Alles steht Kopf 2 (2024)

DAS HÄLT MAN JA IM KOPF NICHT AUS

8/10


INSIDE OUT 2© 2023 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


ORIGINALTITEL: INSIDE OUT 2

LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: KELSEY MANN

DREHBUCH: MEG LAFAUVE, DAVE HOLSTEIN

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): AMY POEHLER, PHYLLIS SMITH, TONY HALE, LEWIS BLACK, LIZA LAPIRA, MAYA HAWKE, AYO EDEBIRI, ADÈLE EXARCHOPOULOS, PAUL WALTER HAUSER, KENSINGTON TALLMAN, DIANE LANE, KYLE MCLACHLAN U. A.

MIT DEN STIMMEN VON (DEUTSCHE SYNCHRO): NANA SPIER, PHILINE PETERS-ARNOLDS, OLAF SCHUBERT, HNS-JOACHIM HEIST, TANYA KAHANA, DERYA FLECHTNER, OLIVIA BÜSCHKEN, JESSICA WALTHER-GABORY, BASTIAN PASTEWKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Wie bringt man so etwas Abstraktes wie die Vielfalt der eigenen Emotionen in die Gussform einer Coming of Age-Story, die hauptsächlich nur zeigt, was in einem Menschen vorgeht, insbesondere eines jungen Menschen, der mit all diesen Gefühlen erstmal auf Kennenlernkurs gehen und sich dann selbst als Person und Charakter definieren muss? Hinzu kommen Werte, Überzeugungen und Glaubenssätze, dunkle Geheimnisse, verdrängte Erinnerungen. Alles, was das Gehirn als ein Wunderding chemischer Prozesse und als Antwort auf die Außenwelt, die einen formt, produziert? Am besten verlässt man sich da auf Pixar. Denn Pixar bringt interagierende Emotionen als Bilderbuch auf Schiene, gibt Freude, Kummer, Ekel, Angst und Wut eine knuffige Gestalt, mit der sich das Publikum leicht identifizieren kann, weil sie liebenswert erscheinen, auch wenn sie etwas verkörpern, dass uns gut und gerne verstimmt. Pixar hat sich darin bewährt, Abstraktes greifbar zu machen und ein komplexes System in seinem Workflow so weit zu simplifizieren, dass es selbst die Jüngeren (aber nicht die ganz Jungen) verstehen. Was da abgeht, verstehen nicht mal wir Erwachsenen, umso hilfreicher sind Filme wie Alles steht Kopf, die uns auf spielerische Weise verdeutlichen, womit wir tagtäglich zu ringen haben.

Ein junger Mensch taucht in seine Gefühle ein wie ein Pionier, der eine Landmasse neu entdeckt. Die eingangs erwähnten Emotionen sind allesamt noch da, sie sind nach wie vor chaotisch, finden aber einen gewissen Rhythmus in ihrem Tun. Bis eben die Pubertät im Alarmstufe Rot-Modus alle aus dem geordneten Schlaf holt. Die Stunde des Erwachsenwerdens hat geschlagen, die nun dreizehnjährige Riley erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es ist, zu sich selbst zu stehen und ihr Tun zu hinterfragen. Sie beginnt, an die Zukunft zu denken und Prioritäten zu setzen, sie setzt sich dem sozialen Biotop eines Eishockey-Camps aus und biedert sich einer bewundernswerten Clique an, während ihre beiden langjährigen Freundinnen, die noch dazu nächstes Jahr an eine andere Schule wechseln, sehen müssen, wo sie bleiben. In Rileys Kopf entern nun ganz andere, neue Emotionen die Schaltzentrale – vor allem der Zweifel gibt den Ton an, begleitet von Neid, Gleichmut und Peinlichkeit. Grandios: als fünfte Emotion im Schlepptau gibt sich die Nostalgie als schicke alte Oma ein Stelldichein. Was dann passiert, ist fast schon mit einem Putsch der Gefühle zu bezeichnen, die Klassiker werden verdrängt und landen im Hinterstübchen, der Zweifel beginnt, ohne es zu wollen, Rileys Persönlichkeit zu ändern und zu verleugnen.

Was Zweifel mit einem machen, stellen Drehbuchautorin Meg LaFauve (dier schon am ersten Teil mitgeschrieben hat) und Kelsey Mann auf eine Weise dar, die klüger nicht sein könnte. Pixar übertrumpft mit seinem Sequel noch bei weitem das Original, die surreale Hirnlandschaft eines Mädchens wird abermals zu einer abenteuerlichen Terra incognita mit bekannten Ecken, aber auch neuen „Naturkatastrophen“ wie dem Sarkasmusgraben oder den zeppelingroßen Ballons, die die mögliche berufliche Zukunft Rileys darstellen. Ideen wie diese sind Gold wert, mit viel Bedacht bringt Alles steht Kopf 2 diese irreale und doch so reale Welt zum Beben und Leben, alles hat seinen Platz, seine Funktion, seinen Sinn.

Natürlich folgt Kelsey Manns Film der fast schon generischen Problemwelt eines Mädchens, all das kennen wir aus Schulfilmen von John Hughes und vielen ähnliche Serien wie Wunderbare Jahre. Das alles ist nicht neu, fast schon psychosoziales Lehrbeispiel – doch durch diesen Dreh, mit dem das Innere sichtbar wird – diese Welt aus Gedanken, zuckenden Synapsen und schwer kontrollierbaren Emotionen – gerät Alles steht Kopf 2 so packend wie ein Psychothriller, so fordernd wie eine Therapiesitzung und ist tatsächlich auch imstande, Gänsehaut zu erzeugen. Klarerweise müssen die Verantwortlichen auch darauf achten, den sehr jungen Part ihrer Zielgruppe nicht aus den Augen zu verlieren – manch infantile Momente wirken daher wie im falschen Film, den Kleinen dürfte es aber gefallen. Von mir aus, in Kauf genommen, schließlich ist alles andere auf den Punkt inszeniert und animiert, mit Alles steht Kopf 2 hat das Team von Pixar schließlich wieder jenen Tiefgang erreicht, den es zuletzt mit Soul hatte. Darin, das Formlose sichtbar werden zu lassen und neue Welten zu erforschen, liegt die Stärke dieses Studios. Beim nächsten Mal, ich ahne es schon, könnte die Liebe ins Spiel kommen. Das Beste wäre aber, Riley ihr ganzes Leben lang zu begleiten. Denn jede Phase davon wäre ein Film wie dieser wert.

Alles steht Kopf 2 (2024)

Aus meiner Haut (2022)

NICHT ALLES LEBEN IST CHEMIE

7,5/10


ausmeinerhaut© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: ALEX SCHAAD

DREHBUCH: ALEX & DIMITRIJ SCHAAD

CAST: MALA EMDE, JONAS DASSLER, MARYAM ZAREE, DIMITRIJ SCHAAD, EDGAR SELGE, THOMAS WODIANKA, SEMA POYRAZ, ADAM BOUSDOUKOS U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Wie es genau funktioniert, werden wir nie erfahren. Womöglich würden wir es auch nicht verstehen, jedenfalls müssen wir hinnehmen, dass das Unglaubliche zum bezahlbaren Selbstversuch wird – zur immersiven Therapie für mehr als nur neugierige, sondern auch von einem gewissen draufgängerischen Pioniergeist beseelte Sensationsabenteurer, die sich selbst vielleicht ein bisschen satthaben. Denn auf einer Insel, irgendwo in der Nordsee, wird Selbsterfahrung zur Fremderfahrung.

Dort ist es einem Wissenschaftler auf einem nicht näher definierten Spezialgebiet gelungen, Persönlichkeiten aus deren Körpern zu extrahieren und in andere einzusetzen. Natürlich nur, wenn der Empfänger Platz macht. Der nimmt dafür den Körper des anderen, mitsamt seiner biochemischen Prozesse – mitsamt seines Gehirns und seiner psychosomatischen Beschaffenheit. Einzig das Ich-Bewusstsein ist anders. Vergleichbar wäre es damit, in einen Leihwagen zu steigen, um damit nicht mal selbst zu fahren, sondern vom Besitzer des Autos chauffiert zu werden, natürlich unter Ansage des Beifahrers. Als Navigator, nicht als Fahrer des neuen Wagens fungiert der neu eingesetzte Geist. Somit werden nicht mal Skills, Talente und erlernte Fähigkeiten übertragen, dafür aber Weltsichten und Charakter.

Unter dieser präzise formulierten Prämisse gelingt dem Langfilmdebütanten Alex Schaad tatsächlich etwas ganz Neues. Kein Bodyswitch-Humor begeistert sich an schräger Situationskomik, die zwangsläufig eskalieren muss. Die bereitwilligen Klienten werden auch nicht an sonderbare High-Tech-Gerätschaften geschnallt – keine in der Luft schwebenden Bildschirmprojektionen werden von auf mysteriöse Weise geschulten Kennern dirigentengleich bedient. Hier, in dieser rätselhaften Idylle, kann und soll man sich zumindest reinwaschen – um danach einem Prozess einzuwilligen, der es ermöglichen soll, die Welt mit fremden Augen zu sehen. Für dieses Abenteuer hat sich das Paar Leyla und Tristan bereiterklärt, natürlich nichts ahnend, in welcher Haut sie wohl die nächsten zwei Wochen wohnen werden. Danach soll es wieder zurückgehen in die eigenen vier Wände. Leyla verspricht sich davon einen Ausweg aus ihrer Depression, während Tristan der ganzen Methodik eher skeptisch gegenübersteht. Und doch wird es passieren: die beiden tauschen mit dem Ehepaar Fabienne und Mo: grundverschiedenen Persönlichkeiten mit ganz anderem – körperlichen wie geistigen – Innenleben. Man kann sich schon denken, dass die Grenzerfahrung auch so manche grenzwertige Situation mit sich bringt, die den Wunsch von zumindest einem der vier, wieder zurück in vertraute Gefilde zu gelangen, auslösen wird. Doch was, wenn die anderen, die in solchen Fällen mitziehen müssen, gar nicht mehr wechseln wollen?

Würde ich selbst so einen Körpertausch vollziehen wollen? Wenn, dann vielleicht nur kurz, allerdings keine zwei Wochen. Unheimlich ist das Ganze allemal, dafür aber legt dieser Vorgang allerlei grundsätzliche Überlegungen bloß, die weit über das Streben nach gegenseitiger Wahrnehmung in der Partnerschaft hinausgehen. Mit Newcomern wie Alex Schaad, der gemeinsam mit seinem Bruder Dimitrij dieses außerordentlich durchdachte Drehbuch verfasst hat, sind im Independentkino Innovationen garantiert. Aus meiner Haut ist eines dieser besonderen Highlights, die es in ihrer Entstehung als nicht notwendig erachtet haben, nach links oder rechts zu blicken. Die sich nicht an anderen Werken bereits etablierter Filmemacher orientieren müssen, sondern ihr eigenes kreatives Selbstbewusstsein an den Tag legen möchten. Sowas muss unterstützt werden – vor allem dann, wenn Werke wie diese so gelingen wie vorliegende Science-Fiction, die sich souverän auch in ganz anderen Genres aufhalten wollen, wie zum Beispiel in jenem des Beziehungsfilms. Das ausgesuchte Ensemble, darunter Mala Emde und Jonas Dassler (Das schweigende Klassenzimmer), zieht auch klipp und klar die charakterlichen Grenzen zueinder. Dadurch gelingt es den Darstellern auch, den jeweils anderen Filmcharakter zu übernehmen, wenn dieser im „falschen“ Körper steckt. Potenzielle Verwirrung fällt hier gänzlich weg, das unterstützt Schaad auch mit einer entschleunigten Inszenierung, die am Ende des nicht unbedingt düsteren, aber komplentativen Dramas die eigene wertvolle Conclusio formuliert: Dass Geist und Körper untrennbar miteinander verbunden sind. Dass die inneren Werte niemals alles sind, aber das Wichtigste. Dass diese aber, eingebettet in ihrer biochemischen Materie, das Produkt viel zu vieler Prozesse sind, die das Wunder der Einzigartigkeit eines jeden von uns definieren. Dass dabei die Frage nach sexueller Orientierung auch noch gleich mit ins Boot geholt wird, ist ein positiver, aber fast schon zufällig generierter Nebeneffekt.

Aus meiner Haut (2022)

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

DAS ABENTEUER DES UMSTEIGENS

5/10


thelastbus© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2020

REGIE: GILLIES MACKINNON

CAST: TIMOTHY SPALL, PHYLLIS LOGAN, GRACE CALDER, CELYN JONES, IAIN ROBERTSON, BEN EWING, COLIN MCCREDIE U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die wohl am tiefsten hängenden Mundwinkel der Filmgeschichte: Timothy Spall kann diesen Titel getrost an seine Fahnen heften. So muss Mann einmal dreinblicken wie der Brite in seiner Solo-Performance Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr. Im Übrigen: ein ziemlich langer Titel für einen relativ kurzen Film, dafür aber ist die Reise, der wir hier beiwohnen dürfen, lang genug, also relativiert sich das wieder. Im englischen Original heißt das Werk ohnehin nur The Last Bus, wobei dieses eine letzte öffentliche Verkehrsmittel aus ganz vielen besteht, die jeweils bis zu ihrer Endstation zuckeln und den uralten Greis aus- und umsteigen lassen. Was hat er vor, dieser Mann, der doch lieber seinen Lebensabend auf der Veranda vor seinem Haus in gemütlicher Lethargie verbringen sollte wie Brian Dennehy in Driveways?

Timothy Spall spielt einen Witwer, dessen Liebe seines Lebens an Krebs verstorben ist, bevor beide noch jene Reise antreten wollten, die sie immer schon geplant hatten: Nämlich wieder dorthin zurück, von wo sie nach dem plötzlichen Kindstod ihrer Tochter aufgebrochen waren, um all die schlechten Erinnerungen und dunklen Wolken hinter sich zu lassen. Um mit dem Leben und seinem Ballast aber wirklich reinen Tisch zu machen, gehört auch der Mut dazu, sich der Tragik des Lebens zu stellen. Da muss Tom nun alleine ran. Ausgerüstet mit einem kleinen Koffer und wackeligen Schrittes tourt er von Haltestelle zu Haltestelle und fällt bald zahlreichen Fahrgästen auf, die mit ihren mobilen Endgeräten das seltsame und manchmal aber auch bravouröse Verhalten des gebrechlichen Kauzes dokumentieren und veröffentlichen. Will der das denn? Zumindest fragt ihn keiner. Doch wo kein Kläger da kein Richter, und der alte Tom hat von Handys und all dem Social Media-Kram sowieso keine Ahnung. Das sind Dinge, die für ein Leben wie das seine wenig relevant sind.

Für den Film selbst hat der versteckte Ruhm des zunehmend immer gebrechlicher werdenden Tom genauso wenig Bedeutung. Ob Follower oder Fans, ob Roadmovie-Jünger oder die Willkommensgruppe am Ende des Weges – vielleicht will Regisseur Gillies MacKinnon (u. a. Marrakesch mit Kate Winslet) nur ganz klar Stellung beziehen, wenn es darum geht, im Ranking der wirklich wichtigen Dinge im Leben Social media ganz nach hinten zu reihen. Wen schert es schon, ob andere beim Aussteigen aus dem Bus Beifall klatschen, ohne zu wissen, worum es eigentlich geht. Da ist ganz viel Trauer, die Timothy Spall mit sich herumträgt, als würde ein zenterschwerer Fels auf seinen Schultern lasten. Je weiter der Weg, desto schwerer wird die Last. Spall ächzt und stolpert und wackelt seinen Weg entlang, und wenn er nicht, vorgebeugt und verbittert, vor sich hin trottet, bleibt in der Geborgenheit öffentlicher Busse Zeit für ein Schläfchen. Bei Spall ist nicht klar, wie sehr der Zahn der Zeit an dem Mann bereits tatsächlich genagt hat und was gespielt ist: Zu glauben ist ihm alles – der arthritische Gang, das Husten und Spucken, der unendlich traurige Blick. Spall spielt nicht, er steckt bis über beide Ohren in dieser fiktiven Figur und lässt ganz vergessen, dass die meisten ihn eigentlich aus dem Harry Potter-Universum kennen, als er „Wurmschwanz“ Pete Pettigrew gegeben hat. Das ist auch schon eine Ewigkeit her, und Spall ist zumindest in diesem Film ewig älter geworden.

Der Engländer, der in einen Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr will dank seines deutschen Titels all jene ins Kino locken, die schon mit dem Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand ihre Freude hatten. Sie werden enttäuscht sein. MacKinnons Film birgt wenig Humor, keine sozialpolitischen Seitenhiebe und Leichtigkeit ist aufgrund bereits erwähnter steinerner Schulterlast etwas für Rad-, nicht aber für Busfahrer. Joe Ainsworths Drehbuch ist ein geradliniges Rührstück, das nichts sonst notwendig hat außer Timothy Spall, der genauso gut mit einem Marsch durch eine menschenleere Postapokalypse dasselbe Ziel erreicht hätte. All die peripher auftretenden Begegnungen sind für Spalls Figur so bereichernd wie Social Media. Von dieser Flüchtigkeit lässt sich auch MacKinnon anstecken. Und legt keinerlei Wert darauf, aus den alltäglichen Miniaturen, die die Straße säumen, irgendeinen Mehrwert zu ziehen.

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr