Explanation for Everything (2023)

DIE STUNDEN DES PATRIOTEN

7,5/10


explanationforeverything© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: UNGARN, SLOWAKEI 2023

REGIE: GÁBOR REISZ

DREHBUCH: GÁBOR REISZ, ÉVA SCHULZE

CAST: GÁSPÁR ADONYI-WALSH, ISTVÁN ZNAMENÁK, ANDRÁS RUSZNÁK, REBEKA HATHÁZI, ELIZA SODRÓ, LILLA KIZLINGER, KRISZTINA URBANOVITS U. A.

LÄNGE: 2 STD 32 MIN


Auf der Watchlist der Viennale hätte ich Explanation for Everything von Gábor Reisz nicht gehabt, nicht mal auf jener für vielleicht in Frage kommende Werke. Zum Glück aber kommt unverhofft öfter als gedacht und ich musste einem geschenkten Gaul auch nicht ins Maul blicken. Liest man die Synopsis dieses Films, kann es nämlich leicht passieren, dass vor dem geistigen Auge ein knochentrockenes Politdrama als Kopfkino seine zweieinhalb Stunden andauernden Runden dreht. Ungarn und die Politik: Sowas lässt sich im Rahmen der Abendnachrichten besser konsumieren als künstlerisch aufbereitet. Kann das was werden? Es kann. Und es konnte. Es ist fast so wie mit dem Konsumieren kulinarischer Köstlichkeiten aus fernen Ländern. Die Methode, was man nicht kennt, außen vorzulassen, nimmt einem locker das Abenteuer. Vielleicht aber dennoch das Unbekannte auszuprobieren oder gar das, wovon sich eigentlich recht wenig erwarten lässt, könnte eine spannende und bereichernde Erfahrung werden.

Explanation for Everything ist ein Film, der verblüfft. Vor allem einer, der sich an den Rand des politischen Grabenbruchs seines Herkunftslandes stellt, um auf die andere Seite hinüberzurufen. Dort steht auch einer, und auch der bekommt die Chance, sich zu äußern. Redefreiheit nennt man das. Ein Privileg, das in Ungarn nicht mehr existiert, zumindest nicht öffentlich. Den Diskurs sucht Gábor Reisz aber nur in der Hoffnung, Brücken zu bauen über einem reißenden Abwasserstrom aus Polemik, Schwarzseherei und Revolutionsgedanken. Dieses Wasser, das fließt und tropft und sickert auch während des Films als Metapher für ein leckschlagendes Gesellschaftssystem, das immer dysfunktionaler zu werden scheint. Letztendlich triggern profane Symbolismen wie die Nadel vor einem prall gefüllten Luftballon die Lust am Verpetzen des anderen – gerade in Momenten wie jenen, die das Machtgefüge einer gymnasialen Abschlussprüfung illustrieren. In so einem Vakuum aus Prüfungsstress, Ohnmacht und Blackout findet sich der achtzehnjährige Schüler Ábel wieder; stimmlos, motivationslos, ohne Ehrgeiz. Da sitzt er nun, vor dem Gremium, im Fach Geschichte, und sollte über Julius Cäsar referieren. Dabei fällt der Blick des Lehrers Jakab auf die in den ungarischen Landesfarben schillernde, patriotische Anstecknadel am Revers des Sakkos seines Gegenübers. Wieso er diese gerade heute mit sich herumträgt, will der neugierige Lehrer wissen. Er fragt dies vielleicht, um die Stimmung etwas aufzulockern. Doch mehr braucht es nicht. Die Schlacht ist eröffnet, die Messer gewetzt, Ábel nutzt die Chance, um sich aus der Affäre zu ziehen. Die Schuld liegt bei Jakab, der – selbst ein Linker – den aphonen Schüler aufgrund seiner politischen Gesinnung durchrasseln lässt. So ein Skandal zieht Kreise, vom echauffierten Vater (grandios: István Znamenák) über mehrere Ecken bis hin zu einer übereifrigen Journalistin, die in diesem Politikum ihre große Chance sieht, sich zu verwirklichen.

Weder spröde noch trocken noch kopflastig. Weder zu kompliziert gedacht noch langweilig noch viel Lärm um nichts. Um einen Stoff wie diesen, der danach schreit, Nischenkino zu bleiben, bis das Streaming-Krematorium ruft, so gepfeffert auf die Leinwand zu zaubern – dafür gäbe es ja fast Standing Ovations. Denn Explanation for Everything ist so entlarvend wie die Filme von Ruben Östlund oder Lars Kraume, so ungeniert wie Radu Jude und so voller spritziger Dialoge, als hätte Noah Baumbach ein neues Genre gefunden, nämlich das der politischen Rollenklischees und Stereotypen. In satten zweieinhalb Stunden steht den Diskutierenden bald der Schweiß auf der Stirn und Ungarn-müde Mindestverdiener sehnen sich nach Milch und Honig, die in Dänemark fließen könnten.

Die Taktik des jungen Ábel schlägt Wellen, die so manches in Unruhe bringen, jedoch nicht so sehr, um in groteskem Sarkasmus dem Heimatland die Hosen runterzuziehen. Das liegt Gábor Reisz dann doch ferner, als manchmal erwartet. Im Sucher zeigt sich lieber die Generation Z, dessen Heimatverständnis gerade mal für den 15. Mai reicht, dem Beginn der Revolution. In indirekter Verspieltheit flechtet der Filmemacher, gleichsam auch Autor seines Films, die Versatzstücke dieses Aufstands in die Coming of Age-Geschichten seiner Jungdarsteller ein. In ihnen sieht er Hoffnung für Orban-Land, für ein Ende der Zensur und falscher Demokratie.

Explanation for Everything gestaltet sich – geteilt in mehrere Wochentage und diese wiederum aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt – wie ein Abrisskalender, der zur alltäglichen Orientierung in den eigenen Allzweckräumen hängt. Dieser konzeptionelle Witz gefällt sich im Partnerlook mit einem Understatement, das eine verschreckte Gesellschaft hinter sich weiß, die das Gras wachsen hört.

Explanation for Everything (2023)

Der Vorname

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

4/10

 

vorname© 2018 Constantin Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: SÖNKE WORTMANN

CAST: CHRISTOPH MARIA HERBST, FLORIAN DAVID FITZ, CAROLINE PETERS, JUSTUS VON DOHNÁNYI, JANINA UHSE, IRIS BERBEN U. A.

 

Sitzen, essen, trinken, anschauen lassen: die Quintessenz der jovialen Einladung, ob mit oder ohne Familie, lässt sich auf ein paar Faustregeln herunterbrechen. Beim fröhlichen Beisammensitzen, am Besten noch nach einem anstrengenden Arbeitstag, ist so ein Geplauder ohne Alkohol ja gar nicht auszuhalten. Was man sich zu erzählen hat, ist längst schon gesagt, zu diskutieren gibt es auch nichts, denn jeder schaltet auf stur und hat prinzipiell mal Recht. Gerne lassen sich Dinge wiederholen, an die sich der oder die andere sowieso nicht mehr erinnern will, weil es ohnehin nicht wirklich relevant war. Und im Mittelpunkt, in seiner eigenen Blase, da bleibt sowieso nur jeder oder jede mit sich selber allein. Irgendwann wird aber auch das langweilig – und dann hilft nur die wortgewandte Provokation von Seiten jener, die glauben, klüger zu sein als die anderen. Zündstoff für einen feuchtfröhlichen Abend also, der lässt sich watscheneinfach entfachen, zum Beispiel damit, wie der zukünftig jüngste Sproß der Familie denn eigentlich heissen soll. Gut, das Kind wird alsbald beim Namen genannt. Und alle, die das französische Original kennen, werden wissen, zu welchen regressiven Mitteln da der werdende Papa greifen wird.

Das kommt nicht gut an, zumindest nicht beim belesenen Schwager. Die Schwester nimmt´s gelassen. Und der Hausfreund hat sowieso eigene Geheimnisse, die eigentlich nicht zur Sache stehen, aber ab da würde es eigentlich erst richtig interessant werden, wenn nämlich Unbequemes ans Tageslicht kommt. Da sich aber alle so gut kennen, können die Fetzen ja fliegen, ohne nachhaltig den Zusammenhalt zu schädigen, oder nicht? Jedenfalls ist Der Vorname ein Kammerspiel, ungefähr so eines wie Sally Potters The Party mit Kristin Scott Thomas und Timothy Spall, das im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens sämtliche Hüllen fallen lässt. Wobei doch alles nur mit einer Provokation begonnen hat, und nur, weil ein Name fällt, der stellvertretend für alle Tabus dieser westlichen Welt den Anstand mit Füßen tritt.

Der Witz, der ist in Sönke Wortmanns Remake des ungefähr genauso schwachen Originals schnell einer von der mühsamen Sorte. Na gut, zugegeben, Christoph Maria Herbst als Uni-Geistesblitz mit abfälligem Gehabe ist sehenswert, sein näselndes Timbre immer wieder gern zu hören. Mit ihm zu Tisch sitzen Florian David Fitz als stichelnder Provokateur, Gastgeberin Caroline Peters (u. a. Womit haben wir das verdient?) und Justus von Dohnány als Jugendfreund. Etwas später kommt dann noch die werdende Kindesmutter hereingeschneit, die den Stein des Anstoßes gleich sichtbar für alle vor sich herträgt. Ich für meinen Teil wäre da nach einer halben Stunde schon aufgesprungen, mit der Ausrede, morgen früh raus zu müssen. Denn was folgt, ist ein sekkantes Geplänkel, ein unentwegtes Auf-den-Schlips-treten und Polemisieren. Dieser Film lässt sich, ist man dreist genug dazu, auch im eigenen Familienkreis womöglich mit noch mehr Impact nachspielen, da hätte ich auch mehr davon, und womöglich wäre es auch nachhaltiger. In Der Vorname tut jeder, was er kann, um sich im Ton zu vergreifen, was aber irgendwie enorm aufgesetzt wirkt. Absichtlich alles in den falschen Hals zu bekommen ist aber immerhin auch eine Art kribbelnder Zeitvertreib für die gefällige Art des Wohlstandskinos.

Der Vorname