Land of Bad (2024)

NICHT OHNE MEINE DROHNE

4/10


land-of-bad© 2024 capelight pictures


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: WILLIAM EUBANK

DREHBUCH: DAVID FRIGERIO, WILLIAM EUBANK

CAST: RUSSELL CROWE, LIAM HEMSWORTH, MILO VENTIMIGLIA, LUKE HEMSWORTH, RICKY WHITTLE, DANIEL MACPHERSON, CHIKA IKOGWE, LINCOLN LEWIS, GUNNER WRIGHT U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Das war noch was, als der unzerstörbare Chuck Norris gemeinsam mit Lee Marvin im pyrotechnisch versierten Achtziger-Jahre Actiontrash Delta Force den Bösen so richtig einheizen konnte. Den Videotheken wurden zu dieser Zeit regelrecht die Türen eingerannt, Action von damals mit den ganzen späteren Expendables-Haudegen auf bis zur Unkenntlichkeit abgespulten Kassetten, deren mangelnde Qualität aber nicht die Freude nahm, exklusives Material, das sonst keiner auf den beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen sah, bei Dosenbier und Chips und ohne viel Hirnaktivität sichten zu können. Solche Action gibt es heutzutage nicht mehr. Und das ist gut, denn die Zeit des naiven Hurra-Patriotismus und moralbefreiter Rundumschläge ist vorbei. Die Delta Force-Spezialeinheit ist es nicht, sie treibt sich immer noch im Dschungel herum, doch diesmal ist es nicht Chuck Norris, der wortkarg das Feuer eröffnet und maximal eine Schramme davonträgt. Diesmal ist es der zukünftige „Witcher“ Liam Hemsworth, Bruder des deutlich heller im Rampenlicht stehenden Chris Hemsworth, der mit Tyler Rake sein eigenes Franchise gefunden hat. Als einer, der je nach Auftrag zu Unrecht kasernierte Leute raushaut, weiß er sich auf Netflix formschön in Szene zu setzen. Diese Filme geben, was die Beanspruchung der Physis betrifft, einiges her, doch wie sieht es mit Land of Bad aus? Kann Liam seinem Bruder das Wasser reichen?

Diese reuelose, unordentlich aufgeräumte Ära des Krawall-Genres könnte mit Land of Bad eine ins neue Jahrtausend katapultierte Entsprechung gefunden haben, denn sieht man mal vom Auftritt Russel Crowes als Drohnen-Pilot im geschmacklos bunten Hawaiihemd ab, wecken der Dschungel und die darin befindlichen Spezialisten, die eben als Delta Force Team genau das machen sollen, was Chris Hemsworth schon gemacht hat: nämlich Leute raushauen, nostalgische Gefühle. In diesem Fall muss die knallharte Charge auf den Philippinen einen CIA-Agenten aus den Fängen der Terrormiliz Abu Sayyaf befreien. Unter diesen bis an die Zähne bewaffneten, kernigen Stereotypen, die mit routinierter Lässigkeit den Elite-Tiger raushängen lassen und jede Sekunde eigentlich damit rechnen müssten, dem Killerinstinkt eines Predator zum Opfer zu fallen, mischt auch noch ein dritter Hemsworth-Sprössling mit: Es ist Luke, seines Zeichens farblos und generisch wie alle anderen, die alsbald schon mit einem Hinterhalt rechnen müssen, der fast die ganze Einheit dezimiert – bis auf Liam nämlich, der sich glücklich schätzen kann, Russel Crowe an der Hand zu wissen, der mit seiner raketenbestückten Drohne weit weg vom Geschehen fürs Reinemachen sorgt und das große Ganze im Überblick behält. Als ungleiches Gespann ackern sich die beiden also durch den Dschungel respektive über den Bildschirm. Die bösen Philippinos beißen ins Gras, vieles explodiert, Liam braucht bald dringend einen Arzt.

Land of Bad ist der weitaus zeitgemäßere Titel statt Delta Force 4 (denn drei Teile gibt es schon), unter Land of Bad könnte man auch einen düsteren Politthriller vermuten, doch so weit würde ich nicht gehen. William Eubank, dessen Geniestreich The Signal schon einige Jährchen zurückliegt, setzt, ohne eine eigene Handschrift auszuarbeiten, nach Kristen Stewarts Tauchgang Underwater auf die sichere Bank eines Actionfilms und meint dann doch, mit Charakterkopf und Oscarpreisträger Russel Crowe seiner Arbeit ein gewisses Alleinstellungsmerkmal angedeihen zu lassen. Da ist natürlich was dran, und das Zusammenspiel von zwei Männern, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten ums Überleben kämpfen, hat Potenzial, auch wenn Eubank genau dieses in seiner Entfaltung immer wieder selbst unterwandert, indem er das Konzept eines konzentrierten Handlungsfadens durch das Mitmischen lästiger Faktoren verwässert und Liam Hemsworth wohl nicht zutraut, mehr zu empfinden als nur Schmerz. Das hat zur Folge, dass die Action zwar sitzt und einige State of the Art-Zuckerl in die tropenfeuchte Botanik geworfen werden – griffige Figuren bleiben aber Mangelware und sind verantwortlich für ein gewisses Déjà-vu-Gefühl.

Alles schon mal so gesehen? Ja natürlich, und noch dazu weitaus einprägsamer. Russel Crowe bleibt als gemütlicher Joystick-Zampano unter dem Radar, und nimmt man sich einen ganz anderen Film mit dieser Thematik zu Brust – in diesem Falle Eye in the Sky – lässt sich erkennen, um wie viel mehr Flächenbrand Gavin Hoods hochspannender Drohnenthriller entfacht als dieser hier. Man muss aber berücksichtigen: Der eine ist ein moderner Kriegsfilm mit Tiefgang, der andere hegt als Dschungel-Action keinerlei Anspruch auf Mehr.

Land of Bad (2024)

There’s Something in the Barn (2023)

ZORN DER WICHTEL

5/10


TheresSomethingInTheBarn© 2023 capelight pictures


LAND / JAHR: NORWEGEN 2023

REGIE: MAGNUS MARTENS

DREHBUCH: ALEKSANDER KIRKWOOD BROWN

CAST: MARTIN STARR, AMRITA ACHARIA, KIRAN SHAH, ZOE WINTHER-HANSEN, TOWNES BRUNNER, CALLE HELLEVANG LARSEN, HENRIETTE STEENSTRUP, PAUL MONAGHAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Kurz vor Weihnachten ein neues Leben zu beginnen ist kein gut gewählter Zeitpunkt. Zu Weihnachten ist das Vertraute gerade recht, da will man’s gemütlich haben, will sich besinnen, und nicht die Zeit mit Unerwartetem verbringen, das plötzlich ins geerbte Haus schneit. Diese Unterkunft besaß einst der Onkel des nach Amerika ausgewanderten Bill (Martin Starr), der einem Brand in seiner Scheune zum Opfer fiel. Am Anfang des Films wird uns Zusehern sofort klar: Was da in dieser Bretterbude bereits den Oheim zur Weißglut trieb, soll auch der nächsten Generation zum Verhängnis werden. Irgendetwas ist da in der Scheune, so der übersetzte Titel dieser Horrorcomedy, die sich auf ganz gemütliche Weise den Mythen und Legenden Skandinaviens widmet und diese mit einem Home Invasion-Szenario in Verbindung bringt, welches wir alle aus den Gremlins-, Critters– und Zombie-Franchise kennen. Ob There’s Something in the Barn auf irgendeine Weise Althergebrachtes auf neue Wege bringt? Mitnichten.

Dieses neu erworbene Domizil samt Scheune liegt inmitten einer verschneiten Mutter Natur – etwas Schöneres kann man sich rund um Weihnachten gar nicht wünschen. So meinen es zumindest Mama und Papa – die pubertierende Teenager-Tochter sehnt sich nach dem urbanen Jet-Set und verbarrikadiert sich todunglücklich in ihrem Zimmer, der jüngere Sohn aber hat ein Händchen fürs Paranormale – und knüpft Kontakt mit einem wichtelartigen Elf, der in besagter Scheune haust. Mit etwas Geschick und Einfühlungsvermögen lassen sich Wesen wie diese leicht manipulieren und zu gutmütigen Heinzelmännchen abrichten – wenn man darauf achtet, gewisse Parameter einzuhalten. Natürlich geht das schief. Gerade zu Heiligabend, wenn Papa aufgrund eines misslungeneren Festtagsmenüs die vom Sohn vorbereitete Hafergrütze verputzt, die eigentlich für den Elf bestimmt war, setzt es statt Süßem eben Saures. Wie wütend Wichtel dabei werden können, ist bereits aus dem Märchen Schneeweißchen und Rosenrot bekannt, wenn der Bart einer ganz ähnlichen, zwergenähnlichen Gestalt im Stamm eines gefällten Baumes festhängt. So richtig rabiat wird auch dieser kleine Knilch hier, und wenn schon der Hass auf die undankbare Menschheit groß genug ist, lässt sich dieser auch mit anderen teilen. Es dauert nicht lange und mordlüstern schnaufende Zipfelmützenträger stürmen das traute Heim.

Bei den Gremlins wäre es ein leichtes gewesen, die kleine grüne Apokalypse aus schabernaktreibenden Langohren zu vermeiden. Auch in Magnus Martens alles anderen als stillen Nacht ist der Zorn der Wichtel nur der Quotient aus fehlendem Respekt und mangelnder Anpassungsfähigkeit in einem Land, in welchem manche Dinge eben anders laufen als in Übersee.

Exzentrische Fantasy, die mit dem Horror kokettiert und sich in das streng saisonale Genre des Weihnachtsfilms einschleicht, sind ein gefundenes Fressen für Leute, die der schönsten Zeit des Jahres gerne auch noch eine metaphysische Ebene abgewinnen wollen, die weniger mit Nächstenliebe und Familiensinn zu tun hat. Hier mag das nicht ganz ungerechte Finstere, das sich allerdings dazu bekennt, ohne Licht nicht zu existieren, mangelnde Tugend bestrafen, wie Knecht Ruprecht oder der gute alte Krampus. Des Menschen Gier, des Menschen Unachtsamkeit – sie sind die Beweggründe für manch Monströses aus missachteten Legenden, das die uns bekannte Realität heimsucht. Krampus zum Beispiel wird zum schneestöbernden Mindfuck, die skandinavische Weihnachtsgeschichte Rare Exports – einer meiner Lieblinge – lässt den Ur-Weihnachtsmann auf lakonische und schwarzhumorige Art und Weise von der Leine. Viel mehr gibt’s da eigentlich nicht, alles weitere gerät zu profaner Action. There’s Something in the Barn ergänzt zwar das Subgenre der sinistren Weihnachtsfantasy auf unmissverständliche Weise, bleibt aber hinter den Erwartungen zurück. Wichtel wüten zu lassen ist eine Sache – wie der Mensch darauf reagiert eine andere. So ist der Konflikt zwischen magischer und realer Welt zwar anfangs mit reichlich Suspense ausgestattet, meidet später aber die feine Klinge. In grobem Hickhack werden die Wichtel übers Feld geschickt, zähes Schauspiel und banale Drehbuchseiten lassen das gewisse Etwas vermissen. Als schales Wintergemetzel vielleicht brauchbar, die geliebten Deko-Elfen im eigenen Heim haben letztendlich aber mehr Seele als jene, die zum Hammer greifen.

There’s Something in the Barn (2023)

Talk to Me (2022)

SHAKEHANDS MIT DEN TOTEN

7/10


TalkToMe© 2023 capelight pictures


LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2022

REGIE: DANNY & MICHAEL PHILIPPOU

DREHBUCH: BILL HINZMAN, DANNY PHILIPPOU

CAST: SOPHIE WILDE, ALEXANDRA JENSEN, JOE BIRD, OTIS DHANJI, MIRANDA OTTO, ZOE TERAKES, CHRIS ALOSIO, MARCUS JOHNSON, ALEXANDRIA STEFFENSEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Einmal nur einen Blick ins Jenseits erhaschen. Wäre das nicht was? In Flatliners reizte diese Vorstellung eine Gruppe junger Medizinstudenten so sehr, dass sie den Wahnsinn beging, sich selbst sterben zu lassen – um dann wieder reanimiert zu werden. Doch das Diesseits hat Regeln und Grenzen. Man sollte schon mit einer gewissen Endgültigkeit das Zeitliche segnen, um in den Genuss der Wahrheit am anderen Ufer des Styx zu kommen. Der Fährmann Charon fordert nicht umsonst einen Tribut, und wenn dann manche wieder umkehren, um daheim zu prahlen, wie cool das nicht war, das Licht am Ende des Tunnels gesehen zu haben, so ist das fast schon als Missbrauch einer „göttlichen Ordnung“ zu verstehen. Überdies bringt so eine Vermengung der Dimensionen einiges in Unordnung. Nebenwirkungen sind die Folge, Geister lassen sich sehen, Albträume plagen die Probanden.

Auf ähnliche Weise treibt es die Partygesellschaft im vorliegenden australischen Horrorfilm ziemlich bunt. Doch diese jungen Leute hier sind weder Studenten noch streben sie eine noch so geartete wissenschaftliche Erkenntnis an. Für diese Jungs und Mädels ist das Spiel mit der Unterwelt sowas wie Activitiy für die Generation Scheißdrauf. Die auf Social-Media-Kanälen jeden Schwachsinn zum Trend macht und dabei ablacht, als gäbe es kein Morgen mehr. Statt Flaschendrehen heißt es diesmal Händeschütteln, was erstmal nicht so spannend klingt, doch in Wahrheit ist diese Hand, die es zu berühren gilt, eine magische. Genauer gesagt die eines verblichenen Nekromanten, dessen Kräfte aber immer noch in seinen Extremitäten stecken, die man ihm abgenommen hat. Dieser mumifizierte Griffel also steht auf dem Couchtisch im Eigenheim von irgendeinem Young Adult, der das Ganze natürlich filmt und online stellt. Die Challenge ist, diese Hand zu ergreifen und die verheißungsvollen Worte Talk to Me zu rezitieren. Sodann erscheint aus dem Nichts ein Geist, der nicht weiß, wie ihm geschieht, der aber die Möglichkeit in Betracht zieht, wieder mit seiner heißgeliebten Welt zu kommunizieren, die er einst verlassen hat müssen.

Es wäre kein Horrorfilm, würden diese Toten nicht in ihrem ramponierten Letztzustand erscheinen, von Krankheit und Fäulnis gezeichnet oder schwer verletzt. Milchige Augen starren auf den mutigen Diesseitler, der seine Grenzerfahrung noch mit den Worten Ich lass dich rein so weit steigern kann, dass der Tote in den Körper des Lebenden dringt. Es ist, als würde man sich einen nassen Socken mit nur einer Hand anziehen – bei manchen gelingt das leichter, bei manchen wird’s zur Tortur. Auch die junge Mia (Sophia Wilde), deren Mutter an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben ist, pfeift auf die Ordnung der Dinge und triggert das Chaos. Jedes Mal ist das Triezen der Toten ein Kick für alle. Es wird gestaunt, gealbert und verarscht. Und irgendwann will auch der kleine Bruder von Mias bester Freundin ran. Dass Kinder wohl eher davon lassen sollen, sagt schon die Vernunft, doch davon besitzen all die Anwesenden nicht viel. Der Trip wird zum Desaster, die Toten finden einen Weg zu bleiben. Es muss nur der lebende Körper sterben, um übernommen zu werden.

Von Social Media für (oder gegen) Social Media und darüber hinaus: Die Brüder Danny und Michael Philippou, die mit ihrem zweifelhaften Youtube-Kanal RackaRacka immer wieder für Aufsehen und Kontroversen sorgen, haben ihren ersten Spielfilm gedreht – und lassen mit ihrem Die-Geister-die- ich-rief-Grusel auch wirklich nichts anbrennen. Wo Flatliners noch eher im Spielfeld der Mystery zu verorten war, spielt Talk to Me die Nihilismus-Karte aus. Dabei ist der Thriller bei weitem nicht nur darauf aus, sein Publikum zu erschrecken und mit blutigen Gewaltspitzen zu verstören. Ihren Film treiben so manche seelische Traumata um, die mit Verlustangst, Trauer und Verantwortung zu tun haben. Gerade letzteres, nicht nur gemünzt auf das digitale Sodom und Gomorrha, auf das wohl jeder noch so grüne, unbedarfte Halbwüchsige Zugriff haben kann, wird zur großen Gretchenfrage in einer Dekade, in der alles gefakt, alles erlaubt und Respekt dem Spaß im Wege steht. Den dahinterstehenden Hedonismus verbindet ein Gefühl des Abfeierns bis zum Weltuntergang, denn der, könnte man meinen, steht kurz bevor. In diesem emotionalen Dunst aus Alkohol, frechen Sprüchen und Selbstmitleid haben die Toten leichtes Spiel. Man könnte nun vermuten, dass die im Jenseits böse sind, doch sie werden getrieben von einem radikalen Eigennutz, der beunruhigt. Immer wieder dringt Talk to Me in eine panikmachende Düsternis vor, die vor allem die Furcht vor einer Sache verbreitet: dem Alleinsein.

Einsamkeit ist hier der wahre Horror. Einsamkeit in vielerlei Gestalt. Entweder, nicht verstanden, nicht gehört oder im Stich gelassen zu werden. Jeder stirbt für sich allein – und bleibt es schließlich auch. Die Isolation im Dies- und Jenseits ist das Entsetzen, weniger die Bilder der gruseligen Toten, die in perfektem Make-up die Lebenden heimsuchen. Dazwischen immer wieder Skizzen eines Psychogramms von Protagonistin Mia, die ihren Trip in oder durch die andere Welt zum Kreuzweg werden lässt. Talk to Me ist somit nichts für schwache Nerven, ein Horrordrama mit Gewicht, aber nicht schwermütig. Stattdessen neugierig, in offenen Wunden bohrend und in den Abgrund blickend. Der blickt bereitwillig zurück.

Talk to Me (2022)

DogMan (2023)

MIT HUNDEN EWIG LEBEN

7/10


Dogman_Besson© 2023 capelight pictures


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: LUC BESSON

CAST: CALEB LANDRY JONES, JOJO T. GIBBS, GRACE PALMA, CLEMENS SCHICK, CHRISTOPHER DENHAM, LINCOLN POWELL, ALEXANDER SETTINERI, MICHAEL GARZA, JOHN CHARLES AGUILAR, MARISA BERENSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Aus den streitbaren jungen Models, rekrutiert aus prekären Verhältnissen, die allesamt entweder eine Ausbildung zur reuelosen Superkillerin oder ein Bad im Drogencocktail genossen haben, ist nun jemand ganz anderer geworden. Eine Art Joker, ein Arthur Fleck jenseits des DC-Universums, in welchem es kein Gotham und keinen Batman gibt, aber Gestalten, die in den Filmen von Luc Besson liebend gerne vorkommen. Betrachtet man sie genauer, so sind diese Subjekte bis fast zur Parodie überzeichnete Schurken und Missetäter, die an den Fuchs und den Kater aus Collodis Pinocchio erinnern. Auch sie hätten ihren Platz in einem Comic-Universum, in einem von Besson eigens errichteten, in dem auch Nikita, Lucy, Anna und Angel-a ihren Frauen stehen. Dieser Arthur Fleck, misshandelt, verstoßen, gequält und alleingelassen, könnte zum Ober-Antagonisten einer ganzen Welt werden. Die Schminke im Gesicht hat er schon, doch so einsam wie Joaquin Phoenix in seiner nachhaltig wirkenden Oscar-Rolle ist Douglas Munrow allerdings nicht. Vielleicht hält ihn gerade dieser Umstand davon ab, sich der Wandlung zum Bösewicht hinzugeben und das Volk zur Revolution anzustacheln. Munrow umgeben treuherzige, hechelnde Vierbeiner aller Rassen – ob groß, ob klein, ob zottelig oder mit Kurzhaar: Als DogMan trägt dieser Lebenskünstler seinen Namen zu Recht. Als Kind von seinem gewalttätigen Vater (Clemens Schick mit Brutalo-Schnauzer) in einen Käfig voller ausgehungerter Kampfhunde gesperrt, wird dieser noch zu allem Überfluss von seinem Erzeuger in den Rollstuhl geschossen, als sich die Lage dramatisch zuspitzt.

Mit Stützhilfen an den Beinen und einer unbändigen Liebe zu den Tieren, die ihm in seiner Zeit der Entbehrung zur Seite standen, schleppt sich Munrow durch ein enttäuschendes Leben, bevölkert mit Menschen, die ihm die kalte Schulter zeigen. Dennoch gibt’s wenige Ausnahmen, so zum Beispiel die Schauspielerin Salma, für die der noch junge Douglas romantische Gefühle hegt. Sie schenkt ihm auch den nötigen Willen, nicht unterzugehen in einer Welt, die nichts für Krüppel übrighat. Einzig der beste Freund des Menschen, dessen einziger Schwachpunkt das blinde Vertrauen zu eben jenen darstellt, wird in großer Vielzahl zur Privatarmee einer Dragqueen, die das Glück hat, einmal die Woche in einem Varieté Klassiker von Edith Piaf oder Marlene Dietrich zu schmettern – alles sehr professionell und unter Gänsehautgarantie. Bis es so weit kommt, und der DogMan Kontakt mit einer Unterwelt macht, die, wie schon erwähnt, in grotesker Überzeichnung donnernden Schrittes den Respekt der Schwachen erzwingt. Ob Munrow letztlich wirklich zu dieser Art Mensch zählt, die sich unterwerfen lässt?

Besson macht die Probe aufs Exempel – oder besser gesagt: die Probe auf eine ins Irreale abdriftende Fabel, die längst schon als Großstadtmärchen zwischen Oliver Twist und Matteo Garrones leicht zu verwechselnder Macht- und Gewaltstudie Dogman durchgehen kann. Der italienische Thriller aus dem Jahr 2018 handelt von einem, der den Mächtigen dienen muss, um zu überleben. Doch dann kommt die Wende, wenn David gegen Goliath zu siegen versteht. Bessons Hunde-Oper (bei der man heilfroh ist, dass die Tiere alle weder sprechen noch wir deren Gedanken hören) frönt dabei weniger einem harten Realismus wie Garrone, sondern einer fast traditionellen Erzählweise aus Rückblenden, eingängigen musikalischen Ohrwürmern und tröstend naiven Verhaltensstudien jaulender Vierbeiner, die die Sprache der Menschen verstehen und wie auf magische Weise mental mit ihrem Meister verbunden sind. Dass sich Hunde so nicht verhalten – schon gar nicht, bevor sie zuschnappen – erscheint selbst mir als Nicht-Hundebesitzer relativ klar. Dass Besson gerne manche, fahrlässig anmutende Unwahrscheinlichkeiten toleriert, um das Psychogramm seiner leidensfähigen Märtyrerfigur auch zu Ende zu bringen, muss man geradezu akzeptieren.

Denn im Mittelpunkt steht einer, dessen Paraderolle längst überfällig war: Caleb Landry Jones. Die sanfte Stimme. Augen, die schon viel Schlimmes sehen mussten. Ein gezeichneter Körper, die Leidenschaft für Shakespeare und die Möglichkeit, wie Arthur Fleck jemand anderer zu sein. Ein gewisser ihm innewohnender Frieden, vor allem mit sich selbst, fasziniert auch das Publikum. Seine gottergebene Akzeptanz eines traurigen Lebens macht ihn zu Bessons bisher größtem Bajazzo, nämlich ohne Wut im Bauch – einer, der zwar niemals im Selbstmitleid versinkt, der am Ende aber das deftige Pathos sucht, um seine Bestimmung zu besiegeln.

DogMan (2023)

Visitor from the Future (2022)

ATOMKRAFT? NEIN, DANKE!

5/10


VisitorsFromTheFuture© 2023 capelight pictures


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: FRANÇOIS DESCRAQUES

CAST: FLORENT DORIN, ENYA BAROUX, ARNAUD DUCRET, RAPHAËL DESCRAQUES, SLIMANE-BAPTISTE BERHOUN U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Kennt irgendjemand von Euch die französische Webserie Le Visiteur du Futur? Bereits in mehreren Staffeln verfügbar, handelt diese komödiantische Science-Fiction von einem nicht näher benannten Zeitreisenden, der als Besucher durch die Epochen reist, um Schlimmstes zu verhindern. Verfolgt wird er dabei stets von den Handlangern einer so obskuren wie militanten Zeit-Brigade, die, hochgerüstet wie extraterrestrische Kampfroboter, dem Chaoten das Handwerk legen will, manipuliert dieser doch bereits festgelegte Vergangenheiten, nur um eine bessere Welt zu erschaffen.

Gesehen habe ich davon keine einzige Folge – immerhin aber dieses als Spielfilm komprimierte Special mit genau jenem Cast, der auch in der Serie mitwirkt. Es lässt sich dabei ganz genau erkennen, wodurch sich die Macher ihres manchmal recht klamaukigen Zeitreise-Universums inspirieren ließen, ohne aber allzu offensichtlich abzupausen. Obwohl: Gesagt muss dennoch werden, dass das Subgenre der Zeitreisen langsam für eine vorübergehende Verschnaufpause pochen sollte, denn vergleicht man jüngste Produktionen miteinander – und dabei ist es egal, ob es nun Serien oder Filme sind – gibt es ein ordentliches Gefälle, was die Genauigkeit und den nötigen Ernst anbelangt, mit welchem man sich dem Thema Zeit annehmen will. Da führt momentan die deutsche Erfolgsserie Dark so ziemlich alles an, was es derzeit gibt, vor allem anfangs hatten jene Überlegungen zur Manipulation der vierten Dimension ordentlich Hand und Fuß. Am liebsten denkt man natürlich auch an den Klassiker Zurück in die Zukunft, der niemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet hat, dass Multiversen möglich sind, sondern alles auf einer Zeitlinie geschehen ließ. In Visitor from the Future gibt es scheinbar auch nur eine Zeitlinie – und dennoch arbeitet François Descraques mit den Benefits multipler Existenzebenen, ohne sie näher beim Namen zu nennen.

Mit seinem Besucher durch die Zeiten schuf dieser so einen hyperaktiven Alleskönner wie Dr. Who, der ohne Tardis auskommt, sondern einfach auf Knopfdruck und ohne Zieleingabe überall hinkommt, wo er gerade hinwill. Diese Simplifizierung ist allerhand, mit Sicherheit dreist und auch erstaunlich selbstbewusst. Die Frage nach dem Wie lässt Descraques so sehr außen vor und unbeantwortet wie einen näher definierten Grund dafür, in der Zukunft auf einer mit Zombies bevölkerten Endzeit-Erde zu stoßen. In Visitor of the Future hat nichts eine wirkliche Ursache, und wäre Gott im Spiel, der ein Artefakt zurückverlangt, mit welchem man durch die Epochen springen kann wie einst eine Handvoll Zwerge, die unter Terry Gilliams Regie als Time Bandits bekannt wurden, könnte man das Ganze ja noch als Parodie verstehen, die sich der märchenhaften Fantasy mit Haut und Haaren verschrieben hat.

Dieser Film aber schert sich kein bisschen darum, ein logisches Konstrukt innerhalb seiner erdachten Welt aufzubauen. Abgefahren ist angesagt, und neben zahlreichen Genre-Versatzstücken und stilistischen Zitaten, angefangen von I am Legend über Dark bis zu Mad Max ist dem immerhin gut aufgelegten Team nur eines wichtig: Das Streben nach erneuerbaren Energien und dem Ende der Atomkraft. Was ich bis zu diesem Punkt herausgezögert habe, ist schließlich die Synopsis des Films.

In einer alternativen Gegenwart stehen alle Lichter auf grün, wenn es darum geht, ein mit offensichtlichen Mängeln ausgestattetes Atomkraftwerk in Betrieb zu nehmen. Die Tochter des Konstrukteurs, Alice Alibert, schließt sich dem Aktivismus an und geht sogar so weit, den Arbeitslaptop des Vaters zu entwenden, damit dieser seine Arbeit nicht mehr zu Ende bringen kann. In dieser besagten Nacht stößt die junge Frau auf den eingangs erwähnten Besucher mit Fliegerbrille und Trenchcoat, der genau denselben Plan verfolgt. Beide, einschließlich des aus dem Schlaf geholten Vaters, werden ins Jahr 2555 katapultiert, in welchem sich die Fremden mit einer Postapokalypse auseinandersetzen müssen, die Vaters Atomkraftwerk seinerzeit verursacht hat.

Alles in allem kann der ganze Film als ökobewusste und zivilisationskritische Science-Fiction-Komödie betrachtet werden, die aber letzten Endes tut, was sie will und all ihre dadurch entstandenen Widersprüche beschwichtigend beiseite wedelt. Immerhin aber birgt der Film in seinem mehrminütigen Prolog, bevor das ganze Abenteuer beginnt, wohl die seit langem witzigsten Momente im Genre der Science-Fiction.

Visitor from the Future (2022)

Monstrous

ZU NAH AM WASSER GEBAUT

6/10


monstrous2© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: CHRIS SIVERTSON

CAST: CHRISTINA RICCI, SANTINO BARNARD, COLLEEN CAMP, LEW TEMPLE, NICK VALLELONGA U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Noch bevor Olivia Wilde mit ihrer zweiten Regiearbeit Don’t Worry, Darling die 50er-Jahre wieder mal als etwas erklärt hat, was nicht der ganzen Wahrheit entsprechen kann, weil die aufgeräumte Glückseligkeit dieser Hausfrauen-Epoche wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss vor allem für Frauen sein kann, begab sich bereits Ex-Wednesday Christina Ricci im himmelblauen Cadillac an die Grenzen ihrer Wahrnehmung: Monstrous nennt sich der Psychotrip, und es lässt sich mit diesem Titel bereits erahnen, wohin das führt. Als monströs lässt sich allerdings auch das Sein hinter dem Schein von Florence Pughs Desperate Housewives-Dasein definieren – also führen die Vermutungen auch für diesen Film in verschiedene Richtungen. Das Key Visual zur Bewerbung des Schauerdramas gibt allerdings mehr preis, als uns Zusehern wohl lieb gewesen wäre, doch es gibt dennoch so einiges in der Twilight-Zone dazwischen, dass wir vielleicht nicht ganz so vermutet hätten.

Zumindest erweckt alles mal den Eindruck, als wäre lediglich Christina Ricci als alleinerziehende Mutter, die in einem Haus am Rande einer Kleinstadt in Kalifornien Zuflucht sucht, in dieser pastelligen 50er Jahre-Blase gefangen. Beide – Mutter und Sohn – wollen den Launen des gewalttätigen Ehemannes entgehen und hier, in dieser Einschicht nahe eines Weihers ein neues Leben beginnen. Dummerweise haben Lauras Eltern dem Gatten die neue Anschlussnummer verraten – also meldet sich dieser immer wieder und bittet um Vergebung. Ein Umstand, der Laura aus ihrem Heile Welt-Setting holt. Und da ist dann noch ihr kleiner Junge, der in diesem alten Anwesen immer wieder unter Albträumen leidet und sich so gut wie sicher ist, dass in diesem Gewässer unweit des Hauses ein Monster lebt, dass sich allnächtlich ins Haus schleicht, um Cody zu quälen.

All diese Versatzstücke ergeben das abgerundete Bild einer Schauergeschichte, wie sie M. Night Shyamalan wohl erfinden würde oder vielleicht auch Guillermo del Toro. In Kreaturen aller Art ist letzterer sowieso schwer verliebt, und auch die Brücke vom Monströsen zum Übersinnlichen wurde nicht erst seit Crimson Peak geschlagen. In Monstrous vereinigen sich ebenfalls beide Komponenten, und es wäre aus meiner Sicht tatsächlich nicht ratsam, weitere Vergleiche heranzuziehen, denn auch wenn sich für Chris Siverstons Regiearbeit so manche vergleichbare Beispiele geradezu aufdrängen, würde jede weitere Erwähnung zu viel verraten. Ich kann nur so viel sagen, dass Christina Ricci als einsame, und natürlich auch desperate Hausfrau eine gute Figur macht. Ihr akkurates Erscheinungsbild in Szenen, die an Werbeplaketten damaliger Zeiten erinnern, als so manches hilfreiche Küchengerät neu auf den Markt kam, setzt einen verwirrenden Kontrapunkt zu einer schwer deutbaren Heimsuchung, die sich natürlich nicht auf Conjuring-Niveau begibt, das Herz nicht zum Rasen bringt und auch so gut wie keine Jumpscares auf Lager hat. Monstrous will etwas ganz anders erzählen, als nur verschrecken oder Geister herbeirufen, die es nicht gut meinen würden.

Die Geschichte nimmt trotz all des Phantastischen plausible Wendungen, um dorthin zu gelangen, wo Monstrous hinmöchte: zum etwas umständlich erzählten, aber ganz anderen Mutter-Sohn-Melodram, dass mit Traumata, Verlust und Erkenntnis zu tun hat. Dass sich aber an bereits etablierten und ruhmreichen Genreperlen bedient. Ungeniert zwar, aber auf eine Weise, die bereits Bekanntes geschickt zusammenmontiert. Und zwar so, dass man dem Film kaum vorwerfen kann, nicht genügend eigene Ideen gehabt zu haben.

Monstrous

Die geheime Tochter

DAS KIND MIT DEM BAD AUSSCHÜTTEN

7/10


diegeheimetochter© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

REGIE: MANUEL MARTÍN CUENCA

BUCH: MANUEL MARTÍN CUENCA, ALEJANDRO HERNÁNDEZ

CAST: IRENE VIRGÜEZ, JAVIER GUTIÉRREZ, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, JUAN CARLOS VILLANUEVA, MARIA MORALES, SOFIAN EL BENAISSATI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eltern haften für ihre Kinder. Und nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Minderjährige, die diesen Erwachsenen ihr Vertrauen schenken. Das zumindest tut die 15jährige Irene (Irene Virgüez), eine jugendliche Straftäterin, die von ihrem Freund, ebenfalls straffällig, geschwängert wird. Irene hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Und schon gar keine Lust, das Kind auch auszutragen. Womit denn? Und mit welchem Geld? Da hat Javier, einer der Jugendpsychologen aus der Anstalt, eine Idee: Was, wenn eine Hand die andere wäscht? Wenn Irene ihr Kind heimlich bei ihm daheim austrägt und dessen Frau dann so tut, als wäre es ihre eigene Geburt gewesen? Irene ist die Muttersorge los, und jene, die sowieso keinen Nachwuchs zeugen können, haben dann etwas, worauf sie sich freuen können. Das Mädel hat nichts zu verlieren, also willigt sie ein, nachdem sie Javier über alle Regeln, die während dieser Zeit der Schwangerschaft tunlichst befolgt werden müssen, aufklärt. Keine Besuche, keine Ausflüge ins Tal, keine Anrufe. Irene soll als flüchtig gelten und dann, nach neun Monaten, zufällig wieder gefunden werden.

Wir sehr kann man als psychologisch versierter Experte in Sachen Teenager auch nur annehmen, dass das, was eine Problemjugendliche wie Irene vertrauensvoll zusichert, auch neun Monate später noch Bestand hat? Natürlich gar nicht. Mädchen in diesem Alter können wankelmütig und launenhaft sein, lassen sich leicht beeinflussen oder ändern ihre Meinung so oft wie ihren Look. Wieso sollte das beim Kinderkriegen anders sein? Ist es schließlich nicht. Und das stößt Javiers Frau sauer auf, nachdem die Eltern nach mehreren Monaten Isolation einwilligen, dass Irene ihren Freund wiedersehen darf. Ein grundlegender, irreversibler Fehler, der das ganze freudig-hoffnungsvolle Konstrukt werdender Eltern und unbekümmerter Jugend in sich zusammenbrechen lässt.

Autorenfilmer Manuel Martín Cuenca spielt mit der Unreife junger Menschen und der Ratlosigkeit ob deren Zukunft. Volatile Entscheidungen kriechen wie Nebel auf eine spanischen Hochebene und errichten das Dilemma einer ausweglosen Lage, die nur unter Einsatz von Gewalt wieder hingebogen werden kann. Bis es soweit kommt, lässt sich Die geheime Tochter gerade so viel Zeit wie nötig, um die Charaktere in ihrer Risikofreude und Labilität ins Spiel zu bringen. Was eignet sich da besser als eine isolierte Ranch irgendwo in den Bergen – ein paar Meter weiter geht’s steil bergab ins Verderben. Ein Setting, geradezu perfekt für einen Thriller, der sich anfühlt wie aus der Feder Patricia Highsmiths. Die Zutaten: Psychologische Einengung, diktierte Isolation und der manipulative Sprech eigennütziger Erwachsener, die aus ihrer Arroganz weniger Erfahrenen gegenüber keine Kompromisse eingehen wollen. Doch die Rechnung, die sie Irene vorsetzen wollen, haben sie ohne den Instinkt einer Mutter gemacht. Cuenca setzt dabei auf volle Breitseite im Austragen eines Konfliktes, der clever konstruiert und grimmig genug erscheint, um ihn auf eine Länge von neun Monaten dehnen zu können. Vorglühen und Nachbrennen ist alles in diesem Hickhack rund um Selbstbestimmung, dem Missbrauch erzieherischer Verantwortung und jugendlichen Idealen.

Dabei geraten so manche Details zum Selbstläufer oder fast schon zur kleinen Nebenstory: Seit Stephen Kings Cujo oder dem Bluthund-Reißer Bullet Head gab es keine so furchteinflößenden Vierbeiner mehr. Wie sich Irene Virgüez als zäher Teenie mit diesen knurrenden Monstern auseinandersetzt, scheint fast schon ein Film für sich zu sein, ist aber das Sahnehäubchen auf einem europäischen Genrebeitrag, der die gefährliche Dynamik zwischen der Gönnerhaftigkeit des Wohlstands und der notgedrungenen Abhängigkeit sozial Benachteiligter bis in jede dunkle Ecke des abgesteckten Schauplatzes ausnutzt.

Die geheime Tochter

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

DAS ABENTEUER DES UMSTEIGENS

5/10


thelastbus© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2020

REGIE: GILLIES MACKINNON

CAST: TIMOTHY SPALL, PHYLLIS LOGAN, GRACE CALDER, CELYN JONES, IAIN ROBERTSON, BEN EWING, COLIN MCCREDIE U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die wohl am tiefsten hängenden Mundwinkel der Filmgeschichte: Timothy Spall kann diesen Titel getrost an seine Fahnen heften. So muss Mann einmal dreinblicken wie der Brite in seiner Solo-Performance Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr. Im Übrigen: ein ziemlich langer Titel für einen relativ kurzen Film, dafür aber ist die Reise, der wir hier beiwohnen dürfen, lang genug, also relativiert sich das wieder. Im englischen Original heißt das Werk ohnehin nur The Last Bus, wobei dieses eine letzte öffentliche Verkehrsmittel aus ganz vielen besteht, die jeweils bis zu ihrer Endstation zuckeln und den uralten Greis aus- und umsteigen lassen. Was hat er vor, dieser Mann, der doch lieber seinen Lebensabend auf der Veranda vor seinem Haus in gemütlicher Lethargie verbringen sollte wie Brian Dennehy in Driveways?

Timothy Spall spielt einen Witwer, dessen Liebe seines Lebens an Krebs verstorben ist, bevor beide noch jene Reise antreten wollten, die sie immer schon geplant hatten: Nämlich wieder dorthin zurück, von wo sie nach dem plötzlichen Kindstod ihrer Tochter aufgebrochen waren, um all die schlechten Erinnerungen und dunklen Wolken hinter sich zu lassen. Um mit dem Leben und seinem Ballast aber wirklich reinen Tisch zu machen, gehört auch der Mut dazu, sich der Tragik des Lebens zu stellen. Da muss Tom nun alleine ran. Ausgerüstet mit einem kleinen Koffer und wackeligen Schrittes tourt er von Haltestelle zu Haltestelle und fällt bald zahlreichen Fahrgästen auf, die mit ihren mobilen Endgeräten das seltsame und manchmal aber auch bravouröse Verhalten des gebrechlichen Kauzes dokumentieren und veröffentlichen. Will der das denn? Zumindest fragt ihn keiner. Doch wo kein Kläger da kein Richter, und der alte Tom hat von Handys und all dem Social Media-Kram sowieso keine Ahnung. Das sind Dinge, die für ein Leben wie das seine wenig relevant sind.

Für den Film selbst hat der versteckte Ruhm des zunehmend immer gebrechlicher werdenden Tom genauso wenig Bedeutung. Ob Follower oder Fans, ob Roadmovie-Jünger oder die Willkommensgruppe am Ende des Weges – vielleicht will Regisseur Gillies MacKinnon (u. a. Marrakesch mit Kate Winslet) nur ganz klar Stellung beziehen, wenn es darum geht, im Ranking der wirklich wichtigen Dinge im Leben Social media ganz nach hinten zu reihen. Wen schert es schon, ob andere beim Aussteigen aus dem Bus Beifall klatschen, ohne zu wissen, worum es eigentlich geht. Da ist ganz viel Trauer, die Timothy Spall mit sich herumträgt, als würde ein zenterschwerer Fels auf seinen Schultern lasten. Je weiter der Weg, desto schwerer wird die Last. Spall ächzt und stolpert und wackelt seinen Weg entlang, und wenn er nicht, vorgebeugt und verbittert, vor sich hin trottet, bleibt in der Geborgenheit öffentlicher Busse Zeit für ein Schläfchen. Bei Spall ist nicht klar, wie sehr der Zahn der Zeit an dem Mann bereits tatsächlich genagt hat und was gespielt ist: Zu glauben ist ihm alles – der arthritische Gang, das Husten und Spucken, der unendlich traurige Blick. Spall spielt nicht, er steckt bis über beide Ohren in dieser fiktiven Figur und lässt ganz vergessen, dass die meisten ihn eigentlich aus dem Harry Potter-Universum kennen, als er „Wurmschwanz“ Pete Pettigrew gegeben hat. Das ist auch schon eine Ewigkeit her, und Spall ist zumindest in diesem Film ewig älter geworden.

Der Engländer, der in einen Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr will dank seines deutschen Titels all jene ins Kino locken, die schon mit dem Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand ihre Freude hatten. Sie werden enttäuscht sein. MacKinnons Film birgt wenig Humor, keine sozialpolitischen Seitenhiebe und Leichtigkeit ist aufgrund bereits erwähnter steinerner Schulterlast etwas für Rad-, nicht aber für Busfahrer. Joe Ainsworths Drehbuch ist ein geradliniges Rührstück, das nichts sonst notwendig hat außer Timothy Spall, der genauso gut mit einem Marsch durch eine menschenleere Postapokalypse dasselbe Ziel erreicht hätte. All die peripher auftretenden Begegnungen sind für Spalls Figur so bereichernd wie Social Media. Von dieser Flüchtigkeit lässt sich auch MacKinnon anstecken. Und legt keinerlei Wert darauf, aus den alltäglichen Miniaturen, die die Straße säumen, irgendeinen Mehrwert zu ziehen.

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

The Innocents

NEHMT DEN KINDERN DAS KOMMANDO

6,5/10


theinnocents© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN, DÄNEMARK, GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH / REGIE: ESKIL VOGT

CAST: RAKEL LENORA FLØTTUM, ALVA BRYNSMO RAMSTAD, MINA YASMIN BREMSETH ASHEIM, SAM ASHRAF, MORTEN SVARTVEIT, KADRA YUSUF, LISA TØNNE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Schön, dass Kinder bereits in jungen Jahren ihrer Talente offenbaren. Da können Eltern gleich einhaken und mit dem Fördern beginnen, vorausgesetzt, der Nachwuchs legt wert darauf. In der Welt des fiktionalen Kinos gibt es aber schon seit jeher auch Fähigkeiten, die aus normalen Menschen letzten Endes Superhelden machen – oder die Geißel unserer Zivilisation. Das sind dann die klassischen Antagonisten, gegen die Superman, Batman oder die Avengers losziehen können – erwachsene Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Die auch nicht nur ans Jetzt denken, sondern auch an all die Konsequenzen, die sie vom Zaun brechen, würden sie über die Stränge schlagen.

Alles beginnt aber mit dem juvenilen Entdecken der eigenen Skills. Und wir können froh sein – wirklich heilfroh sein, dass das, was es im norwegischen Horrordrama The Innocents zu sehen gibt, nicht wirklich passieren kann. Denn wenn doch, wären Kinder an der Macht, die die Welt, so wie wir sie kennen, abschaffen könnten. Da bliebe uns nur noch zu hoffen, dass jemand, der ähnliche Kräfte besitzt, als Menschenfreund durchgeht und ein gewisses gesundes Verständnis für Gerechtigkeit und das Gute hat. Im Science-Fiction-Thriller Brightburn passiert das genau nicht. Ein Junge mit extraterrestrischen Superkräften hat Spaß am Bösen, und das scheinbar grundlos. Die Macht über alle anderen ist das einzige, was ihn antreibt. Helden auf der guten Seite bleiben hier aus. Und auch eine Schule wie die von Professor Xavier gibt es nicht. Das wäre zumindest mal ein Ansatz, um all jene, die nicht wissen, wohin mit ihrer Kraft, im Umgang mit diesen zu unterrichten. In The New Mutants zum Beispiel fristen elternlose Teenager in einem ominösen Waisenhaus ihr Dasein zwischen imaginären Albträumen und ärztlicher Kontrolle. Doch auch als Teenager ist man schon einen Schritt weiter, um ein gesünderes Verständnis für den Umgang mit anderen zu haben als hier, in diesem eiskalten Kinderfilm, der die illustren Fähigkeiten sämtlicher Mutanten aus sämtlichen Comicserien nur belächeln kann. All das scheint wie ein Kindergeburtstag, während das echte Leben kleine Teufel gebiert, die Damien aus Das Omen das Wasser reichen können, ohne dabei aber auf den Leibhaftigen selbst zurückgreifen zu müssen.

The Innocents von Eskil Vogt, Drehbuchautor von Der schlimmste Mensch der Welt und Thelma von Joachim Trier, bleibt zumindest letzterem thematisch treu, begibt sich aber auf den unschönsten und unwirtlichsten Pfad, den man nur einschlagen kann, will man von paranormalen Fähigkeiten und deren Nutzern berichten, die noch weit davon entfernt sind, Verantwortung für sich und ihre Umwelt zu übernehmen. Dabei stoßen nicht alle Kinder, die hier zwischen den Wohnhäusern einer Siedlung nahe am Waldrand gemeinsam die Zeit verbringen, auf seltsame Veränderungen ihrer geistigen Motorik. Da gibt es Ida und ihre autistische ältere Schwester Anna, die keinerlei Worte artikulieren kann und nur so vor sich hin stöhnt. Da gibt es Aisha, die mit Anna, die über telekinetische Fähigkeiten verfügt, in mentaler Verbindung steht. Und da ist Ben, ein von den Eltern misshandelter, emotional verwahrloster Junge, der nicht nur ebenfalls die Kraft beherrscht, Gegenstände allein mit dem Willen zu bewegen, sondern eben auch Menschen dazu bringt, Dinge zu tun, die sie niemals tun würden. Anfangs scheint dieses Kuriosum allen Freude zu bereiten. Die Kids experimentieren und probieren, Autistin Anna blüht geradezu auf. Bis es zu einem tragischen Vorfall kommt, der daraus resultiert, dass Kinder auf dem Weg der Erkenntnis über sich selbst nicht allein gelassen werden können.

Die triste Wohnbausiedlung, erinnernd an Krysztof Kieslowskis Zehn-Gebote-Dekalogie, bietet den Schauplatz für einen garstigen und nahe an der Grenze zum Erträglichen ausgetragenen Krieg der Knöpfe. Hier ist das Phantastische so nahe an der schmerzlichen Realität wie möglich, und dennoch zeigt sich Vogt auf vertrauliche Weise fasziniert von der Wechselwirkung so mancher paranormaler Fähigkeiten, die manchmal auch zum humanistischen Benefit gereichen. Kinder, denen die weitreichende Bedeutung ihres Handelns selten bewusst ist, die im Jetzt existieren und im sozialen Überleben oder in emotionalem Chaos zu drastischen Mitteln greifen, sind mit Superkräften wie diesen nicht weniger gefährlich als bis an die Zähne bewaffnete Kindersoldaten in der Anarchie eines Dritteweltlandes. Nach Bennys Video von Michael Haneke ließ bislang selten ein Film den Notstand so verstörend widerhallen wie das unbequeme, hässliche Psychogramm kindlicher Sonderlinge, die im fröhlichen Spiel eines sonnigen Nachmittags den stillsten Showdown aller Zeiten entfesseln.

The Innocents

Hatching

DEN ELTERN EIN EI GELEGT

7/10


Hatching© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: FINNLAND 2022

REGIE: HANNA BERGHOLM

CAST: SIIRI SOLALINNA, REINO NORDIN, JANI VOLANEN, SOPHIA HEIKKILÄ, SAIJA LENTONEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Survival of the fittest gilt auch für jene, die, kaum dass sie laufen und sich halbwegs artikulieren können, sofort gefördert werden müssen. Denn es kann ja nicht sein, dass die kommende Generation angesichts des brutalen Wettbewerbs, der auf sie zukommen wird, außen vor bleiben muss. Talente können früh entdeckt und genutzt werden, solange es den Kindern Spaß macht. Manchmal aber sickert das elterliche Ego damit rein, und selbsterlebte Kränkungen aufgrund eigener unerreichter Ziele haben da nun die Chance, gelindert zu werden. Das Kind wird so zum Werkzeug der eigenen Genugtuung. Wird es zum Gewinner, gewinnen auch die Eltern.

Und wenn nicht? Was, wenn das Kind den Drill zum Leistungssport nicht mehr mitmachen will? Zum Klaviervirtuosen oder Schachmeister? Zum Klimasprachrohr oder Popstar? Nicht auszudenken, welcher Druck sich hier aufbauen kann beim Erfüllen elterlicher Erwartungen. Manchmal muss das Kind dann trotzdem ran, auch wenn es das nicht will. Wie bei Thomas Bernhard zum Beispiel, und seinem Geigenspiel. Oder Tom Schilling als Klavierspieler in dem mit Corinna Harfouch so bravourös dargestellten Psychogramm Lara.

In Hatching will Mädchen Tinja will zwar im Kunstturnen brillieren, sieht sich aber unter enormem Leistungsdruck, der von Mama ausgeht, während Papa wie das pittoreske, aber nutzlose Inventar eines neureichen Haushalts seine Rosen gießt und verlegen grinst. Glücklich ist die Familie dennoch. Zumindest nach außen hin, dank eines triefend kitschigen Heile-Welt-Blogs, der umschreiben und darstellen soll, wie glückliche Familien auszusehen haben. Dahinter liegt, wie kann es anders sein, einiges im Argen. Und als Mama einen fehlgeleiteten Raben, der im Wohnzimmer landet, den Hals umdreht, ist Schluss mit lustig. Tinja findet daraufhin ein Ei, das aus dem Nest des toten Vogels stammt. Sie nimmt es mit und will es ausbrüten. Doch wider Erwarten wird das Ei immer größer und größer, bis es den als Nest dienenden Teddybären sprengt – und aufbricht. Hervor kommt eine Kreatur, die das grimm’sche hässliche Entlein zum sexiest duck alive werden lässt. Was noch seltsamer ist: Das Wesen scheint mit Tanja mental und emotional in Verbindung zu stehen.

Die Familie darf davon natürlich nichts wissen. Doch wie lange lässt sich so etwas geheim halten? Wir wissen seit E.T. – Der Außerirdische: Irgendwann nicht mehr. Und tatsächlich mutet das finnische Horrordrama zumindest anfangs, nachdem das Ding geschlüpft ist, ein bisschen so an wie die Mär vom zwergischen Quadratschädel mit leuchtendem Finger, der Millionen zu Tränen gerührt hat. Heulen wird man allerdings bei diesen Begebenheiten aus dem hohen Norden womöglich nicht. Hanna Bergholm setzt hier keineswegs auf Tränendrüse, dafür ist die Art ihrer Inszenierung zu sperrig, um tief in diese Welt einzutauchen, abgesehen davon, dass man nicht so recht die Lust verspürt, dies zu tun, auch wenn alle Weichen gestellt wären. Bergholm zeigt ihre Wahlfamilie als formelhafte Verhaltensmuster webende Figuren einer idealen Welt, die es so nicht gibt. In diese Illusion kracht das faule Ei wie eine Fliegerbombe. Doch geht’s in erster Linie nicht darum, der intakten Fassade Sprünge zu verpassen. Jungschauspielerin Siiri Solalinna als in die Perfektion getriebenes Mädchen steht mitsamt ihrer bizarren Brut stellvertretend für all jene, die nicht dem Ideal verpflichtet sein wollen und den Mut dazu haben, niemanden gefallen zu müssen. Unter diesem psychologischen Aspekt arbeitet sich Hatching als lakonisches Puppentheater voran, bis hin zu einer konsequenten, jedoch tragischen Conclusio, das genauso wenig den Erwartungshaltungen entsprechen möchte wie Mädchen Tinja.

Filme wie diese entgehen den determinierten Berechnungen von Mainstream, und besonders Hatching, der anfangs nicht unter die Haut gehen will und so fasziniert wie eine befremdliche Freakshow, zelebriert eine Form von selbstbewusster Hässlichkeit, die Respekt verdient und in rebellischer Freiheitsliebe den verstörten Eltern ans Bein pinkelt. 

Hatching