All of Us Strangers (2023)

JEDER LEBT FÜR SICH ALLEIN

8/10


allofusstrangers© 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2023

REGIE / DREHBUCH: ANDREW HAIGH

CAST: ANDREW SCOTT, PAUL MESCAL, JAMIE BELL, CLAIRE FOY, CARTER JOHN GROUT U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Wie einsam und allein ist der Mensch denn tatsächlich, Zeit seines Lebens und im manchmal schnell, manchmal langsam dahinfließenden Strom der Jahrzehnte? Was davon ist nur Fassade, was Imagination, und wie sehr braucht es andere, um sich geborgen zu fühlen? Diese Fragen zu beantworten, scheinen oft unbequem. Weil sie Tatsachen als Licht befördern, die keiner erkennen will. Diesen Fragen stellen sich unter anderem auch Filmemacher und erörtern auf höchst unterschiedliche Weise, wie Alleinsein sich anfühlen kann. Der Mensch kommt allein auf die Welt, interagiert während seines Lebens mit anderen, verlässt sich, wenn es gut geht, auf Mutter und Vater, später auf den Lebensmenschen, wenn sich einer finden lässt, um dann, allein, wieder diese Welt zu verlassen. Begegnungen und die Zugehörigkeit zu anderen schafft den nötigen Antrieb, um immer weiterzumachen. Fehlt diese Komponente, bleibt zumindest die Hoffnung, es könnte einmal so werden. In Uberto Pasolinis Mr. May oder das Flüstern der Ewigkeit wird die Einsamkeit des Menschen inmitten von Menschen als tieftrauriges, fast schon defätistisches Requiem inszeniert, das einem die Kehle zuschnürt. David Lowery schürt mit seiner metaphysischen Meditation A Ghost Story den Schmerz des Erinnerns und das Verlieren in den Erinnerungen eines vergangenen Lebens, sowohl der Lebenden als auch der Toten. Der Mensch wird in diesen Filmen dazu aufgefordert, sein Dasein – und auch den Tod – ertragen zu müssen, in dem Bewusstsein, mit seiner Tatsache der Existenz stets allein zu bleiben, weil man die eigene Existenz nicht teilen kann. Weil sie das ist, was man hat.

Diesen Existenzialismus im Film lässt Andrew Haigh einen Großstadttraum träumen, in der sich die Grenzen zwischen Realität und Imagination von Anbeginn an auflösen. Im Zentrum des Psychogramms steht, umgeben von sozialem Vakuum, ein Mann namens Adam, wohnhaft in einem über der Skyline von London schwebenden Appartmenthaus, das so gut wie leer steht. Adam ist somit ein einsamer Kosmonaut, der auf das Millionentreiben einer Großstadt hinunterblickt, ohne dazuzugehören. Er ist allein und einsam, antriebslos, gedankenverloren, zehrt an der Energie des Sonnenaufgangs, der, so kommt es vor, für ihn allein seine Show abzieht. Abgegrenzt und abgekoppelt von einem Leben im Miteinander ist auch Nachbar Harry (Paul Mescal), der eines Abends an seiner Tür läutet. Anfangs will Adam lieber keinen Kontakt, doch kurze Zeit später, nachdem klar ist, dass beide queer sind und füreinander Zuneigung empfinden, entsteht eine zaghafte Beziehung, die stets unterbrochen wird von einer wundersamen Tatsache, die Zeit und Raum neu konjugiert. Denn Adam, der in seinem zwölften Lebensjahr beide Elternteile bei einem Autounfall verloren hat, bekommt die Gelegenheit, Mutter und Vater wiederzusehen. Er muss dazu nur das Haus seiner Kindheit aufsuchen, und alles ist plötzlich wieder so wie früher, als wäre Adam wieder zwölf. Doch das ist er nicht, und das wissen auch seine Eltern, denen bewusst ist, längst gestorben zu sein.

Was würde man nicht dafür geben, geliebten, von uns gegangenen Menschen nochmal sagen zu können, was man immer schon sagen, nochmal fragen zu können, was man immer schon fragen wollte. Und einfach nicht mehr die Gelegenheit dazu hatte. Diese Möglichkeit wird Adam offenbart, und er nutzt sie. Er verabschiedet sich neu, kann seine Eltern nochmal umarmen, die Dinge ins Reine bringen und ihnen erzählen, wie es ihm seit damals ergangen war. Andrew Scott gibt dem einsamen Menschen, der den Verlustschmerz nicht überwinden kann und Angst davor hat, neuen zu erleiden, mit einer verletzlichen Intensität, dass man den Eindruck hat, man würde ihn schon lange kennen. Es wird fühlbar, was er empfindet, denn es sind Emotionen, die uns allen vertraut sind. All of Us Strangers wird zur immersiven Seelenreise an eine in farbiges Licht getauchte Urangst, geschützt vom Mantel der Verdrängung. Haigh reißt diesen herunter. Ecce homo, vermeint man ihn sagen zu hören. Und da ist er, dieser Adam, ein einsames menschliches Wesen, hin und hergerissen zwischen Sehnsucht, Abschied und von einer Reiselust ins Innere seines Selbst übermannt.

Vielleicht, so könnten manche vielleicht kritisieren, gibt sich All of Us Strangers einer überzeichneten Traurigkeit hin. Ich finde: Emotionen wie diese sind zu wahrhaftig, um als Kitsch bezeichnet zu werden. Leicht waren die Dreharbeiten womöglich nicht, Scott scheint sich dabei selbst an so manch schmerzliche Erfahrungen in seinem Lebens erinnert zu haben. Haighs Film ist an Intimität und Nähe kaum zu überbieten, ist surreal, voller Traumsequenzen und Erinnerungen, getaucht in Farbspektren und unterlegt mit hypnotisierendem Score, der Platz lässt für Klassiker wie The Power of Love von Frankie goes to Hollywood und diesen endlich von der Weihnachts-Playlist streicht. All of Us Strangers ist eine Naherfahrung und ein Psychotrip, vielleicht gar eine Geistergeschichte, aber ganz sicher keine leichte Kost und ein schweres, ich will nicht sagen sentimentales, aber wehmütiges Gefühl hinterlassend; einen Kloß im Hals, einen Druck auf der Brust. Befreiend ist Haighs Film nicht, dafür aber in seinem epischen Erspüren am Dasein, das aus Verlust und Suche besteht, berauschend und wunderschön. Hoffnung hat der Film keine, doch jede Menge Erkenntnis. Vor allem diese, dass Sehnsucht auch Geborgenheit bedeuten kann.

All of Us Strangers (2023)

The Son (2022)

LIEBE ALLEIN REICHT NICHT

7,5/10


theson© 2022 Leonine


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, FRANKREICH 2022

REGIE: FLORIAN ZELLER

BUCH: FLORIAN ZELLER, CHRISTOPHER HAMPTON, NACH FLORIAN ZELLERS THEATERSTÜCK

CAST: HUGH JACKMAN, ZEN MCGRATH, LAURA DERN, VANESSA KIRBY, ANTHONY HOPKINS, HUGH QUARSHIE U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Vor zwei Jahren beeindruckte Sir Anthony Hopkins ungefähr so wie Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva In Michael Hanekes Liebe: als alter Mann, der zusehends unter Demenz leidet und dessen Leben immer mehr und mehr an Bodenhaftung verliert. Unbekannte Leute gehen in seiner Wohnung ein und aus, und plötzlich ist die eigene Tochter eine völlig fremde Person. Das gemütliche Wohnzimmer wird plötzlich zur Einrichtung in einem Pflegeheim, und der Vater muss sich am Ende fragen: Wer bin ich eigentlich? So erschütternd wie Felix Mitterers Sibirien, und so sehr jenseits gängiger Sehgewohnheiten konzipiert, dass man meinen könnte, einem Psychothriller beizuwohnen, so spannend gelingen hier einzelne Szenen, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Ein Drama aus der Sicht eines Demenzkranken inszenieren – das ist großes, bewegendes und auch verstörendes Kino. Dieses Jahr legt Florian Zeller ein weiteres seiner Theaterstücke nach, um es auf die Leinwand zu bringen: Vom Father geht es nun zum Sohn – wobei beide Geschichten nichts miteinander zu tun haben, obwohl Anthony Hopkins auch hier einen Patriarchen gibt, der aber völlig anders veranlagt ist als jene Figur aus 2021.

In The Son steht nicht nur Newcomer Zen McGrath im Mittelpunkt, als eben jener Filius, den Timothée Chalamet auch hätte spielen können, dessen Gesicht aber mittlerweile schon viel zu bekannt geworden ist, um einen so erfrischend unbeeinflussten Charakter zu interpretieren, wie McGrath es eben tut. Neben seiner Performance agiert Hugh Jackman als dessen Vater und erfolgreicher Anwalt, der schon bald die Karriereleiter noch höher hinaufsteigen könnte, wenn er nur wollen würde. Peter Miller, so nennt er sich, hat sich von seiner alten Familie getrennt und ein neues Leben angefangen. Mit neuer junger Frau (Vanessa Kirby grandios zurückhaltend) und frischem Nachwuchs im Windelalter. Alles wäre so perfekt, wie ein Leben nur sein kann – gäbe es da nicht auch noch den mittlerweile siebzehn Jahre alten Sohn aus erster Ehe, Nicholas. Natürlich, um diesen jungen Mann muss sich Papa natürlich auch kümmern, und so sucht Ex-Frau Kate (Laura Dern) Hilfe beim Vater ihres Sohnes, denn dieser scheint bereits über Monate hinweg die Schule zu schwänzen. Irgendetwas liegt da im Argen, und Peter soll sich der Sache annehmen. Das tut er auch, denn dieser will schließlich nicht so kaltherzig seine Karriere über alles andere stellen wie seinerzeit sein eigener Vater (Anthony Hopkins als egozentrischer Machtmensch). Kann sein, dass so eine dichte Agenda aus Arbeit und Privatem einen weltgewandten Menschen wie Peter nicht so schnell aus der Bahn werfen kann, doch dann will Nicholas bei Papa einziehen, um seinen Weltschmerz in den Griff zu bekommen. Was ist das für eine abstrakte Umschreibung, was treibt den jungen Mann bloß zu so düsteren Gedanken, die kurz davor sind, in suizidale Impulse überzugehen? Ganz klar: Nicholas leidet unter akuter Depression – einer Krankheit, die so abstrakt ist und sich so schwer fassen lässt, dass niemand sie so recht verstehen kann, wo keiner weiterweiß und wo die eigenen Eltern fest davon überzeugt sind, allein mit ihrer Liebe dem psychischen Schreckgespenst Herr werden zu können.

Wie bereits beschrieben, findet Florian Zeller jede Menge bekannte Gesichter für sein wahrlich intensives Drama, das sich nicht nur mit den psychologischen Folgen beschäftigt, wie sich der Zusammenbruch einer Familie vor allem auf junge Menschen ausprägt. Zeller geht einen Schritt weiter und betritt die unberechenbaren Symptompfade einer juvenilen Depression, mit der niemand, der nicht vom Fach ist, wirklich Herr werden kann. Jackman als aufrechter Vater, der tatsächlich alles richtig machen will, sieht sich selbst beim Scheitern zu – genauso wie Mutter Laura Dern, die das Befinden ihres Sohnes maßlos unterschätzt. Liebe allein reicht nicht – das sagt auch Nicholas‘ betreuender Arzt. Doch welche Eltern können da schon rational bleiben, wenn der Sohn so sehr um die intakte Dreisamkeit seiner Familie fleht.

The Son ist da natürlich viel weniger experimentell als The Father. Hier erzählt Zeller, unter Mitarbeit von Christopher Hampton, sehr stringent und nur mit wenigen Rückblenden aus Nicholas‘ jüngeren Jahren, von der Chronik eines Entgleitens und dem Ende elterlicher Kompetenzen. Eine weniger klassische Erzählweise würde vielleicht die schauspielerische Stärke des Ensembles ausbremsen, so aber baut die psychologische Entwicklung aller Beteiligten auf einer sich steigernden Storyline auf, die immer schwerer, verzweifelter und verheerender wird, bis der unvermeidliche Schlag in die Magengrube folgt. Wohin sich The Son zuspitzt, ist nichts für schwache elterliche Nerven, und ja, die unweigerliche und auch befürchtete Katastrophe lähmt sein Publikum. Die Schockstarre hält nach, und immer wieder hat man vor Augen, wie leicht alles hätte anders kommen können. Die Parameter für die Katastrophe legt Zeller aber viel zu offen aus, und es kann auch sein, dass alles viel zu unweigerlich in den Abgrund führt, weil Eltern vielleicht nur mit dem Herzen denken, und nicht mit dem Verstand. Selbst würde man natürlich alles anders machen. Und auch die nötigen Vorkehrungen treffen. Dieses Bewusstsein enthält Zeller seinen Film-Eltern leider vor, und daher mag es am Ende an plausiblem Verhalten doch etwas hapern. Der Wucht des Dramas nimmt dies aber nicht die bleierne Schwere, und die Faust des Schicksals haut dennoch zu. Als würde es einen selbst treffen.

The Son (2022)