Disco Boy (2023)

TANZEN IM RHYTHMUS DES GEGNERS

5,5/10


discoboy© 2023 FILMS GRAND HUIT – DUGONG FILMS – PANACHE PRODUCTIONS ET LA COMPAGNIE


LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN, BELGIEN, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: GIACOMO ABBRUZZESE

CAST: FRANZ ROGOWSKI, MORR N’DIAYE, LAETITIA KY, LEON LUČEV, MATTEO OLIVETTI, ROBERT WIECKIEWICZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Bevor die Vorstellung beginnt, folgender Verweis: Epileptiker seien gewarnt vor starkem Stroboskoplicht während der Ausstrahlung des Films. Tatsächlich sind die Szenen, die dem titelgebenden Disco Boy in Aktion zeigen, äußerst dünn gesät – und die blinkenden Lichter, die das Auge malträtieren, glänzen durch schonende Abwesenheit. Denn Franz Rogowski hat als Weißrusse Aleksej mit Ausdruckstanz vor rhythmisch kreisendem Gefolge herzlich wenig am Hut. Diesen Traum träumt jemand ganz anderer. Beide werden im Laufe der Geschichte aufeinandertreffen, diese Begegnung wird Lebenswelten über den Haufen werfen. Am Ende werden sich die Fremden geborgen fühlen und die Geborgenen fremd, es ist ein assoziatives Spiel mit Träumen, Erscheinungen und Astralreisen. Wenn man es auf US-banalen Fantasyklamauk herunterbrechen würde, wäre der vergleich mit Freaky Friday als Arthouse-Kinoversion für vermeintlich Intellektuelle gar nicht mal so verkehrt.

Mit dem Wechselspiel zwischen den Identitäten haben sich schon wunderbare Filmwerke machen lassen. Disco Boy gehört nicht zwingend dazu. Er nimmt seine Geschichte, obwohl humorbefreit, nicht ganz so ernst, wie er uns, seinem Publikum, weismachen will. Hinter dem Metaphysischen der Existenz liegt die banale Welt eines Zauberspiels, das mit im wahrsten Sinne des Wortes überaus augenscheinlicher Symbolik spielt.

Dieser Aleksej also schafft es über Polen bis nach Frankreich, dort treibt es ihn zuallererst ins Rekrutenbüro der Fremdenlegion. Dort, so sagt der Film, können selbst illegal Eingewanderte ihren Dienst in die gute Sache von Frankreichs Militärmacht stellen. Nach fünf Jahren des Überlebens winkt die französische Staatsbürgerschaft und ein wohlklingend frankophoner Name. Nur bis dahin heisst es ins saftige Gras des Dschungels beißen, wenn es zum Beispiel nach Nigeria geht, um französische Geschäftsmänner aus den Klauen der Rebellengruppe MEND (Movement of the Emancipation of Niger Delta) zu befreien. Aleksej macht seine Sache gut, alles sieht danach aus, als hätten wir es mit feuchtheißer Dschungelaction zu tun, doch der Schein trügt. Auf der anderen Seite steht schließlich Jomo (Korr N’Diae), Anführer der Gruppe und dessen Schwester Udoka (Laetitia Ky), die schon längst von hier fortwill. Beiden ist eigen, dass sie unterschiedlich gefärbte Augen haben, eines hell, das andere dunkel. Als Aleksej dann im Dickicht des nächtlichen Dschungels auf Jomo trifft, gibt’s für einen von beiden kein Morgen mehr. Was dann passiert, entzieht sich jeglicher Realität, wie so oft in diesem vom Geisterglauben und dem Transzendentem durchdrungenen Afrika, dass, auch schon wie in Omen, die Tore zu diversen Zwischenwelten offenhält.

Fremde in der Fremde, die in die Fremde gehen. Giaccomo Abbruzzese erzählt in seinem Spielfilmdebüt eine entrückte Fabel mit schönen, aber uninspirierten Bildern. Afrikanischer Kitsch trifft auf Expendables, ein selbstbewusster Stil will sich nicht so recht durcharbeiten durch all das fantastisch-reale Flirren. Es ist ein Effekt, den man ab und an in den Filmen von Werner Herzog entdeckt – sperrige Sequenzen mühen den Zuseher ab, obwohl der Plot per se gar keine Anstrengung erfordert. Prätentiös wäre das richtige Wort, Bescheidenheit in diesem astralen Konflikt entspricht nicht den Sehnsüchten der beiden Männer, um die es hier geht. Die Sehnsucht nach einem alternativen Lebensentwurf und die Möglichkeit, diesen auch zu praktizieren, treibt die Fremden alle um. Viel mehr weiß Abbruzzese dann nicht mehr zu berichten. Weit vor Mitte des Films wird klar, welche Richtung das metamorphe Schicksal einschlagen wird. Viel Mühe macht sich Disco Boy nicht, im Streben nach einer schmucken Fassade für sein Existenzdrama scheut der Film aber nie zurück. Die Möglichkeit, etwas tiefer in diesen Kosmos einzudringen, wird verweht, als hätte Disco Boy zwei eigene Türsteher, die unsereins nicht einlassen. Gerne hätte ich mehr von Udoka erfahren. Schöner wäre es gewesen, Rogowski und eben jene aparte Gestalt im Gewissenkonflikt aufeinandertreffen zu lassen. Das Simple jedoch obsiegt. Der Look, obgleich unnahbar, sitzt. Erfüllte Sehnsüchte fühlen sich anders an.

Disco Boy (2023)

Human Flowers of Flesh (2022)

IM UND AM UND UMS MEER HERUM

6,5/10


humanflowersofflesh© 2022 Grandfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: HELENA WITTMANN

CAST: ANGELIKI PAPOULIA, VLADIMIR VULEVIĆ, MAURO SOARES, GUSTAVO DE MATTOS, FERHAT MOUHALI, STEFFEN DANEK, DENIS LAVANT U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Darauf muss man sich einlassen, darin muss man eintauchen wollen, denn fast ist es so, als ob einen selbst während der Sichtung dieses Films die Gewissheit ereilt, nicht schwimmen zu können. Haltlos geht man unter, denn Halt bietet das Kunstwerk hier keinen. Worum sich die Schiffreise genau dreht, was Ida (Angeliki Papoulia) eigentlich will und in welchem Verhältnis sie zu den fünf auf ihrem Schiff befindlichen Männern steht, die von überall aus der Welt herangereist sind: Helena Wittmann wird uns darüber wohl niemals aufklären. Wie also einen Film sehen, der ganz bewusst ins Meer hinaustreibt, als wäre die Strömung der einzige rote Faden in dieser kryptischen Geschichte, die nicht mal eine sein will. Viel lieber starrt Wittmann aufs Meer hinaus, auf die Gezeitenzone hin, wenn sich Schaumkronen bilden, darunter verschiedenfarbiges Blau bis hin zu Aquamarin oder gar Hellgrün. Das Wasser hat in Human Flowers of Flesh eine hypnotische Wirkung und scheinbar minutenlang wendet sich die Kamera nicht davon ab. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in dieses unbezwingbare Element so lange hineinzusehen wie in Nietzsches Abgrund, der sich folglich im Betrachter selbst verliert.

Schließlich muss auch mal klar sein, worauf man sich einlassen will. Doch wie erkennen, ob ein Film wie dieser, der allen gängigen Erzählweisen entgegenläuft und all die Lehrbücher, in denen geschrieben steht, wie sich Filme dramaturgisch aufbauen müssen, über Bord wirft, die ganze aufgebrachte Geduld überhaupt lohnt. Human Flowers of Flesh ist am Ende des Sommers ein Werk, das mit seinen ersten Sequenzen zumindest nochmal an die mediterrane Küste einlädt – zu Sonne, Zikadenzirpen und eben an das wunderbar (be)rauschende Meer. Doch schnell kann’s gehen und nach der langsamen Einführung ins Geschehen, auf welche wiederum kein Geschehen in klassischem Sinne folgt, möge die Einsicht dämmern, einer künstlerischen, aber unerhört langweiligen Reise beizuwohnen, deren zentrale Figur, nämlich Ida, im ganzen Film nicht mehr spricht als vielleicht, wenn’s hochkommt, drei Sätze. Wortlos bleiben auch die meisten hier, all die fünf Männer, die man anfangs schwer auseinanderhalten kann, weil sie sich eben durch nichts, was sie tun, voneinander unterscheiden. Später steht der eine am Steuerrad, während der andere die Halterung fürs Tau putzt. Wieder ein anderer starrt so wie wir stoisch aufs Meer, während ihm später im Beisein des Publikums die Augen zufallen vor lauter Monotonie an Bord eines Seglers, der nicht mal einen Namen trägt – zumindest wir erfahren ihn nicht.

Angeblich soll die Reise bis nach Algerien gehen, mit Zwischenstopp auf Korsika. Erfahren lässt sich dies nur, wenn man ganz genau aufpasst, alles andere bleibt ein Geheimnis. Irgendwie hat die Reise auch mit der Fremdenlegion zu tun, mit Sidi Bel Abbès, dem Zentrum für jene, die bei glühender Hitze und besungen von Freddy Quinn durch ihre zwangsläufig heißgeliebte Wüste stolpern. Die Ferne, die Weite – beides Metaphern in Helena Wittmanns Biotop der Eindrücke. Je länger die Reise andauert, umso mehr verliert sie sich in Tagträumen, thalassophobischen Reizbildern, gluckernden Klanginstallationen und dem mikroskopischen Treiben von Plankton. Dann wieder der lange Blick auf ruhelose Seelen, die blicken. Die sich nichts zu sagen haben, die Briefe schreiben mit Gedichten anderer.

So ungehörig abstrakt und jenseits jeglicher Normen sind unter anderem auch die Werke des Thailänders Apichatpong Weerasethakul. Doch dieser hat für seine metaphysischen Tableaus immerhin noch eine lose, aber durchaus zusammenhängende Geschichte, deren Elemente verändert und kryptisch, aber dennoch wiederkehren. Human Flowers of Flesh verzichtet fast gänzlich auf ein Narrativ und lockt ausschließlich Assoziationen aus des Zusehers Reserve. Leicht kann es passieren, dass man sich Wittmanns Idee vom Reisen übers Meer nicht hingeben will, doch dann passieren seltsame Dinge – genau so, als würde man sich wegdenken, auf einer Fahrt der Sonne entgegen, wo Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, und der Mensch durchs Reisen viel näher an seinen Ursprung gelangt als auf andere Art.

Human Flowers of Flesh (2022)

Warten auf die Barbaren

HARTE KONTRASTE IM WÜSTENSAND

4,5/10


barbaren© 2019 Constantin Film Verleih


LAND: USA, ITALIEN 2019

REGIE: CIRO GUERRA

CAST: MARK RYLANCE, JOHNNY DEPP, ROBERT PATTINSON, GRETA SCACCHI, HARRY MELLING, GANA BAYARSAIKHAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Irgendwo im Nirgendwo: eine Festung der Fremdenlegion, thronend wie eine Kreuzritterburg über wüstenhaftem Ödland. Wo genau und wann genau diese Geschichte spielt, bleibt unklar. Womöglich handelt es sich um einen Grenzposten irgendwo in Asien, zumindest das wird bald konkreter, nachdem die sogenannten Barbaren einzeln verortet werden. Und die sind eine Gefahr für das ebenfalls nicht näher genannte Imperium, das aber auf britisch macht, sich Land und Volk mit harter Hand unterwirft und aus einer inneren Unruhe heraus all die Fremden, die das Grenzenziehen der Kolonialherren längst nicht gutheißen, bekämpfen und vernichten wollen. Mittendrin in dieser Kreuzritterburg: der sogenannte Magistrat, der ganz gut mit den Einheimischen zurechtkommt und der wenig erfreut darüber ist, als sein Rayon von einem eiskalten Colonel unter dessen Fittiche genommen wird. Die Methoden des militärisch zugestutzten Dämons stoßen dem Magistraten für alle ersichtlich sauer auf, obwohl er sich im Angesicht der brutalen Exekutive mit seinen humanistischen Anwandlungen noch weniger Freunde macht, als er ohnehin schon hatte.

Der kolumbianische Regisseur Ciro Guerra hat in seiner bisherigen, noch relativ kurzen filmischen Laufbahn zwei beachtliche Filme geschaffen. Zum einen den in Schwarzweiß gehaltenen, durchaus auch streng komponierten Dschungelstreifen Der Schamane und die Schlange, zum anderen – in Co-Regie mit Cristina Gallego – die Anfänge des kolumbianischen Drogenhandels unter dem Titel Birds of Passage. In Warten auf die Barbaren, der Verfilmung eines Romans von J. M. Coetzee, merkt man sofort, dass die Thematik des Filmes vorrangig nicht die ist, die Guerra zumindest geographisch mit seiner eigenen Heimat verbindet. Auch emotional sprühen hier keine Funken. Dieses Warten auf die Barbaren wird zum Warten für alle Anwesenden und womöglich auch am Film Beteiligten, denn Guerra, der weiß nicht so recht, wie er dieses teils abstrakte, mit groben Scherenschnittcharakteren besetzte Sinnspiel auf reibungslose Weise voranbringen soll. Der Film kauert gut die Hälfte seines Films in harrender Hocke, die Sonne brennt vom Himmel, die Mattigkeit der Umgebung sickert in den Durchschuss seiner Drehbuchzeilen. Überall dieser ganze Sand, vielleicht bringt der das Getriebe zum Stocken, jedenfalls entsteht in diesem plakativen Schwarzweißbild in Farbe eine enorm simple Welt, die aus den Guten und den Bösen besteht. Der Kontrast ist hart, schwer verdaulich auch die Methoden der Imperialisten, um die heillos unterlegenen Barbaren zu quälen.

Mark Rylance als Mann des Gewissens, als Höriger seiner eigenen Wertordnung und Opfer seiner Prinzipien, ist ein Don Quichote in einem Land voller Windmühlen, eine clowneske, tragische Gestalt, die man sonst in den Theaterstücken eines Max Frisch wiederfindet. Um ihn herum die flachen Pappkameraden der Unterjochung – Johnny Depp mit Sonnenbrille und steinharter Mine, eine Figur ohne Tiefe und Charakter, ein Jedermann, eine Projektion, stellvertretend für irgendetwas dahinter. Genauso geht es Robert Pattinson. Eine kleine Rolle zwar, doch genauso starr und emotional verkümmert wie alle anderen um Mark Rylance herum. Im Alleingang kann dieser das filmische Gleichnis nicht stemmen, zu viel hängt von seinem Tun fast die gesamte Laufzeit des Films ab. Daher bricht sich lähmendes Verharren Bahn, weil alles darauf wartet, was Rylance als nächstes tut. Das wird träge und dösend, eingeteilt in vier Jahreszeiten. Man hat das Gefühl, man erlebt sie in Echtzeit. Bis Rylances große Stunde schlägt, und die Konzentration auf seine Figur Legitimität erfährt.

Wenn es denn so einfach wäre, die Welt in all diese Schubladen einzuteilen, wie sie Ciro Guerra hier visualisiert, in einem scheinbaren Abenteuer, das schon unter Erschöpfung leidet alleine aufgrund des Betrachtens seiner eigenen Agenda, wäre die Welt vielleichte eine bessere. Coetzees Roman mag die akkurate Machtordnung mit dem geschriebenen Wort wohl überlegter interpretiert haben als in diesem Fall das Medium Film.

Warten auf die Barbaren