The Son (2022)

LIEBE ALLEIN REICHT NICHT

7,5/10


theson© 2022 Leonine


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, FRANKREICH 2022

REGIE: FLORIAN ZELLER

BUCH: FLORIAN ZELLER, CHRISTOPHER HAMPTON, NACH FLORIAN ZELLERS THEATERSTÜCK

CAST: HUGH JACKMAN, ZEN MCGRATH, LAURA DERN, VANESSA KIRBY, ANTHONY HOPKINS, HUGH QUARSHIE U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Vor zwei Jahren beeindruckte Sir Anthony Hopkins ungefähr so wie Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva In Michael Hanekes Liebe: als alter Mann, der zusehends unter Demenz leidet und dessen Leben immer mehr und mehr an Bodenhaftung verliert. Unbekannte Leute gehen in seiner Wohnung ein und aus, und plötzlich ist die eigene Tochter eine völlig fremde Person. Das gemütliche Wohnzimmer wird plötzlich zur Einrichtung in einem Pflegeheim, und der Vater muss sich am Ende fragen: Wer bin ich eigentlich? So erschütternd wie Felix Mitterers Sibirien, und so sehr jenseits gängiger Sehgewohnheiten konzipiert, dass man meinen könnte, einem Psychothriller beizuwohnen, so spannend gelingen hier einzelne Szenen, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Ein Drama aus der Sicht eines Demenzkranken inszenieren – das ist großes, bewegendes und auch verstörendes Kino. Dieses Jahr legt Florian Zeller ein weiteres seiner Theaterstücke nach, um es auf die Leinwand zu bringen: Vom Father geht es nun zum Sohn – wobei beide Geschichten nichts miteinander zu tun haben, obwohl Anthony Hopkins auch hier einen Patriarchen gibt, der aber völlig anders veranlagt ist als jene Figur aus 2021.

In The Son steht nicht nur Newcomer Zen McGrath im Mittelpunkt, als eben jener Filius, den Timothée Chalamet auch hätte spielen können, dessen Gesicht aber mittlerweile schon viel zu bekannt geworden ist, um einen so erfrischend unbeeinflussten Charakter zu interpretieren, wie McGrath es eben tut. Neben seiner Performance agiert Hugh Jackman als dessen Vater und erfolgreicher Anwalt, der schon bald die Karriereleiter noch höher hinaufsteigen könnte, wenn er nur wollen würde. Peter Miller, so nennt er sich, hat sich von seiner alten Familie getrennt und ein neues Leben angefangen. Mit neuer junger Frau (Vanessa Kirby grandios zurückhaltend) und frischem Nachwuchs im Windelalter. Alles wäre so perfekt, wie ein Leben nur sein kann – gäbe es da nicht auch noch den mittlerweile siebzehn Jahre alten Sohn aus erster Ehe, Nicholas. Natürlich, um diesen jungen Mann muss sich Papa natürlich auch kümmern, und so sucht Ex-Frau Kate (Laura Dern) Hilfe beim Vater ihres Sohnes, denn dieser scheint bereits über Monate hinweg die Schule zu schwänzen. Irgendetwas liegt da im Argen, und Peter soll sich der Sache annehmen. Das tut er auch, denn dieser will schließlich nicht so kaltherzig seine Karriere über alles andere stellen wie seinerzeit sein eigener Vater (Anthony Hopkins als egozentrischer Machtmensch). Kann sein, dass so eine dichte Agenda aus Arbeit und Privatem einen weltgewandten Menschen wie Peter nicht so schnell aus der Bahn werfen kann, doch dann will Nicholas bei Papa einziehen, um seinen Weltschmerz in den Griff zu bekommen. Was ist das für eine abstrakte Umschreibung, was treibt den jungen Mann bloß zu so düsteren Gedanken, die kurz davor sind, in suizidale Impulse überzugehen? Ganz klar: Nicholas leidet unter akuter Depression – einer Krankheit, die so abstrakt ist und sich so schwer fassen lässt, dass niemand sie so recht verstehen kann, wo keiner weiterweiß und wo die eigenen Eltern fest davon überzeugt sind, allein mit ihrer Liebe dem psychischen Schreckgespenst Herr werden zu können.

Wie bereits beschrieben, findet Florian Zeller jede Menge bekannte Gesichter für sein wahrlich intensives Drama, das sich nicht nur mit den psychologischen Folgen beschäftigt, wie sich der Zusammenbruch einer Familie vor allem auf junge Menschen ausprägt. Zeller geht einen Schritt weiter und betritt die unberechenbaren Symptompfade einer juvenilen Depression, mit der niemand, der nicht vom Fach ist, wirklich Herr werden kann. Jackman als aufrechter Vater, der tatsächlich alles richtig machen will, sieht sich selbst beim Scheitern zu – genauso wie Mutter Laura Dern, die das Befinden ihres Sohnes maßlos unterschätzt. Liebe allein reicht nicht – das sagt auch Nicholas‘ betreuender Arzt. Doch welche Eltern können da schon rational bleiben, wenn der Sohn so sehr um die intakte Dreisamkeit seiner Familie fleht.

The Son ist da natürlich viel weniger experimentell als The Father. Hier erzählt Zeller, unter Mitarbeit von Christopher Hampton, sehr stringent und nur mit wenigen Rückblenden aus Nicholas‘ jüngeren Jahren, von der Chronik eines Entgleitens und dem Ende elterlicher Kompetenzen. Eine weniger klassische Erzählweise würde vielleicht die schauspielerische Stärke des Ensembles ausbremsen, so aber baut die psychologische Entwicklung aller Beteiligten auf einer sich steigernden Storyline auf, die immer schwerer, verzweifelter und verheerender wird, bis der unvermeidliche Schlag in die Magengrube folgt. Wohin sich The Son zuspitzt, ist nichts für schwache elterliche Nerven, und ja, die unweigerliche und auch befürchtete Katastrophe lähmt sein Publikum. Die Schockstarre hält nach, und immer wieder hat man vor Augen, wie leicht alles hätte anders kommen können. Die Parameter für die Katastrophe legt Zeller aber viel zu offen aus, und es kann auch sein, dass alles viel zu unweigerlich in den Abgrund führt, weil Eltern vielleicht nur mit dem Herzen denken, und nicht mit dem Verstand. Selbst würde man natürlich alles anders machen. Und auch die nötigen Vorkehrungen treffen. Dieses Bewusstsein enthält Zeller seinen Film-Eltern leider vor, und daher mag es am Ende an plausiblem Verhalten doch etwas hapern. Der Wucht des Dramas nimmt dies aber nicht die bleierne Schwere, und die Faust des Schicksals haut dennoch zu. Als würde es einen selbst treffen.

The Son (2022)

Jurassic World: Ein neues Zeitalter

UND EWIG LOCKT DER THEMENPARK

6/10


jurassicworld_dominion© 2022 Universal Studios and Amblin Entertainment. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: COLIN TREVORROW

CAST: BRYCE DALLAS HOWARD, CHRIS PRATT, ISABELLA SERMON, LAURA DERN, SAM NEILL, JEFF GOLDBLUM, DEWANDA WISE, CAMPBELL SCOTT, MAMOUDOU ATHIE, OMAR SY, SCOTT HAZE U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


Es ist auch schon wieder knapp dreißig Jahre her, seit Laura Dern, Jeff Goldblum und Sam Neill vor dem heranpirschenden Tyrannosaurus rex im offenen Jeep das Weite gesucht hatten. Steven Spielberg konnte mit diesem Einstand tatsächlich das Kino verändern, allein dafür zählt er zu den wichtigsten Regisseuren der Filmgeschichte. Die Dinos im Kino waren ein Erlebnis – und sind es noch. Das kitzelt das Kind in jedem Manne hervor, und man schalt sich selbst dafür, die eigenen Plastiksaurier irgendwann mal billig auf dem Pfarrflohmarkt verhökert zu haben. Als Kind hätte man sich gewünscht, dass Urzeitriesen tatsächlich noch existieren würden – in friedlicher Nachbarschaft mit uns Menschen, die nicht auf dem Speiseplan sämtlicher Prädatoren stünden.

So eine ähnliche Vision ist nun, im sechsten Teil der ganzen Franchise, Wirklichkeit geworden, und John Hammond, der kauzige DNA-Weihnachtsmann mit Gehstock, hätte wohl die Hände zusammengeschlagen, wenn er noch gesehen hätte, was sein wissenschaftlicher Ehrgeiz letzten Endes losgetreten hat und vor welchem ökologischen Supergau die Welt heute steht, irgendwo in einem alternativen Universum, in dem passiert ist, was eben passieren muss, sofern wir der Chaos-Theorie laut Dr. Ian Malcolm Glauben schenken wollen: Die Natur findet seinen Weg. So viele Faktoren, die ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen, können vom noch so statistisch versierten menschlichen Superhirn gar nicht allesamt berücksichtigt werden. Statt Corona sind es nun die Urzeitechsen aus allen Epochen des Mesozoikums, die sich parthenogenetisch fortpflanzen und so ihr Überleben sichern, vielleicht gar das Überleben über die Existenz des um Kontrolle ringenden Menschen hinaus.

Mit dieser Dystopie – oder Utopie (je nachdem von welchem Blickwinkel aus man es betrachtet) konnte Regisseur und Drehbuchautor Colin Trevorrow gut arbeiten. Was Jurassic World: Ein neues Zeitalter hier grundlegend zeigt, ist das Was wäre wenn-Szenario einer unmöglichen Koexistenz. So sehr dem ganzen Konzept auch aus wissenschaftlicher Sicht der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann (und das war, wenn man es genauer betrachtet, von Anbeginn an so), lässt dieses tendenziell triviale Wünschdirwas für Saurierfans sein Publikum erst dann so richtig staunen, wenn in einen für uns gewohnten Alltag plötzlich die Erdgeschichte bricht, unter tonnenschwerem Gestampfe und leider nervigem, weil unentwegtem Brüllen. Denn die Dinos in Jurassic World sind Attraktionen und selten lebendiger Teil eines nicht mehr vorhandenen Ökosystems – Pop-Ups mit Event-Knopf auf einem Themenpark, dessen Pforten seit 1993 immer noch offen stehen. Dieser Film hier zieht einen vorläufigen Schlussstrich unter einer so langen Zeit des Rennens, Rettens und Flüchtens. Alles, was gut und brauchbar war, findet hier wieder sein aufgedröseltes Ende, eben auch die gut in Form gebliebenen Altstars und die Helden Bryce Dallas Howard und Chris Pratt.

Da das Franchise sehr stark darauf ausgerichtet ist, die Masse zu begeistern, gibt’s auch keine vielen Überraschungen. Alles passiert abermals. Mit „more of the same“ bereiten zweieinhalb Stunden Abenteuer durchaus Vergnügen, auch wenn der Bonbon bis zum weichen Kern durchgelutscht scheint. Vom Wow-Moment aus Spielbergs Erstling sind wir meilenweit entfernt, doch zum Abklatsch verkommt das Grande Finale dann doch auch nicht. Die Liebe zum Stoff steckt eben im Detail. Wenn Pratt und Howard den maltesischen Schwarzmarkt fürs Dinos entern, findet Jurassic World: Ein neues Zeitalter zivilisationskritische, ja durchaus düstere Bilder und gelangt zu einer knackigen dramaturgischen Dichte, die an Mission: Impossible erinnert, nur mit dem Unterschied, dass hier nicht ab Abzüge, sondern Raptoren klicken.

Jurassic World: Ein neues Zeitalter

99 Homes – Stadt ohne Gewissen

DAS KALTE HERZ DES WESTENS

7/10


99homes© 2015 Wild Bunch Distribution


LAND / JAHR: USA 2014

BUCH / REGIE: RAMIN BAHRANI

CAST: ANDREW GARFIELD, MICHAEL SHANNON, LAURA DERN, TIM GUINEE, J.D. EVERMORE U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Mach nie die Tür auf, lass keinen rein – das rät zumindest die Erste Allgemeine Verunsicherung. Doch es hilft alles nichts. Auch wenn man in diesem Fall so tut, als wäre man nicht zuhause, sitzt man trotzdem bald vor selbigem, und zwar von einem Tag auf den anderen. Wir wissen: 2008 gab´s die Finanzkrise, und wir wissen auch, wohin das geführt hat: zum Platzen der sogenannten Immobilienblase. Sicherheiten waren plötzlich nichts mehr wert, Kredite nicht zahlbar, und Banken konnten sich nur noch damit retten, den Leuten das Heim unter dem Hintern wegzuziehen.

Was für eine schlimme Situation, die der alleinerziehende Bauarbeiter Dennis Nash da erleben muss. Es reicht nicht, dass der Mann den Job verliert – nein. Eines Morgens steht der Hausverwalter Rick Carver vor seiner Tür, flankiert von zwei hochmotivierten Polizisten und einer Entourage für die Drecksarbeit. Sind die Raten fürs Haus nicht mehr zahlbar, wohnt hier jetzt die Bank. Dabei muss die ganze Familie mitansehen, wie das komplette Interieur im Vorgarten landet. Doch so leicht lässt sich der arbeitswillige Jungvater nicht unterkriegen. In der Not bietet er Carver seine Dienste an, bleibt anfangs Mädchen für alles, um später genau das zu tun, was auch jener getan hat, der ihn und seine Familie vor die Tür gesetzt hat. Doch Moment! Genauer betrachtet ist ja nicht der Wohnungspfänder der Böse, sondern das Wirtschaftssystem dahinter. Genauer betrachtet wird aber auch klar, dass der schmierige Geschäftsmann Carver Mittel und Wege gefunden hat, selbst die Banken um ihren Vorteil zu prellen. 

Nirgendwo sonst als in den USA kann aus Alles plötzlich Nichts werden. Kann eine Existenz plötzlich scheitern. Nirgendwo sonst ist man auch dermaßen wenig vor Schicksalsschlägen abgesichert. Polizzen sind eine Sache fürs Establishment. Welches aber auch anderweitig vorgesorgt hat. Wie die schillernde Figur des Rick Carver eben. Will man solche Rollen wirklich treffsicher besetzen, klingelt´s womöglich bei Michael Shannon an der Tür. Der Mann ist prädestiniert für den charismatischen, kompromisslosen und über Leichen gehenden Typus, ein gelackter Influencer unter dem Herrn, ein Geschichtenerzähler und Einwickler. So kommt es, dass die Wirkung dieses Films fast ausschließlich auf seine Golferkappe geht. Und dabei ist es kaum vorstellbar, dass es Menschen gibt, die es tatsächlich anstreben, so sein zu wollen, und die es der Wirtschaft dort gutgehen lassen, wo man nicht so genau nachfragt. Ramin Bahrani setzt auch hier, so wie in seiner erst kürzlich auf Netflix erschienenen Buchverfilmung Der weiße Tiger  – die Chronik eines steinigen Wegs zum Wohlstand in Indien – seine abenteuerliche Identifikationsfigur auf Augenhöhe mit dem Zuschauer, die anfangs nichts, aber auch gar nichts hat und letztendlich alles haben könnte. Wie Peter Munk aus Willhelm Hauffs Das kalte Herz.

Und wie bei Hauff hat auch 99 Homes – Stadt ohne Gewissen ein ausgeprägtes Moralbewusstsein. Bahrani kann es natürlich nicht akzeptieren, die Welt auf diese Art sich selbst zu überlassen. Dafür ist er zu sehr Humanist, der erahnt, wie man leben soll. Diesen lehrmeisterlichen Gewissenskonflikt darf Andrew Garfield in diesem packenden Wirtschaftsthriller ganz alleine austragen – zwischen altklugen Weisheiten aus dem Munde Michael Shannons, der weiß, wies geht, und einem sozialen Bewusstsein, das selten in die Agenda des Erfolges passt.

99 Homes – Stadt ohne Gewissen

Little Women

ERST RECHT, WEIL ICH EIN MÄDCHEN BIN

7/10

 

littlewomen© 2019 Sony Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: GRETA GERWIG

CAST: SAOIRSE RONAN, FLORENCE PUGH, EMMA WATSON, ELIZA SCANLEN, LAURA DERN, MERYL STREEP, TIMOTHEÉ CHALAMET, CHRIS COOPER U. A.

 

Die ehemalige Mumblecore-Ikone Greta Gerwig, oft unter der Regie von Noah Baumbach (der mittlerweile ihr Partner ist, aber das nur so am Rande), hat wieder getan, was sie am besten kann: Im Grunde eigentlich über sich selbst erzählen. Was natürlich Hand und Fuß hat, denn nichts ist authentischer und ehrlicher als die Reflexion aufs eigene Leben, die Frau hier mit ins Spiel bringt. Das Spiel selbst, das ist kein neuer Hut mehr. Es ist die ich weiß nicht wievielte Verfilmung eines Coming of Age-Romans der US-Autorin Louisa May Alcott, im Grunde die amerikanische Antwort auf den ungefähr zeitgleich entstandenen Trotzkopf von Emmy van Rhoden. Alcotts Buch aber dürfte so etwas wie die Jungmädchen-Pflichtlektüre in allen Bundesstaaten gewesen sein. Nirgendwo sonst hätten Mädchen, mit dem Blick in die Zukunft und von Träumen, Wünschen und Sehnsüchten geprägt, ihre Seelenwelt wohl besser verstanden gewusst als hier. Erstaunlich dabei: für jedes Mädchen scheint in Little Women etwas dabei gewesen zu sein, Seelenverwandte also leicht zu finden. Im Zentrum steht natürlich Jo March, die schriftstellerisch Begabte. Freiheitsliebend, nonkonform, ein Sturkopf schlechthin, aber auffallend klug und daher alles und jeden hinterfragend. Natürlich fällt die Wahl der Lieblings-Romanfigur in erster Linie auf diese junge Dame. Sie nimmt sich heraus, was sich andere verwehren – das Streben nach den eigenen Zielen. Das ist eine Darstellung, weit ihrer Zeit voraus. Und völlig klar – Gerwig sieht auch speziell in Jo March ihr Alter Ego, ihre Verbündete, hat sie doch im Rahmen eines cinema-Interviews offenbart, auch selbst mit Little Women aufgewachsen zu sein und aus dem beharrlichen Verhalten ihres jungen Idols selbst genug Motivation gewonnen zu haben, um überhaupt die künstlerische Laufbahn als Autorenfilmerin einzuschlagen.

Gerwig holt sich für ihre strahlende Hauptfigur erneut Saoirse Ronan an Bord. Das war schon bei Lady Bird alles andere als ein Fehler, und ist es auch bei Little Women. Um Ronan herum dreht sich der ganze Film. Sie legt eine solch erfrischende Natürlichkeit an den Tag, so eine unaufgeregte Selbstsicherheit und findet für ihren Charakter so viele unterschiedliche Facetten, dass man das Gefühl hat, keiner kann und darf sich ihr in den Weg stellen. Sie verkörpert eine Frauenfigur, die als Soll-Zustand weiblicher Selbstverwirklichung zeitlos gültig bleibt. Deswegen auch Gerwigs Griff nach einem über hundert Jahre alten Roman, der, obwohl er ein Sitten- und Gesellschaftsbild seiner Zeit ist, genau dieses zu einem temporären Korsett reduziert, das sich abstreifen lässt, das nicht zwingend getragen werden muss, denn die Frage ist ja dabei auch, wer schreibt dieses Korsett denn vor? Und wer beurteilt, ob und wann Frauen talentiert genug sind, um die Elite aufzumischen? Ihre Little Women gehen aus sich heraus, wo andere vielleicht in Deckung gehen. Und probieren aus, wo andere Angst haben zu scheitern.

Die Qualität dieser Neuverfilmung liegt genau dort, wo sie sein soll: in vier völlig autarken Charakterstudien, die als Jo, Amy, Meg und Beth aus dem Zeitgeist der 60er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts penibel, mit viele Geduld und Liebe zur genauen Beobachtung herausgearbeitet wurden. Da hat sich Gerwig beim Schreiben wirklich ins Zeug gelegt. Und nicht nur sie – neben Saoirse Ronan auch und vor allem Florence Pugh als impulsives Energiebündel zwischen familiärem Pflichtbewusstsein und individueller Freiheit. Was Laura Dern betrifft – es ist irgendwie beruhigend, zu sehen, dass ihr auch noch ganz andere, viel subtilere Filmfiguren gut zu Gesicht stehen als nur die resolute Powerfrau und Anwältin, die ihr Geschäft versteht. Letzten Endes aber geht es bei Alcotts Little Women auch nicht ohne die männliche Komponente, nur zwingend reich muss diese nicht sein. Somit haben wir hier keine militante Female Power gegen ein plakatives Patriarchat, sondern einen zuversichtlichen Lovesong auf ein Miteinander der Geschlechter, ohne sich der Männerrolle zwingend entledigen zu müssen. Da macht Gerwig vieles richtig, bleibt diplomatisch und vernünftig, trotz all der großen Emotionen.

Etwas fahrig wird dann die technische Umsetzung ihres fein ausgestatteten Films, insbesondere gibt’s so manche Probleme im Wechsel der Zeitebenen, die sie glaubt geschickt verzahnt zu haben – dabei wäre, wie ich finde, hier ein langsamerer, ausgewogener Rhythmus zwischen den Szenen und all den Erinnerungen die bessere Wahl gewesen. Nichtsdestotrotz aber bleibt ein kluger Film über Young Adults in Erinnerung, der sich die Freiheit nimmt, irgendwann nicht mehr zwischen Realität und romantischer Heile-Welt-Poesie zu unterscheiden, auch wenn diese vielleicht doch nur im Buche steht, all die jungen Frauen aber umso stärker motiviert, an sich selbst zu glauben.

Little Women

Marriage Story

TROTZDEM FAMILIE

7,5/10

 

marriagestory© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: NOAH BAUMBACH

CAST: SCARLETT JOHANSSON, ADAM DRIVER, MERRITT WEVER, LAURA DERN, AZHY ROBERTSON, RAY LIOTTA U. A.

 

Vorsicht: Die Sicht auf diesen Film könnte durch eigene Erfahrungen im Ehe- und Zusammenleben maßgeblich beeinflusst werden. So geschehen bei mir. Noah Baumbachs vielfach hochgelobtes Ehe-Endgame wird wohl von vielen Menschen gesehen werden, die selbst in einer Beziehung stecken, Familie haben oder geschieden bzw. getrennt sind. Marriage Story ist ein Film, der lässt sich nicht unvoreingemnommen betrachten, da gibt es Vorbehalte, Vorurteile und emotionale Trigger, da gibt es alles mögliche, was aus der eigenen Geschichte der Zwei- oder Dreisamkeit hochgefahren wird. Marriage Story wirkt hundertmal anders, bestätigt oder hinterfragt den Zustand des Zusehers zu dem, was hier abgeht. Dabei beginnt der Anfang vom Ende relativ alltäglich, er beginnt mit einer Sicht auf die Dinge, die erst dazu geführt haben, dass sich zwei Liebende entschieden haben, ein Leben gemeinsam zu führen. Es sind die positiven Skills, die ein jeder hat. Es ist das, was der andere am anderen liebt. Es ist das große Ganze, dass das Zusammenleben ausmacht. Die Schwächen haben da vorerst nichts zu suchen. Baumbach gelingt mit seiner Steckbrief-Overtüre ein origineller Kniff, eine Methode, um ein ganzes harmonisches Eheleben als Prolog anzuführen, damit der Zuseher vollends begreifen und empfinden kann, um wen es hier eigentlich geht.

Vergessen wird aber das Kind. In Marriage Story läuft alles darauf hinaus, dass es nicht um die Trennung eines Paares geht, sondern um die Teilung einer Familie. Das kommt bekannt vor. Das hatten wir schon Ende der Siebzigerjahre in Robert Bentons zutiefst berührendem, höchst intensiven Scheidungs- und Sorgerechtsdrama Kramer gegen Kramer. Ich kenne diesen Film, da bleibt wirklich kein Auge trocken. Dustin Hofmann und Mery Streep als liebende Eltern litten da unübersehbar an gebrochenem Herzen, ein meisterlicher Film, allerdings auch nicht leicht verdaulich. Es ist der Kampf um ein Kind, von der Trennungsabsicht bis zum Urteil vor Gericht. Noah Baumbachs Erzähl- und Filmstil ist da trotz sehr ähnlichem Plot wesentlich anders. Natürlicher, ungeschminkter, spontaner. Scarlett Johansson hat man so noch nie gesehen. Auch Adam Driver geht an seine Grenzen. Zwischen seinem phlegmatischen Schauspiel in BlackKklansman und Marriage Story liegen Welten, irgendwo dazwischen sein Kylo Ren aus Star Wars. Im Film sind beide Künstler, die eine Schauspielerin, der andere Regisseur. Um Künstler dieser Art zu sein braucht es schon ein starkes Ego, eine Egozentrik gar, und die haben beide. Das Kind? Das hat das Nachsehen. Natürlich, die Eltern kümmern sich liebevoll, doch machen sie das, was sie tun, wohl eher für sich selbst. Würde man sie danach fragen, wäre natürlich der Nachwuchs, der den Eltern überraschend distanziert gegenübersteht, an erster Stelle. Vielleicht aber liegt es am Spiel des jungen Azhy Robertson, der manchmal so wirkt, als wären Driver und Johansson nicht seine Eltern, sondern Fremde, die eben nett sind, aber nicht wirklich die Emotionen des Kindes bewegen. Keine Vorstellung davon, wie sehr dieser Umbruch den achtjährigen Buben bewegt. Das liegt aber daran, dass Robertson keine Vorstellung davon gibt.

Der spannende Konflikt des Filmes entsteht erst durch den Auftritt der Anwaltschaft. Damit bekommt das Ehedrama eine ganz andere Dimension, aber auch eine, die mich irritiert. Da sie im Grunde einander weder hassen noch einander ernsthaft aus dem Weg gehen wollen, wirken die emotionalen Schreiduelle, von denen es ohnehin eigentlich nur eines gibt, etwas erzwungen, die dargestellten Gefühle verpassen um Sekunden den richtigen Einsatz. Dennoch brillieren sie, vor allem Johansson. Und das weniger dank der dichten, gehaltvollen Dialoge, sondern vielmehr der Monologe, die einfach fabelhaft, elegant und genau so geschrieben sind, sodass man stundenlang und ohne Anstrengung zuhören könnte. Das ist die Stärke Baumbachs, sein Händchen für wortgewaltigen Seelenstriptease in bestem Rhythmus eines Bühnendramas. Auf Augenhöhe begegnet er da sprachlichen Altmeistern wie Woody Allen, der es auch scheinbar mühelos beherrscht, die Facetten komplizierter Gemüter durch Ich-Bekenntnisse so greifbar werden zu lassen.

Wäre aber diese fein justierte Wortgewalt nicht, wäre Marriage Story nur das halbe Sorgerecht, wäre der Film der torschlusspanische Luxus einer Trennung, die so garantiert nicht sein müsste, und die im sinnlosen Verprassen von Ressourcen dem Kind seine Lebensgrundlage entzieht, anstatt sie zu erhalten. Ob beide die Kurven kriegen, verrate ich natürlich nicht. Sehenswert ist Baumbachs Analyse in jedem Fall, und ist auch nur um ein Quäntchen zu lange geraten. Meistens aber fasziniert das, was Johansson und Driver leisten, aber auch, wie Laura Dern wieder mal ganz im Stile von Big Little Lies aufspielt oder Alan Alda seine väterliche Liebe zu seinem Klienten entdeckt. Im Grunde also Schauspielkino mit der wohl am besten formulierten Sprache des Jahres, aber mit dem wohl am wenigsten konstanten Impact auf den Zuseher, der mit seinem eigenen Bild vom Anfang und Ende einer Liebe den Film zu einer Laune seiner gerade aktuellen Emotionen macht.

Marriage Story

Hard Powder

RACHE, AM BESTEN KALT SERVIERT

3/10

 

HARD POWDER© 2019 Constantin Film

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, NORWEGEN, USA, KANADA 2019

REGIE: HANS PETTER MOLAND

CAST: LIAM NEESON, LAURA DERN, TOM BATEMAN, TOM JACKSON U. A.

 

Winter is coming. Zumindest in Hans Petter Molards Zweitverfilmung eines Thrillers, der im Original Kraftidioten heißt und mit Stellan Skarsgard damals einen Schauspieler gefunden hat, der in scheinbar stoischer Wut Rache übt. Einer nach dem anderen, so in der deutschsprachigen Übersetzung, ist ein Film nicht zwingend für kalte Wintertage. Vielleicht sogar mehr für den Sommer, um sich zumindest filmtechnisch abzukühlen. Was da an Schneemassen gepflügt werden, geht auf keine Skipiste. Gut, dass es eben Männer wie Filmvater Nils gibt, der sich durch die Unpassierbarkeiten des hohen Nordens kämpft. Und der von einem Tag auf den anderen seinen ermordeten Sohn beerdigen muss, der wiederum von Handlangern eines Drogenkartells aufgeknüpft wurde. Wer diese Killer waren, und was das Ganze mit dem toten Filius zu tun hat, das sind Fragen, die Nils nicht lösen kann. Also plant er den Suizid – bis sich fünf vor zwölf das Schicksal plötzlich wendet. Und der trauernde Papa zu den Waffen greifen kann.

Diese skandinavische Krimifarce konnte 2014 sogar noch den großen Bruno Ganz dafür gewinnen. Ein grimmiger Auszählreim voller Sarkasmus, ein blutiger Reigen sich aneinanderreihender Todesfälle, die allesamt nicht zufällig passieren, sondern im Strudel einer Vergeltungsspirale nach dem Domino-Prinzip einfach passieren. Keine Ahnung allerdings, warum Hans Petter Moland 5 Jahre später seinen recht gelungenen Film nochmal verfilmen muss. Womöglich, weil Übersee vom Original wenig weiß. Filme aus Europa sind dort nicht so der Bringer. Nicht, weil sie vielleicht nicht gerne gesehen werden wollen, sondern weil dort keiner Untertitel mag. Synchro-Studios gibt es auch keine, auf die Idee würde die USA niemals kommen, Fremdfilme zu übersetzen. Das britische Kino hat es da besser, die knapp 7000km Luftlinie über den Atlantik fällt da kaum ins Gewicht. Englisch ist Englisch, das wird in einen Topf geworfen. Das ist schon ein gewisser Kulturpatriotismus, eine Arroganz gegenüber einer vielfältigen Filmwelt, die mehr zu bieten hat als gewohnten Lokalkolorit. Die einzige Lösung: Zweitfilme. Mit selbem Inhalt, aber mit anderen Schauspielern, und an anderem Ort. Vorzugsweise gleich in Amerika. Und in amerikanischem Englisch. Weil um den Plot, um den ist es viel zu schade, war doch der Film hierzulande ein Erfolg.

Cold Pursuit heißt also die Kopie, und aus völlig unerfindlichen Gründen musste der Titel hierzulande in Hard Powder umgetextet werden. Wie jetzt? Vom Englischen ins Englische? Das ergibt keinen Sinn. Von solchen fragwürdigen Beispielen gibt es einige. ich sage nur: 96 Hours statt Taken. Womit wir schon bei Liam Neeson wären. Der kämpft sich in diesem Convenience-Aufguss mehr schlecht als recht, und vor allem schauspielerisch, durch eine scheinbar unüberwindbare Witterung. Neeson hat schon genug Rache geübt, das sieht man ihm an. So, wie er sich hier bis in die Chefetage durchmordet, hätte das Steven Seagal auch getan. So weit sind wir also schon gekommen. Schauspielerischen Ehrgeiz gibt es hier keinen mehr. Verheizt wird aber nicht nur Neeson, auch Laura Dern weiß in keiner Szene, was sie in diesem Film eigentlich macht – und zieht recht früh von dannen. Überzeugt also schon nicht das Staraufgebot in diesem Film, bleibt der Rest auch hinter den Erwartungen zurück. Hard Powder ist ein liebloses Thrillervehikel, fahrig inszeniert, grob abgespult, bleibt überhaupt nicht im Fluss. Chancen auf Neuverwertung eines Erfolges lässt man natürlich nicht ungenutzt, schon gar nicht als geschäftstüchtiger Filmemacher wie Molard einer ist. Aber sich selbst zu rebooten, wie es seinerzeit schon Ole Bornedal mit Nachtwache getan hat, um den Erfolg zu vermehren, hat für mich stets den Beigeschmack eines Ausverkaufs. Da ist das skandinavische Kino mit all seinen einzigartigen Ideen quer durch alle Genres ganz vorne mit dabei. Klar, aus diesem kreativen Füllhorn will jeder einen Becher voll. Wobei sich hier die Frage stellt: wer wen dazu genötigt hat, meist dem Original hinterherhinkende Kopien zu erstellen: der Künstler selbst, so wie unlängst Til Schweiger mit Honig im Kopf – oder das Studio? Eigentlich egal, wer Profit riecht und das Geld hat, schafft an.

Hard Powder

Wilson

MEIN PATSCHERTES LEBEN

5/10

 

wilson© 2017 Twentieth Century Fox Home Entertainment / ®Hinweis: WILSON – Als Download erhältlich!

 

LAND: USA 2017

REGIE: CRAIG JOHNSON

MIT WOODY HARRELSON, LAURA DERN, JUDY GREER, CHERYL HAINES U. A.

 

Erst auf der letzten Comic Con im November habe ich die Graphic Novel von Daniel Clowes in Händen gehalten – die Charaktersatire Wilson erzählt die eigentümliche Geschichte eines verhaltensauffälligen Sonderlings, dessen Nachbarschaft man vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln so ziemlich sicher meiden würde. Doch selbst im Schanigarten oder unterwegs bleibt niemand vor der unverblümt anmaßenden Direktheit des arroganten Weltverstehers verschont. Anders als Jack Nicholson in Besser geht’s nicht sucht der kauzige Brillenträger im Second-Hand-Anzug die Konfrontation. Der Lebensfrust macht sich breit, Anpassung an die Gesellschaft gleich Null. Wilson ist kein Weltverbesserer. Wilson ist ein Provokateur. Ein unsympathischer, zynischer noch dazu. Niemand, mit dem man gerne allein wäre. Da Nicholson schon seine Rolle als Misanthrop ausleben konnte und sich somit außer Obligo befindet, gibt es eigentlich nur einen weiteren Schauspieler, dem man diesen peinlichen Ungustl abnehmen könnte – Woody Harrelson. 

Der Mann mit der Zahnlücke zählt momentan zu den besten seines Fachs. Seine Rolleninterpretationen sind ausdrucksstark, intensiv und einnehmend. Woody Harrelson kann so gut wie alles spielen. Vom schießwütigen Psychopathen aus Natural Born Killers bis eben zu Figuren wie Wilson, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen und nach dem gewissen Etwas suchen, dass der ganzen Existenz wieder einen Reiz geben kann. Und dieses gewisse Etwas kommt – in Gestalt einer eigenen Tochter, von dessen Existenz Wilson nichts gewusst hat. Das hat seine Ex Laura Dern versemmelt. Die David Lynch-Ikone und Jurassic Park-Pionierin, die momentan auch im neuen Star Wars zu sehen ist, ergänzt Harrelson´s Schauspiel mit der Darstellung einer herrlich sarkastischen, proletoiden Unterschicht-Existenz, die nach Drogen und Suff mehr schlecht als recht versucht, innerhalb normaler Bahnen zu leben. Beide ergänzen sich prächtig – auch wenn das Suchen und Finden der zur Adoption freigegebenen Tochter relativ halbherzig inszeniert ist.

Obwohl Wilson als menschelnde Sozialsatire im melancholischen Grundtonus eines Rückblickes auf ein „patschertes“ Leben erzählt wird, stören hysterische Spitzen die Homogenität der Inszenierung. Wenn sich Laura Dern bei einem Familienbesuch mit ihrer verhassten Filmschwester keilt, mag das vielleicht in der Comicvorlage stimmig sein – in Craig Johnson´s Verfilmung leider nicht. Wenig später findet sich der Zuseher im leicht verwirrten Trott der Erzählung wieder, die als Tragikomödie im Knast-Milieu endet. Man muss Wilson nicht mögen, um den Film zu mögen. Aber besser wär’s – obwohl das Anfreunden mit dem sperrigen Charakter sicher schwierig wird.

Wilson

Star Wars VIII: Die letzten Jedi

EINE NEUE ORDNUNG

8,5/10

 

nullPhoto: Industrial Light & Magic / Lucasfilm ©2017 Lucasfilm Ltd. All Rights Reserved.

 

LAND: USA 2017

REGIE: RIAN JOHNSON

MIT MARK HAMILL, CARRIE FISHER, PETER MAYHEW, DAISY RIDLEY, ADAM DRIVER, JOHN BOYEGA U. A.

 

Ein guter Freund und bekennender Star Wars-Fan hat mir erst vor kurzem einmal gesagt: „Entweder dir gefällt Star Wars in seiner Gesamtheit, oder es gefällt dir eben nicht.“ Nun, da ist was dran. Denn hat man sich mal mit der schier endlos scheinenden Lucas-Galaxie angefreundet, und kennt man die Geschichte von Anfang an, gibt es meistens kein Zurück mehr. Solange die Gesetze in diesem exotischen Universum immer die selben sind, und all die Welten, Sterne und Planeten Gemeinsamkeiten aufweisen, die klar als diese eine Galaxie erkennbar sind, ist man als Star Wars-Fan auf der sicheren Seite. Da kommt der Nerd selbst von handgeschnitzten Fanfilmen nicht mehr los, vibriert in den heimischen Wäldern irgendwo ein Lichtschwert. Der Star Wars-Fan ist eine treue Seele, die Leidenschaft brennt, übertrieben gesagt, konstant wie die Zwillingssonnen auf Tatooine, und gibt erst in gefühlten Jahrmilliarden ihren Geist auf. Da kann selbst der wie ein Gummiball herumspringende Yoda oder das Liebesgeplänkel zwischen Anakin und Padme, beides aus der zweiten Trilogie, nichts daran ändern. Wenn diese Ausrutscher das Gemüt eines Freizeit-Jedi nicht zu erschüttern wissen, dann ist dieser mit dem Kino-Jour-fixe eines zweiten Weihnachten bis in die nächste Dekade hinein mehr als glücklich.

Glücklich war ich als Fan auch mit dem Start der neuen, aktuellen Trilogie 2015. Mit Star Wars VII: Das Erwachen der Macht hat der „neue“ Spielberg J. J. Abrams mit dem Wissen, worauf es bei Star Wars ankommt, gleichzeitig eine Retrospektive und einen Neuanfang kreiert. Eine Weltraumoper mit Wiedererkennungswert, einen „Gentle Reminder“ an eine phantastische Kindheit und an ein mögliches Weiterleben nach dem Tod Darth Vaders. Was aber sofort auffiel, mehr noch als die sichtlich vom Alter gezeichnete Urbesetzung von Krieg der Sterne, war die Wahl der Schauspieler und den Fokus auf die neuen Figuren, die das Fortleben des Universums von nun an leiten sollen. Mit Daisy Ridley, Oscar Isaac, Adam Driver und John Boyega war ein Ensemble entdeckt worden, welches das Gelingen der neuen Trilogie garantieren soll – und garantieren wird. Das war schon bei Episode IV – Eine neue Hoffnung so. Wären die smarten Charaktere nicht gewesen, hätte es weniger Identifikationsfiguren gegeben und hätte George Lucas nicht so viel Wert auf das Gefühlsleben seiner Figuren gelegt, wäre womöglich alles ganz anders gekommen. Der Wert von Star Wars liegt im Fühlen seiner Helden. Und dieses Empfinden, dieses Zweifeln und Wüten – das weiß auch Rian Johnson in Episode VIII: Die letzten Jedi zu transportieren.

Von Produzentin Kathleen Kennedy bis über das grüne Lichtschwert hinweg gelobt, hat das neue Lucasfilm-Wunderkind Johnson den bislang wohl ungewöhnlichsten Film der Franchise abgedreht. Und das, weil auch die Star Wars-Schmiede die neue Rezeptur für einen Erfolg wie Game of Thrones erkannt hat. Diese beiden Welten haben im gegenwärtigen Zustand zumindest in ihrem Aufbau mehr gemeinsam als man vermuten würde. Die Saga rund um Westeros folgt sowohl in den Büchern als auch in der Serie einer unorthodoxen Erzählweise. Sie bleibt stets unberechenbar, skizziert seine Helden wie Antihelden gleichermaßen in einem chargierenden Grau, es gibt kein reines Gut und kein reines Böse mehr. Und die Tragödien und sich zuspitzenden Höhepunkte bleiben längst nicht mehr an den Eckpunkten einer Storyline aus dem Lehrbuch sitzen. Mit Game of Thrones war es an der Zeit, das Publikum neu herauszufordern. Und Kennedy wie Johnson haben verstanden. Episode VIII: Die letzten Jedi ist unter der neuen Rezeptur genau das geworden – ein unberechenbares, galaktisches Stakkato voller Emotionen und einer inneren Zerrissenheit, die alle Menschen und Wesen der weit weit entfernten Galaxis zu durchdringen scheint. Ganz so wie die Macht, die alles zusammenhält. Scheinbar alles zusammenhält. Doch die Macht, das Credo, das Zeitalter der Jedi – sie scheint so, wie sie gewesen und fast bis auf den letzten Ritter vernichtet worden ist – vorbei zu sein. Da hat der einsame Grieskram Luke Skywalker, der sich in den Ruinen des ersten Jedi-Tempels verkrochen hat, fischen geht und die Milch von bizarren Seekühen melkt, gar nicht mal so Unrecht. So kann es nicht mehr weitergehen. Wenn, dann müssen die Parameter des Universums anders angelegt werden. Nicht die erste Ordnung, sondern eine neue Ordnung muss her.

Und so krempelt Episode VIII: Die letzten Jedi vieles um. Die scheinbare Endzeit des Guten wird zu einem Kräftemessen, einer Reise nach Rom, bei der immer wieder ein Stuhl weniger zur Verfügung steht. Kaum ein Star Wars-Film hat so viele Überraschungen parat. Kaum ein Star Wars-Film teilt so viele Finten aus. Stets passiert, womit man doch nicht rechnet. Die letzten Jedi ist eine atemlose Symphonie in galaktischem Zwielicht, ruhelos und wendungsreich wie ein Indiana Jones-Abenteuer. Knapp an der Tragödie und bühnenreif wie ein Shakespeare-Drama. Alleine schon der Thronsaal des obersten Führers Snoke ist Burgtheater pur. Johnson umgibt sich mit den Besten ihres Fachs. Die Vielfalt der Lebensformen macht den Phantastischen Tierwesen aus dem Harry Potter-Universum ernsthafte Konkurrenz und erweitert den Artenreichtum um eine weitere Potenz. Tatsächlich gibt es Szenen, die aus der Welt von J. K. Rowling hätten sein können. Hat man sie womöglich Hand anlegen lassen? Möglich wärs. Doch Harry Potter ist Warner Brothers. Also ist es reiner Zufall.

 

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Die Handlung des wuchtigen, atemberaubend schön fotografierten und trick- wie ausstattungstechnisch höchst anspruchsvoll komponierten Intermezzos findet ihre Perfektion in der Verflechtung mehrerer Handlungsebenen, die anderswo vielleicht für Verwirrung sorgen würden – in Episode VIII: Die letzten Jedi gerät das parallel laufende Miteinander und zeitgleiches Geschehen zur erlesenen Perfektion. Auch hier finden wir das Know-How gelungener Fernsehserien wieder, die oftmals vieles gleichzeitig erzählen müssen. Niemals zuvor war die Helix-Spirale des Narrativen dichter, durchdrungener, spannender. Und ja – Episode VIII ist tatsächlich, so, als würde man Episode V: Das Imperium schlägt zurück spoilerfrei und zum ersten Mal sehen – spannend, intensiv und ungemein aufwühlend. Wer jetzt noch möchte, kann sich von Star Wars, so, wie wir es kennen, langsam aber doch verabschieden. War Das Erwachen der Macht noch die Übergabe des olympischen Feuers, so sehen wir nun dem Farewell einer Epoche entgegen. Doch keine Sorge, das Zeitalter von Leia, Luke und Han Solo ist eine Basis aus unverwüstlichem Granit, auf welcher die Next Generation in neue, unbekannte und unerwartbare Richtungen blickt. Wir befinden uns also immer noch – der Nostalgiker sei getröstet – tief in der Fandom-Galaxie, die ihre Strahlen immer weiter in den leeren Raum schickt. Die alten Jedi sind obsolet – die neuen werden neu erwachen, in der besagten neuen Ordnung, unter neuen Regeln.

Episode VIII: Die letzten Jedi ist die Erinnerung an das Vergangene und Vergängliche von Star Wars, die Seelenschau der Starken und Schwachen und die Erneuerung eines Bekenntnisses. Man darf lachen, man darf bangen, man darf den Kloß im Hals spüren. Auch wenn Episode VIII: Die letzten Jedi nicht unbedingt der beste Teil der Saga geworden ist – und das aufgrund des Charakters eines ruhelosen Zwischenspiels und der nun folgenden langen Wartezeit bis zu Episode IX – so ist das Vorspiel zum Phoenix aus der Asche der Macht zumindest der am meisten unangepasste Teil der Saga geworden. Ein unerwarteter und gleichzeitig erhoffter Paradigmenwechsel, der sich erfüllt hat und wie ein Funken das Feuer neu entfacht. Das ist nicht von mir, das hat Rey gesagt.

Und ja, es stimmt.

Star Wars VIII: Die letzten Jedi