um einiges weiter abseits, bleibt das Patriarchat nicht unkreativ, um mehr zu bekommen als möglich ist. Diese Erfahrung muss die junge Noa alsbald machen, als sie, entnervt und enttäuscht nach so einigen Blind Dates, im Supermarkt Bekanntschaft mit dem äußerst attraktiven Steve macht. Wen haben wir da vor uns: „Winter Soldier“ Sebastian Stan, sehr schick, sehr distinguiert und charmant. Ein Mann, den Frau sich nur erträumen kann, weil es diesen in natura einfach nicht gibt. Kurz danach folgt das Grand Opening einer leidenschaftlichen Liaison, wie wir sie schon aus diversen anderen RomComs oder erotischen Krimis kennen. Das dann alsbald ein unangenehmes Erwachen folgt, liegt auf der Hand. Der Punkt in dieser Sache ist nur: Welcher Art ist dieser Wermutstropfen auf die rosarote Glückseligkeit, der so bitter schmeckt wie ein roher Satanspilz?

Die Erkenntnis sickert wie der Schmerz beim Anstoßen der kleinen Zehe mit einiger Verzögerung sortenrein ins Hirn – und ist umso verstörender, je länger man darüber nachdenkt. Die Frau als Objekt der Begierde findet in Mimi Caves haarsträubender Groteske Fresh ihre destruktivste Bestimmung, der Horror macht sich in den Köpfen breit und in der sprachlosen Empörung, zu welchen niederträchtigen Marktlücken das starke Geschlecht sich hinzureißen gedenkt. Carey Mulligan aus Promising Young Woman, die mit der stumpfen Schwanzsteuerung von Männern Schlitten fährt, hätte selbst hier wohl einige Zeit gebraucht, um ihren vor Erstaunen geöffneten Mund zu schließen. Doch es ist, wie es hier ist, und bedurfte zumindest bei mir eines zweiten Anlaufs, nach so vielen Tabubrüchen dennoch dranzubleiben.

Fazit: Es lohnt sich. Denn das Ganze erzeugt einen Topspin, dem man sich ungern entziehen will. Fresh ist eine so abstoßende wie faszinierende, zutiefst makabre Satire auf Körperwahn und männliche Dominanz, Missbrauch und sexueller Versklavung. Themen, die in einem 70er Jahre Grindhouse-Slasher als billig-perverse Blutoper für Magenverstimmungen gesorgt hätten. Mimi Cave und Drehbuchautorin Lauryn Kahn sind dieser Phase aber erhaben. Ihr Film hat Stil und trotz all der Verrohung enormen Anstand. Bei wohl kaum einem anderen Film der letzten Zeit trifft die Bezeichnung fancy wohl am ehesten zu wie auf diesen: das Grauen ist schick gekleidet, die Ausstattung akkurat und so penibel wie in American Psycho. Das Intellektuelle bringt das aalglatte Böse erst hervor, dass in einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit agiert. Sebastian Stan ist dafür wie geschaffen – er übertreibt nicht, und er gibt sich keinem charakterlichen Wandel hin wie in so manchen Thrillern, die dadurch enorm viel Plausibilität einbüßen. Das Juwel des Films ist aber die wirklich bezaubernde Daisy Edgar-Jones (Krieg der Welten), die hier ihr Spielfilmdebüt hinlegt und dabei – einer jungen Sissy Spacek ähnlich – in einer Mischung aus Furcht, Trotz und Esprit Mulligans Femme Fatale den Rang abläuft und die Herzen ihres gesamten Publikums gewinnen wird.

Mit ihrer Performance – und der innovativen, filmischen Erzählweise, die mit symbolhaften, kurios geschnittenen Bildcollagen die kluge Metaebene offenbart, schafft es Fresh, die Grenze des guten Geschmacks zu verschieben und mit genug spottender Coolness beängstigende männliche Vorlieben so zu konterkarieren, dass sie einem nichts mehr anhaben können.

Fresh

No Exit

MITGEHANGEN, MITGEFANGEN

3,5/10


noexit© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DAMIEN POWER

CAST: HAVANA ROSE LIU, DANNY RAMIREZ, DAVID RYSDAHL, DENNIS HAYSBERT, DALE DICKEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Schneechaos ist das Beste, was einem Thriller passieren kann. Gut, manchmal reicht auch Regen und Gewitter, denn bei so mieser Witterung will keiner wirklich aus dem Trockenen. In Drew Goddards Bad Times at the El Royale hat’s zumindest geschüttet wie aus Schaffeln, was Chris Hemsworth mit seinen blanken Brustmuckis nicht sonderlich gestört hat. Denn das Wetter ist die Stimmungskanone schlechthin. Da rücken die verbliebenen Insassen zusammen, auch wenn sich diese untereinander fremd sind. Keine Ahnung, was der oder die Einzelne schließlich im Schilde führt oder welchen Rattenschwanz an Lebensbeichten herumgeschleppt werden muss. In Quentin Tarantinos Hateful Eight ist das Schneechaos, ähnlich wie in vorliegendem Film No Exit, der Schraubstock für eine angespannte Gesamtsituation, in der sich alle auf Augenhöhe begegnen müssen – das Katz- und Mausspiel, sofern es eines geben soll, kann beginnen. 

Und ja, auch bei diesem Direct-to-Disney+-Thriller stehen die Zeichen auf Sturm. Wir befinden uns irgendwo auf dem Weg nach Salt Lake City, das heißt: Ex-Junkie Darby tut das, sie ist mit dem Auto unterwegs und will zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Blöd nur, dass ein Blizzard die Straße unpassierbar macht. Zurück in die Reha will Darby auch nicht, also bleibt ihr nur die Touristeninfo am Rande eines Waldes, weitab jeglicher Kontrollinstanz. Natürlich ist sie in dieser wohlig eingerichteten, mit allerlei Nationalparkinfos ausgestatteten Zuflucht nicht allein. Vier weitere Individuen harren besseren Zeiten entgegen. Ein älteres Ehepaar und zwei Mittzwanziger, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine pennt, der andere blickt verstohlen um sich, wagt dabei aber nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen. Doch so Freaks gibt’s immer, was soll da schon groß passieren. Der Breakfast Club für die Durchreise ist angerichtet, am besten, man verbringt die Zeit mit Kartenspielen – was die Anwesenden dann auch tun. Der Film wäre nicht aufregender als das Wetterpanorama geworden, wäre Darby nicht durch Zufall auf das entführte und gefesselte Mädchen in einem weißen Van gestoßen. Einer oder eine aus der Gruppe muss also Dreck am Stecken haben. Nur wer?

Wenn Darby ihr Geheimnis noch für sich behält und gute Miene zu bösem Spiel macht; wenn alle fünf um den Tisch sitzen und das dubiose Kartenspiel Bullshit spielen, dann hat das latent bedrohliche Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Den es aber auch wieder schnell verliert, so nach dem Motto: wie gewonnen, so zerronnen. Denn sobald klar wird, wer hier nun perfide genug ist, um ein unschuldiges Mädchen zu entführen, sackt die Spannungskurve nach unten. Vielleicht aber helfen ein paar Story-Twists, denn viel mehr ist angesichts des begrenzten Settings ja vielleicht gar nicht möglich. Irrtum – gerade in solchen Situationen lässt sich die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens ausreizen. Da wären aufgesetzte Wendungen wie diese hier, die offensichtlich nur dazu da sind, um kreatives Defizit zu kompensieren, gar nicht mal nötig. Man hätte den Faktor X noch durchaus weiter in die Spieldauer hineinnehmen können, doch die Mystery weicht einem trivialen Duell Gut gegen Böse, wobei hier niemand Wert legt auf plausible Charaktere, mit Ausnahme vielleicht von Havana Rose Liu, die als moralisches Zentrum ihre sozialen Defizite durch ritterliche Verzweiflungstaten ausgleicht. 

No Exit überrascht nicht, sondern bestätigt immer wieder die Vermutungen des Zuschauers. Der würde sowieso anders agieren, und das gleich zu Beginn. Doch da wäre aus Damien Powers Romanverfilmung ein Kurzfilm geworden. Na und? Vielleicht wäre der aber knackiger.

No Exit