All of Us Strangers (2023)

JEDER LEBT FÜR SICH ALLEIN

8/10


allofusstrangers© 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2023

REGIE / DREHBUCH: ANDREW HAIGH

CAST: ANDREW SCOTT, PAUL MESCAL, JAMIE BELL, CLAIRE FOY, CARTER JOHN GROUT U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Wie einsam und allein ist der Mensch denn tatsächlich, Zeit seines Lebens und im manchmal schnell, manchmal langsam dahinfließenden Strom der Jahrzehnte? Was davon ist nur Fassade, was Imagination, und wie sehr braucht es andere, um sich geborgen zu fühlen? Diese Fragen zu beantworten, scheinen oft unbequem. Weil sie Tatsachen als Licht befördern, die keiner erkennen will. Diesen Fragen stellen sich unter anderem auch Filmemacher und erörtern auf höchst unterschiedliche Weise, wie Alleinsein sich anfühlen kann. Der Mensch kommt allein auf die Welt, interagiert während seines Lebens mit anderen, verlässt sich, wenn es gut geht, auf Mutter und Vater, später auf den Lebensmenschen, wenn sich einer finden lässt, um dann, allein, wieder diese Welt zu verlassen. Begegnungen und die Zugehörigkeit zu anderen schafft den nötigen Antrieb, um immer weiterzumachen. Fehlt diese Komponente, bleibt zumindest die Hoffnung, es könnte einmal so werden. In Uberto Pasolinis Mr. May oder das Flüstern der Ewigkeit wird die Einsamkeit des Menschen inmitten von Menschen als tieftrauriges, fast schon defätistisches Requiem inszeniert, das einem die Kehle zuschnürt. David Lowery schürt mit seiner metaphysischen Meditation A Ghost Story den Schmerz des Erinnerns und das Verlieren in den Erinnerungen eines vergangenen Lebens, sowohl der Lebenden als auch der Toten. Der Mensch wird in diesen Filmen dazu aufgefordert, sein Dasein – und auch den Tod – ertragen zu müssen, in dem Bewusstsein, mit seiner Tatsache der Existenz stets allein zu bleiben, weil man die eigene Existenz nicht teilen kann. Weil sie das ist, was man hat.

Diesen Existenzialismus im Film lässt Andrew Haigh einen Großstadttraum träumen, in der sich die Grenzen zwischen Realität und Imagination von Anbeginn an auflösen. Im Zentrum des Psychogramms steht, umgeben von sozialem Vakuum, ein Mann namens Adam, wohnhaft in einem über der Skyline von London schwebenden Appartmenthaus, das so gut wie leer steht. Adam ist somit ein einsamer Kosmonaut, der auf das Millionentreiben einer Großstadt hinunterblickt, ohne dazuzugehören. Er ist allein und einsam, antriebslos, gedankenverloren, zehrt an der Energie des Sonnenaufgangs, der, so kommt es vor, für ihn allein seine Show abzieht. Abgegrenzt und abgekoppelt von einem Leben im Miteinander ist auch Nachbar Harry (Paul Mescal), der eines Abends an seiner Tür läutet. Anfangs will Adam lieber keinen Kontakt, doch kurze Zeit später, nachdem klar ist, dass beide queer sind und füreinander Zuneigung empfinden, entsteht eine zaghafte Beziehung, die stets unterbrochen wird von einer wundersamen Tatsache, die Zeit und Raum neu konjugiert. Denn Adam, der in seinem zwölften Lebensjahr beide Elternteile bei einem Autounfall verloren hat, bekommt die Gelegenheit, Mutter und Vater wiederzusehen. Er muss dazu nur das Haus seiner Kindheit aufsuchen, und alles ist plötzlich wieder so wie früher, als wäre Adam wieder zwölf. Doch das ist er nicht, und das wissen auch seine Eltern, denen bewusst ist, längst gestorben zu sein.

Was würde man nicht dafür geben, geliebten, von uns gegangenen Menschen nochmal sagen zu können, was man immer schon sagen, nochmal fragen zu können, was man immer schon fragen wollte. Und einfach nicht mehr die Gelegenheit dazu hatte. Diese Möglichkeit wird Adam offenbart, und er nutzt sie. Er verabschiedet sich neu, kann seine Eltern nochmal umarmen, die Dinge ins Reine bringen und ihnen erzählen, wie es ihm seit damals ergangen war. Andrew Scott gibt dem einsamen Menschen, der den Verlustschmerz nicht überwinden kann und Angst davor hat, neuen zu erleiden, mit einer verletzlichen Intensität, dass man den Eindruck hat, man würde ihn schon lange kennen. Es wird fühlbar, was er empfindet, denn es sind Emotionen, die uns allen vertraut sind. All of Us Strangers wird zur immersiven Seelenreise an eine in farbiges Licht getauchte Urangst, geschützt vom Mantel der Verdrängung. Haigh reißt diesen herunter. Ecce homo, vermeint man ihn sagen zu hören. Und da ist er, dieser Adam, ein einsames menschliches Wesen, hin und hergerissen zwischen Sehnsucht, Abschied und von einer Reiselust ins Innere seines Selbst übermannt.

Vielleicht, so könnten manche vielleicht kritisieren, gibt sich All of Us Strangers einer überzeichneten Traurigkeit hin. Ich finde: Emotionen wie diese sind zu wahrhaftig, um als Kitsch bezeichnet zu werden. Leicht waren die Dreharbeiten womöglich nicht, Scott scheint sich dabei selbst an so manch schmerzliche Erfahrungen in seinem Lebens erinnert zu haben. Haighs Film ist an Intimität und Nähe kaum zu überbieten, ist surreal, voller Traumsequenzen und Erinnerungen, getaucht in Farbspektren und unterlegt mit hypnotisierendem Score, der Platz lässt für Klassiker wie The Power of Love von Frankie goes to Hollywood und diesen endlich von der Weihnachts-Playlist streicht. All of Us Strangers ist eine Naherfahrung und ein Psychotrip, vielleicht gar eine Geistergeschichte, aber ganz sicher keine leichte Kost und ein schweres, ich will nicht sagen sentimentales, aber wehmütiges Gefühl hinterlassend; einen Kloß im Hals, einen Druck auf der Brust. Befreiend ist Haighs Film nicht, dafür aber in seinem epischen Erspüren am Dasein, das aus Verlust und Suche besteht, berauschend und wunderschön. Hoffnung hat der Film keine, doch jede Menge Erkenntnis. Vor allem diese, dass Sehnsucht auch Geborgenheit bedeuten kann.

All of Us Strangers (2023)

The Creator (2023)

DIE TRÄNEN DER ANDROIDEN

6/10


THE CREATOR© 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: GARETH EDWARDS

DREHBUCH: GARETH EDWARDS, CHRIS WEITZ

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, MADELEINE YUNA VOYLES, GEMMA CHAN, KEN WATANABE, STURGILL SIMPSON, ALLISON JANNEY, RALPH INESON, AMAR CHADHA-PATEL, MARC MENCHACA U. A.

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, in allen Zeitungen und, weil es so einfach geht, auf sehr vielen elektronischen Geräten. Als App, die sich ungeniert der lizenzfreien Datenaneignung hingibt, um mehr zu wissen als der User mit seinen unzureichend ausformulierten Prompts. Künstliche Intelligenz treibt uns alle um, macht Angst und schafft gleichermaßen Freizeit, wenn die Dinge an die Technik delegiert werden können. Dafür sind KIs schließlich da, und nicht dafür, sich als neue Spezies zu etablieren, auf einem Planeten, der ohnehin schon kaum mehr Ressourcen hat. Gareth Edwards, Held der Star Wars-Franchise und Virtuose im Schaffen von Bildern, die das Phantastische in natürliche Settings integrieren, hätte sein Roboterdrama nicht punktgenauer ins Kino bringen können. The Creator gibt sich schließlich der großen Frage hin, was wohl aus unserer Welt werden könnte, wenn künstliche Intelligenz mit eigenem Bewusstsein auf ein Daseinsrecht pocht und zum Teil einer rätselhaften Evolution wird, die Homo sapiens immer mehr den Rang abläuft.

Das sind prinzipiell mal, ohne viel nachzudenken, interessante Überlegungen. In einem schönen Film, der an die postmodernen (ich will nicht sagen: postapokalyptischen) Welten eines Simon Stålenhag (The Electric Dreams) erinnert. Bizarrer architektonischer High-Tech-Gigantismus zwischen naturbelassenen Landschaften überwiegend der asiatischen Hemisphäre – alles getaucht in mal zu-, mal abnehmendes Tageslicht; mal grobkörnig, mal leicht verwaschen. Es ist, als wären diese Gebilde wirklich da. Es ist, als wären diese Androiden, Simulants genannt, mit dem täuschend echten Antlitz diverser Gesichts-Sponsoren niemals weggewesen. Betrachtet man sie im Profil, erkennt man sie leicht an diesem Hohlraum zwischen Kiefer und Wirbelsäule, die eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist. Diese Androiden könnten die Vorstufe zu den Replikanten sein, mit welchen sich der Blade Runner zeitlich eigentlich früher, aber angepasst an The Creator viele Jahrzehnte später herumschlagen wird. Bei Gareth Edwards ist es das Jahr 2065. KI in jedweder Form hat bei den Westmächten längst seine Chance verspielt, nochmal groß rauszukommen. Aufgrund eines nicht näher definierten atomaren Zwischenfalls, welcher die Zerstörung von Los Angeles zur Folge hatte, ist in den USA der Geist aus dem Computer persona non grata – anders als im Osten, denn dort ist die Koexistenz zwischen Mensch und Maschine zum wahrgewordenen Wunschtraum eines John Connor geworden, der sich in der Welt des Terminators mit einer ganz anders gearteten, menschenfeindlichen KI namens Skynet herumschlagen musste. Im Osten schließlich wäre alles eitel Wonne und selbst Androiden würden den Weltreligionen wie dem Buddhismus folgen, würden sich die Westmächte nicht, was plausibel scheint, als Weltpolizei aufspielen und dem Fortschritt dank einer monströsen, im Orbit stationierten Waffe namens Nomad, den Krieg erklären. In diesem Tauziehen zwischen Ost und West sucht ein amerikanischer Ex-Agent namens Joshua Taylor (John David Washington) seine bei einem Anschlag vermeintlich draufgegangene Geliebte, die Teil eines Rebellenrings rund um den KI-Entwickler Nirmata gewesen ist und von Joshuas Doppelleben nichts wusste. Im Zuge seiner Bestrebungen fällt ihm auch noch die Roboter-Superwaffe Alpha O in die Hände – ein junges Androidenmädchen, das womöglich weiß, wo Joshuas Geliebte steckt, und wo auch Nirmata zu finden ist, dem alle habhaft werden wollen.

Die abenteuerliche Odyssee quer durch eine atemberaubend arrangierte Zukunft mit Robotern und Vehikeln, die frappant an Star Wars und eben Rogue One – A Star Wars Story erinnern, ist eine Sache. Die andere ist Gareth Edwards‘ und Chris Weitz‘ erschreckend naiver Zugang zur Materie. The Creator ist ein Film, der vor allem den Filmemachern gefällt, der sich selbst gefällt und, um diese Harmonie aus Natur und High-Tech nicht zu stören, allerlei Kompromisse für seinen Plot einzugehen bereit ist. Alles soll gut ins Konzept passen, passt aber nicht zu dieser übergeordneten Vision einer – ich sag‘s mal so – völlig unmöglichen Zukunft, die an so vielen Ecken und Enden so viele Fragen aufwirft, das man gar nicht mal anfangen will, diese – zumindest mal für sich selbst– zu beantworten.

Das fängt allein schon damit an, dass The Creator völlig ignoriert, dass die Welt, in der wir womöglich leben werden, sowohl an Überbevölkerung als auch unter Ressourcenknappheit leidet. Ist sowieso schon alles dicht gedrängt und die Existenz am Kippen, braucht es zu allem Überfluss Maschinenmenschen, die uns ersetzen. Diese zu bauen, kostet Geld. Wer finanziert das? Wieviel kostet ein Android? Können sich diese bereits selbst herstellen? Was sollen diese Streifzüge durch heruntergekommene Fabrikhallen, an denen „echte“ Menschen werkeln, während das, was vom Fließband steigt, das Nonplusultra eines High-Tech-Endprodukts darstellt?

Nichts ist in einer Welt wie dieser umsonst. Womit zahlen Androiden ihren Strom, den sie abzapfen? Menschliche Profitgier ist plötzlich kein Thema mehr, Landfraß nicht der Rede wert. Wo Gareth Edwards hinblickt, führen Androiden-Bauern ihre Wasserbüffel übers Feld. Hinken Androiden, nur weil sie die Gesichter alter Menschen haben, den lehmigen Dorfweg entlang. Menschenleere Strände, Inseln in der Andamenensee, idyllische Ja natürlich!-Wirtschaft inmitten eines Techno-Krieges? Das ist Kitsch, der ohne Kontext vielleicht funtkionieren würde. Die Welt dieser Zukunft seufzt in entrückter Melancholie vor lauter Science-Fiction-Romantik, als wäre Caspar David Friedrich im Roboterzeitalter wiedergeboren. Nur passt diese pittoreske Fiktion nirgendwohin, sie ist die gefällige Momentvorstellung eines Visionärs, der schöne Bilder liebt, schluchzende KI-Kinder und letzte Küsse vor dem Supergau, wie Felicity Jones und Diego Luna, kurz bevor der Todesstern den Palmenplaneten Scarif in Schutt und Asche verwandeln wird.

The Creator ist ein Bilderbuch aus einer irrealen Zukunft. Eines, das man gerne durchblättert, wovon man aber die rundum verfasste Geschichte nicht unbedingt mitlesen muss, denn dann könnte man Gefahr laufen, festzustellen, dass Edwards Film in ereiferndem Glauben an das Erstarken künstlicher Lebensformen dem Fortschritt der KI Tür und Tor öffnen will. Eine Conclusio, die mir nicht ganz schmeckt.

The Creator (2023)

The Boogeyman (2023)

NICHT ALLE MONSTER IM SCHRANK

6/10


THE BOOGEYMAN© 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ROB SAVAGE

DREHBUCH: SCOTT BECK, BRYAN WOODS, MARK HEYMAN

CAST: SOPHIE THATCHER, VIVIEN LYRA BLAIR, CHRIS MESSINA, DAVID DASTMALCHIAN, MARIN IRELAND, LISAGAY HAMILTON, MADISON HU U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Offene Türen sind des Nächtens ein No-Go. Wer will das schon, ins dunkle Nichts zu starren und sich allerhand Gruseliges darin vorzustellen, denn die Fantasie des Menschen kennt gerade in der Schwärze keine Grenzen. Warum nicht einfach schließen? Nichts da, im Kino gehen sie alle wieder auf – sogar, wenn sie versperrt sind. Im Schrank, da hat der Horror seine Startposition, da kann er nochmal ein Stretching hinlegen, bevor er die Schutzbefohlenen heimsucht – als Geist, als Portal in eine andere Welt, oder als schlaksiges Langbein mit mieser Fresse, das nichts anderes will, als die Angst furchtsamer Nichtschläfer zu schüren, denen tags darauf sowieso niemand glaubt.

Diese Schranktüren, die hat schon in den Achtzigern Steven Spielberg für sich genutzt. In Poltergeist ist der Ort dahinter, kaum zwei Quadratmeter, die Quelle allen Übels. Wie sehr dann viele Jahrzehnte später das Ganze nochmal und bis zum Augenrollen hin strapaziert wird, kann man nun im phantastischen Heimsuchungs-Streifen The Boogeyman erfahren. Abstellräume, soweit das nachtblinde Auge reicht: Biotope einer lebhaften Fantasie, die dank Kult-Schreiber Stephen King Gestalt annimmt. Monsterhorror gemixt mit dem Narrativ eines Haunted House-Dramas? Könnte von Guillermo del Toro sein (Crimson Peak). Ist er aber nicht. Diesmal war einer wie Rob Savage am Werk. Mit den Versatzstücken, die er zur Hand hat, sollte es keine Hexerei darstellen, einen Kinderlied-Helden wie diesen zum fiesen Meuchler umzufunktionieren. Wieso aber Kinderlied-Held? Der Boogeyman ist, eingedeutscht, im Grunde nichts anderes als der Bi-Ba-Butzemann, der laut Lyrics ums Haus tanzt. Der Butzemann wiederum steht für alles, was als Schreckensgestalt oder Dämon eben hinter Schranktüren passt, da ist die Auswahl groß und so auch die Möglichkeit zur freien Gestaltung dieser englischen Folklore-Figur, die ebenso als Schwarzer Mann bekannt ist. Also was jetzt? Im Grunde nur ein Platzhalter für sowieso alles Mögliche, was Angst macht?

Dieses Wesen also, wie kann es anders sein, nistet sich immer dort ein, wo Trauer, Schwermut und Verzweiflung herrschen. Je trauernder, umso mehr gibt’s für den Boogeyman zu holen. Im Haus des Witwers Will Harper zum Beispiel lässt es sich als Dämon ganz gut leben. Der Psychiater und seine zwei Töchter haben unlängst die Frau des Hauses zur letzten Ruhe betten müssen. Viel Gras ist über den Verlust noch nicht gewachsen. Gerade retour im Alltagsleben, haben es Vater und Kinder nicht leicht, Fuß zu fassen. Will Harper empfängt eines Tages in der hauseigenen Praxis einen seltsamen Mann, Mr. Billings (David Dastmalchian), der von einem ungelenken Schreckensding faselt, das alle seine Kinder auf dem Gewissen haben soll. Harper ist skeptisch, die Kinder sind es auch, doch als die kleine Sawyer (Vivien Lyra Blair, die junge Prinzessin Leia in Obi-Wan Kenobi) nebst wie durch Geisterhand geöffneter Schranktür auch einer grotesken Kreatur gewahr wird, will auch die ältere und desillusionierte Schwester Sadie der Sache auf den Grund gehen. Mit dieser Eigeninitiative gerät der Stein ins Rollen – und der Boogeyman fährt zur Höchstform auf.

Was Savage von Anfang an – und auch bis zum Ende – mehr oder weniger richtig macht, ist das von mir mal so genannte Alien-Prinzip, was so viel heißt wie: Mach dich rar, um richtig schrecklich zu sein. Den Boogeyman bekommt man also nie wirklich und niemals lang genug zu Gesicht, um sich ein Bild von ihm zu machen. Das expressionistische Grauen, wie ein surrealer Nachtmahr aus der Zeichenmappe des Alfred Kubin, manifestiert – um nicht zu sagen: teleportiert sich auf geheimnisvolle Weise wie eine nur Sekunden dauernde Einbildung, die man hat, wenn man glaubt, etwas Unnatürliches im Halbdunkel des Zimmers gesehen zu haben. Klar, dass der Film dann nicht bei Festbeleuchtung spielen kann. Klar auch, dass die Finsternis fast schon als personifizierter Main-Act die Regeln vorgeben muss, um überhaupt dem Boogeyman eine Bühne zu bieten. Das ist dann aber auch der Knüppel zwischen den Beinen, denn wie so oft wundert man sich über das dumme Verhalten neugieriger Nasen, die durchs Dunkel der Korridore schleichen, vielleicht noch nebenbei lauthals Hallo, ist da wer? rufen – wohlwissend, dass das Böse nicht weit sein kann.

Als Trauerdrama funktioniert The Boogeyman aber ganz und gar nicht, dafür kolportiert der Subplot lediglich die Fassade einer trauernden Familie, die niemals wirklich überzeugt. Für dieses Wesen jedoch müssen diese Parameter geschaffen sein – es will schließlich auch bekämpft werden. Was dabei entsteht, ist ein geradliniges Befreiungsszenario mit begrenzten Mitteln auf der Seite der Guten, vor allem effektiven Budenzauber und, wenn man die paar Sekunden zu schätzen weiß, knackiger Creature-Motion.

The Boogeyman (2023)

Avatar: The Way of Water

DER MENSCH UND DER NEID AUFS PARADIES

8/10


AVATAR: THE WAY OF WATER© 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JAMES CAMERON

BUCH: JAMES CAMERON, JOSH FRIEDMAN

CAST: SAM WORTHINGTON, ZOE SALDANA, STEPHEN LANG, SIGOURNEY WEAVER, KATE WINSLET, CLIFF CURTIS, JAMIE FLATTERS, BRITAIN DALTON, JACK CHAMPION, CCH POUNDER, JEMAINE CLEMENT U. A.

LÄNGE: 3 STD 13 MIN


Da gibt es Kunstwerke auf dieser Welt, die existieren scheinbar schon ewig, doch man hat sie selbst noch nicht gesehen. Die Pyramiden zum Beispiel, den Petersdom oder die Fresken des Michelangelo. Man weiß, dass diese von einer objektiven Schönheit sind, und man weiß, dass, würden diese mal wirklich vor den eigenen Augen in ihrer ganzen Realität erscheinen, wir sie schön finden müssten. Allein schon aufgrund der Art und Weise, wie sie entstanden sind. Und vor allem: wie lange. Das zu respektieren verlangt in gewissem Maße ein positives Feedback des Betrachters. Denn so viel Arbeit verdient, honoriert zu werden. Ist es also ehrlos, wenn der Applaus trotzdem ausbleibt? Viel mehr scheint es wie ein Gruppenzwang, unter welchem man gut finden muss, was die Mehrheit bereits überschwänglich liebt. Sich dem zu entziehen, ist manchmal nicht leicht. Und bei den Werken von James Cameron, die schon irgendwie, zumindest in der Welt des Films, einen gewissen Weltwunder-Status genießen, ist diese den Massen zugetragene Schönheit genauso etwas, was unmöglich nicht gefallen kann. Oder doch?

Beginnen wir mal damit, dass James Cameron, Visionär und Avantgardist in Sachen Film- und Kameratechnik, in erster Linie eben genau das ist: ein Techniker. Einer, der Science-Fiction und alles liebt, was irgendwie mit Wasser zu tun hat. Der so wie George Lucas einst nicht viel darauf gibt, was alles möglich ist, sondern viel mehr wissen will, was alles möglich sein kann. Und so macht er seine Filme. Mit einem Aufwand wie beim Bau der Pyramiden, mit eigens entwickelten Kameras und Methoden, die Bilder liefern sollen, wie das Publikum sie bis dato noch nicht gesehen hat. 13 volle Jahre lang konnte uns Cameron dies versprechen. Bis Mitte Dezember 2022. Denn da sollten wir sehen, ob das Blaue vom Himmel nicht nur eine Seifenblase ist, sondern greifbare Früchte aus dem Olymp des Eventkinos, die sich nun jeder von uns für spendable 20 Euro pro Nase pflücken kann. Wenn man ein Herz hat für Fantasy. Für simple Geschichten voller Pathos. Oder einfach zur Masse dazugehören will.

Eigentlich will ich das nicht. Aber Fantasy-Fan bin ich schon. Und Liebhaber des 2009 über die nichtsahnende Kinowelt hereingebrochenen ersten Teils – Avatar – Aufbruch nach Pandora. Damals hat mich weniger die schwindelerregende 3D-Optik zur Standing Ovation hinreißen lassen, sondern das konsequent bis ins kleinste Detail durchdachte Ökosystem eines fremden Mondes, angefangen von biolumineszierenden Pollen bis hin zu prähistorisch anmutenden Dickhäutern oder drachenähnlichen Flugwesen, mit welchen das Volk der Na’vi in Verbindung treten kann. Und nicht nur mit diesen Echsen können sie das, sondern mit allem. Mit den Pflanzen, mit dem Boden – mit dieser ganzen prachtvollen, so faszinierenden wie gefährlichen Natur, genannt Eywa – die Mutter. Die größte Idee Camerons war dabei aber immer noch jene, die Na’vi mithilfe eines zopfartigen Auswuchses mit Pandora in den Austausch treten zu lassen. Kann sein, dass wir Menschen mangels dieser Möglichkeit und der Tatsache, dass wir uns immer weiter von der Natur entfernen, angesichts dieses Privilegs neidvoll erblassen. Wut und Enttäuschung mischt sich dazu. Die Na’vi haben etwas, was wir nicht haben: Das Verständnis für das große Ganze.

Apropos großes Ganze: 2009 hat Cameron nur gezeigt, was in den tropischen Wäldern Pandoras so los ist. Jetzt bekommen wir die tropischen Gefilde präsentiert, die artenreichen Riffe und das, was jenseits der Riffe so lebt. Von Panzerfischen bis zu fremdartigen Walen. Eigentümlichen Seehasen, die Atemluft spenden oder Ichthyosaurier, die sich reiten lassen. Blickt man auf unsere Erde, so würde das Paradies von Raja Ampat im Nordwesten von Papua dieser Welt am nächsten kommen. Man spürt die tropische Wärme, das warme Wasser auf der Haut, das kühler wird, je tiefer man runtertaucht. Die wogende See und den die Schwüle lindernden Regen. Cameron nimmt sich Zeit, um seine Welt zu erklären. Das ist das, was er am besten kann. Was er noch kann und wir seit Aliens – Die Rückkehr längst wissen: Action inszenieren. Und mit dem Wasser spielen.

Also lässt der Meister des sündteuren Entertainments alles an Kameras auffahren, denen er habhaft werden konnte, lässt das Weta-Team bis zum Umfallen an organischen Texturen arbeiten, vermengt auf perfektionistische Weise Realaufnahmen mit digitalen Welten, die sich anfühlen, als wären sie der Parcour eines PS5-Computerspiels der neuen Generation. Selbst ist man einer der blauen oder aquamarinfarbenen Eingeborenen in vollendetem Performance-Capture und sprintet, schwimmt und taumelt durch ein trunken machendes Jump and Run-Szenario, das von so einer virtuosen Kamera begleitet wird, dass es schier unmöglich wird, nachzuvollziehen, wie ein solches Timing an Schnitt, Kamera und Bewegung die ganze Zeit gewährleistet werden kann. Während Avatar: The Way of Water anfangs oft zurückblickt auf den ersten Teil und in der zweiten Stunde auf Universum-Erkundungstour unter den Wasserspiegel geht, definiert die dritte Stunde das Actionkino neu. Was einst bei Star Wars – Episode IV für Ahs und Ohs gesorgt hat, lässt diesmal wieder die Kinnlade der Schwerkraft folgen. Da entstehen Bilder, die man nicht so schnell vergisst. Stets interagierend mit den geographischen Eigenheiten des Trabanten wie zum Beispiel einer täglichen Sonnenfinsternis, ist das wechselnde Licht des Tages und der Nacht auf der Haut der Na’vi die absolute Königsdisziplin für Kameramann Russel Carpenter und den Effekt-Spezialisten, die gemäldeartige Arrangements schaffen aus Körpern und Tieren, stets im hitzigen Dialog mit einer zerstörerischen Technik, die das Mysterium eines Paradieses unterwandert.

Die Sehnsucht nach dem Paradies ist vielleicht Camerons größte Versuchung, der er sich in jeder Szene hingeben will. Das Streben nach Perfektion in einem Film ist aber nicht immer alles. Kann sein, dass man Gefahr läuft, etwas klinisch Kitschiges abzuliefern. Als würde man eine KI fragen: Wie sieht eine schöne Landschaft aus? Ab und an passiert das hier. Die schwebenden Korallenbrocken sind dann doch zu viel des Guten, das meist strahlende Wetter zur Mittagszeit ein bisschen flach. Pandora sollte genauso ungemütlich sein wie manchmal unsere Welt. Doch diese Katastrophen kommen stets nur in Gestalt einer invasiven Menschheit, die sich nach einer ausgeknockten Erde nun diesen Mond unter den Nagel reißen will. Und da sind wir auch schon bei Camerons größter Schwäche: Die Geschichte selbst. Und ja: für ausgefeilte Plots ist der Mann schließlich nicht berühmt geworden. Weder bei Terminator noch bei Aliens noch bei Titanic. Seine Stories sind simpel und folgen einfachen Mustern. Gut und Böse bleibt gerne strikt getrennt, die Kritik am Raubbau natürlicher Ressourcen wird in universellen Bildern für jede Altersgruppe dargestellt.

Avatar: The Way of Water ist ein Film, an den man sich beim Zusehen erst gewöhnen muss. Oder besser gesagt: Das Auge, welches etwas Zeit benötigt, um einen gewissen Gleichklang aus dem Gesehenen zu machen. Jeder nimmt visuelle Reize anders wahr, mir zumindest fallen die Unterschiede zwischen Szenen mit höherer Bildrate und herkömmlich gefilmten Sequenzen deutlich auf, was aber im Laufe des Films zum Glück homogener wird – so auch der 3D-Effekt, den man bald nicht mehr wahrnimmt, sondern nur die erhöhte Plastizität sich bewegender Körper. Daher ist auch die letzte Stunde die Sternstunde in einem Film, der trotz dieser satten Laufzeit verblüffend kurzweilig erscheint, weil man die Chance bekommt, Hals über Kopf in eine Welt einzutauchen, von welcher man gerne ein Teil wäre. Cameron ist es unterm Strich gelungen, nicht allzu viel mehr versprochen zu haben als er uns letzten Endes gegeben hat. Das Avatar-Abenteuer ist zweifelsohne ein Meisterwerk technischer Präzision. Und das, was wir ohnehin nicht erwartet hätten, enttäuscht uns auch nicht. Genauso wenig wie die Pyramiden oder der Petersdom, von dem wir längst wussten, dass sie beeindruckend sein müssen.

Avatar: The Way of Water

Not Okay

SIE LIEBEN MICH, SIE LIEBEN MICH NICHT

7,5/10


notokay© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: QUINN SHEPHARD

CAST: ZOEY DEUTCH, MIA ISAAC, DYLAN O’BRIEN, NADIA ALEXANDER, SARAH YARKIN, KARAN SONI, BRENNAN BROWN, EMBETH DAVIDTZ U. A. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


So weit sind wir gekommen, rund 30 Jahre später, nach Etablierung des Internets und des World Wide Web: Die Sozialen Medien haben uns fest im Griff, vielen dirigiert es das Leben, anderen gibt es den Freibrief für Hass und Häme. Anderen, und nicht wenigen, gibt es die Möglichkeit, zeit- und kostensparend vor ein Publikum zu treten, um sich selbst zu präsentieren. Und damit geht’s erst so richtig los: Wer gefällt besser? Was gefällt besser? Das neue Publikum vor der Bühne sind Follower und Liker. Je größer das Publikum, desto besser das, was auf der digitalen Bühne abgeht. Oder doch nicht? Wie viel wert ist das Publikum, das sich für nichts mehr bemühen muss, außer dafür, einen Klick abzugeben? Mittlerweile lässt sich sowas sogar dazukaufen, aber keiner redet darüber. Manchmal schaffen es einige und treten Hypes oder ähnliches los, die dann wieder nach absehbarer Zeit so verpuffen, als wären sie nie da gewesen. In dieser Zeit aber kann man reich und beliebt werden. Mehr als beliebt. Angehimmelt. Zum Idol werden. Zum Helden. Zur mediasozialen Gottheit aus Werbung, Trend und Anbiederung.

So jemand wird Danni Sanders. Und es ist ein Aufstieg, raketengleich bis ins nächste Sonnensystem. Dabei war Danni beliebtheitsmäßig gerade mal noch Tellerwäscherin – zur Ikone mutiert sie durch einen Trick, der sich, wenn alles glatt läuft, später unter den Tisch kehren lässt. Berühmt will man im 21. Jahrhundert nämlich nicht nur Andy Warhol’sche 15 Minuten sein – sondern gefühlt auf ewig. Das sich der gläserne Mensch nicht mehr nur selbst genügt, sondern sich durch Likes wildfremder anderer definiert, ist bedenklicher Teil eines klugen, modernen Filmmärchens, dem Happy Endings am Allerwertesten vorbeigehen und hinter der Gefallsucht junger Menschen einen kärglichen Rest Selbstwert vorfindet, der nur deswegen so mickrig geworden ist, weil die eigene Ehre als Einsatz für die letzte Runde Beliebtheitspoker auf den Tisch kommt.

Und anfangs sieht es so aus, als hätte Poserin Danni Sanders, bis über beide Ohren selbstverliebt, maskenhaft und gekünstelt, richtig gute Karten. Dank eines Terroranschlags in der französischen Metropole Paris, der genau dann verübt wird, als sich Danni eben dort aufhält. Angeblich, jedenfalls. Denn in Wahrheit sitzt die eitle Schöne daheim, fingiert ihre Selfies auf Photoshop und macht sich so natürlich beliebt. Als dann das Grauen jenseits des Atlantiks hereinbricht, bleibt Danni nichts anders übrig, als traurige Mine zu bösem Spiel zu machen und sich selbst als Überlebende des Terrors bemitleiden zu lassen. Das ist Zündstoff, der sie unter dem Hashtag #NotOkay zur Leitfigur eines Trends werden lässt, der das Unwohlsein der Gesellschaft vor die Linsen mobiler Gerätschaften holt. Doch wo es Erfolg gibt – wie auch immer erreicht – gibt es auch Neider. Und nach dem Aufstieg kommt der tiefe Fall.

Disney+ hat mit der Posting-Satire Not Okay wieder mal den richtigen Riecher gehabt: Quinn Shephards Abrechnung mit den modernen Medien macht von Anfang an klar, wohin die Bestrebungen der bildschönen Lügenprinzessin letzten Endes führen werden. Daher zeichnet sie mit Liebe zum Detail und mit einem gewissen Quäntchen an Schadenfreude einen unwirtlichen Weg aus Verrat, Betrug und Vertrauensmissbrauch Richtung Untergang. Zum Glück verzichtet Shephard aber auf Zynismus oder derb-grotesker Polemik, zu der man sich gerade in diesem thematischen Untiefen gerne hinreißen lassen könnte. Zoey Deutch als Fake-Zeitgeistheldin rotiert als Influencerin um ihr massereiches Ego und bleibt dennoch plausibel und differenziert, mitunter funkelt von Anfang an schon die ungeschminkte Danni durch, die sie in den wenigen, aber ausdrucksstarken Momenten menschlich greifbar werden lässt. Viele von den Daily Postern im tatsächlichen Leben, so lässt sich nachvollziehen, könnten ähnlich gestrickt sein. Ganz ohne Betrug. Der kommt noch dazu, und lässt die Bombe in einer Größenordnung platzen, die fast schon dem Stern-Skandal rund um die Hitler-Tagebücher (Schtonk!) nahekommt. Alles für Prestige und Ruhm, und letzten Endes nichts für einen selbst. Mia Isaac als Greta Thunberg’sche andere Seite der Medaille, der es, ebenfalls berühmt, um die Sache geht und die nicht mit dem Selbstzweck die Mittel heiligen will, ist die gute Fee in einem Gewissenskonflikt der Generation Now!, die egal zu welchem Preis ihre Jünger sammelt.

Not Okay sticht schwachbrüstige Genrebeiträge wie Nerve so ziemlich aus, und muss auch nicht auf Horror tun wie Unfriend. Als ernstzunehmender Konkurrent tut sich nur noch die polnische Hassposting-Analyse The Hater hervor, nur weitab jeglichen leichtfüßigen Augenzwinkerns. Dieses hat Shephards Film aber reichlich, wird dabei aber keinesfalls weniger ernst oder aufrichtig. Was Not Okay zu sagen hat, kommt aus voller Überzeugung.

Gelungene Komödien mit Tiefgang gibt es selten – die aufrichtige Influencer-Satire um die Gier nach Likes ist aber eine, die das Problem virtuellen Erfolges am Schopf packt und so lange nicht loslässt, bis man den Boden unter den Füßen wieder spürt.

Not Okay

Fresh

ROTKÄPPCHEN UND DAS WOLFSRUDEL

8/10


fresh© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MIMI CAVE

SCRIPT: LAURYN KAHN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, SEBASTIAN STAN, JONICA T. GIBBS, CHARLOTTE LE BON, ANDREA BANG, DAYO OKENIYI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Männer wollen doch immer nur das eine! Vermutlich schon, denn wären die Triebe nicht, gäbe es keine Beziehungen. Oder nur wenige, rein platonische. Die Lust am anderen (oder gleichen) Geschlecht ist stets der Anfang von viel mehr. Oder bleibt in den niederen Gefilden von Sex und körperlicher Liebe verhaftet, weil so manche Männer einfach nur genau das wollen und Frauen auf ihre äußerlichen Reize reduzieren. Gegen die aufblasbare Gummipuppe aus dem Beate Uhse-Versandkatalog scheinen „echte“ Frauen aber stets die Nase vorn zu haben, nichts kann die natürliche Physis ersetzen. Um das zu bekommen, was Mann will, gibt’s Dating-Apps wie Tinder. Passen die Matches, ist noch längst nicht gesagt, ob‘s Auge in Auge dann auch noch hinhaut. Meist nicht, meist ist es nach einem One-Night-Stand nicht nur beziehungstechnisch vorbei, sondern auch die Würde dahin. Doch Mann hat bekommen, was er wollte und zieht weiter. Wie ein Jäger auf der Pirsch nach Freiwild. Oder – wie wir seit EAV’s Märchenprinzen wissen: Zu viele Jäger sind der Hasen Tod.

Dazwischen jedoch, und um einiges weiter abseits, bleibt das Patriarchat nicht unkreativ, um mehr zu bekommen als möglich ist. Diese Erfahrung muss die junge Noa alsbald machen, als sie, entnervt und enttäuscht nach so einigen Blind Dates, im Supermarkt Bekanntschaft mit dem äußerst attraktiven Steve macht. Wen haben wir da vor uns: „Winter Soldier“ Sebastian Stan, sehr schick, sehr distinguiert und charmant. Ein Mann, den Frau sich nur erträumen kann, weil es diesen in natura einfach nicht gibt. Kurz danach folgt das Grand Opening einer leidenschaftlichen Liaison, wie wir sie schon aus diversen anderen RomComs oder erotischen Krimis kennen. Das dann alsbald ein unangenehmes Erwachen folgt, liegt auf der Hand. Der Punkt in dieser Sache ist nur: Welcher Art ist dieser Wermutstropfen auf die rosarote Glückseligkeit, der so bitter schmeckt wie ein roher Satanspilz?

Die Erkenntnis sickert wie der Schmerz beim Anstoßen der kleinen Zehe mit einiger Verzögerung sortenrein ins Hirn – und ist umso verstörender, je länger man darüber nachdenkt. Die Frau als Objekt der Begierde findet in Mimi Caves haarsträubender Groteske Fresh ihre destruktivste Bestimmung, der Horror macht sich in den Köpfen breit und in der sprachlosen Empörung, zu welchen niederträchtigen Marktlücken das starke Geschlecht sich hinzureißen gedenkt. Carey Mulligan aus Promising Young Woman, die mit der stumpfen Schwanzsteuerung von Männern Schlitten fährt, hätte selbst hier wohl einige Zeit gebraucht, um ihren vor Erstaunen geöffneten Mund zu schließen. Doch es ist, wie es hier ist, und bedurfte zumindest bei mir eines zweiten Anlaufs, nach so vielen Tabubrüchen dennoch dranzubleiben.

Fazit: Es lohnt sich. Denn das Ganze erzeugt einen Topspin, dem man sich ungern entziehen will. Fresh ist eine so abstoßende wie faszinierende, zutiefst makabre Satire auf Körperwahn und männliche Dominanz, Missbrauch und sexueller Versklavung. Themen, die in einem 70er Jahre Grindhouse-Slasher als billig-perverse Blutoper für Magenverstimmungen gesorgt hätten. Mimi Cave und Drehbuchautorin Lauryn Kahn sind dieser Phase aber erhaben. Ihr Film hat Stil und trotz all der Verrohung enormen Anstand. Bei wohl kaum einem anderen Film der letzten Zeit trifft die Bezeichnung fancy wohl am ehesten zu wie auf diesen: das Grauen ist schick gekleidet, die Ausstattung akkurat und so penibel wie in American Psycho. Das Intellektuelle bringt das aalglatte Böse erst hervor, dass in einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit agiert. Sebastian Stan ist dafür wie geschaffen – er übertreibt nicht, und er gibt sich keinem charakterlichen Wandel hin wie in so manchen Thrillern, die dadurch enorm viel Plausibilität einbüßen. Das Juwel des Films ist aber die wirklich bezaubernde Daisy Edgar-Jones (Krieg der Welten), die hier ihr Spielfilmdebüt hinlegt und dabei – einer jungen Sissy Spacek ähnlich – in einer Mischung aus Furcht, Trotz und Esprit Mulligans Femme Fatale den Rang abläuft und die Herzen ihres gesamten Publikums gewinnen wird.

Mit ihrer Performance – und der innovativen, filmischen Erzählweise, die mit symbolhaften, kurios geschnittenen Bildcollagen die kluge Metaebene offenbart, schafft es Fresh, die Grenze des guten Geschmacks zu verschieben und mit genug spottender Coolness beängstigende männliche Vorlieben so zu konterkarieren, dass sie einem nichts mehr anhaben können.

Fresh

No Exit

MITGEHANGEN, MITGEFANGEN

3,5/10


noexit© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DAMIEN POWER

CAST: HAVANA ROSE LIU, DANNY RAMIREZ, DAVID RYSDAHL, DENNIS HAYSBERT, DALE DICKEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Schneechaos ist das Beste, was einem Thriller passieren kann. Gut, manchmal reicht auch Regen und Gewitter, denn bei so mieser Witterung will keiner wirklich aus dem Trockenen. In Drew Goddards Bad Times at the El Royale hat’s zumindest geschüttet wie aus Schaffeln, was Chris Hemsworth mit seinen blanken Brustmuckis nicht sonderlich gestört hat. Denn das Wetter ist die Stimmungskanone schlechthin. Da rücken die verbliebenen Insassen zusammen, auch wenn sich diese untereinander fremd sind. Keine Ahnung, was der oder die Einzelne schließlich im Schilde führt oder welchen Rattenschwanz an Lebensbeichten herumgeschleppt werden muss. In Quentin Tarantinos Hateful Eight ist das Schneechaos, ähnlich wie in vorliegendem Film No Exit, der Schraubstock für eine angespannte Gesamtsituation, in der sich alle auf Augenhöhe begegnen müssen – das Katz- und Mausspiel, sofern es eines geben soll, kann beginnen. 

Und ja, auch bei diesem Direct-to-Disney+-Thriller stehen die Zeichen auf Sturm. Wir befinden uns irgendwo auf dem Weg nach Salt Lake City, das heißt: Ex-Junkie Darby tut das, sie ist mit dem Auto unterwegs und will zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Blöd nur, dass ein Blizzard die Straße unpassierbar macht. Zurück in die Reha will Darby auch nicht, also bleibt ihr nur die Touristeninfo am Rande eines Waldes, weitab jeglicher Kontrollinstanz. Natürlich ist sie in dieser wohlig eingerichteten, mit allerlei Nationalparkinfos ausgestatteten Zuflucht nicht allein. Vier weitere Individuen harren besseren Zeiten entgegen. Ein älteres Ehepaar und zwei Mittzwanziger, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine pennt, der andere blickt verstohlen um sich, wagt dabei aber nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen. Doch so Freaks gibt’s immer, was soll da schon groß passieren. Der Breakfast Club für die Durchreise ist angerichtet, am besten, man verbringt die Zeit mit Kartenspielen – was die Anwesenden dann auch tun. Der Film wäre nicht aufregender als das Wetterpanorama geworden, wäre Darby nicht durch Zufall auf das entführte und gefesselte Mädchen in einem weißen Van gestoßen. Einer oder eine aus der Gruppe muss also Dreck am Stecken haben. Nur wer?

Wenn Darby ihr Geheimnis noch für sich behält und gute Miene zu bösem Spiel macht; wenn alle fünf um den Tisch sitzen und das dubiose Kartenspiel Bullshit spielen, dann hat das latent bedrohliche Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Den es aber auch wieder schnell verliert, so nach dem Motto: wie gewonnen, so zerronnen. Denn sobald klar wird, wer hier nun perfide genug ist, um ein unschuldiges Mädchen zu entführen, sackt die Spannungskurve nach unten. Vielleicht aber helfen ein paar Story-Twists, denn viel mehr ist angesichts des begrenzten Settings ja vielleicht gar nicht möglich. Irrtum – gerade in solchen Situationen lässt sich die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens ausreizen. Da wären aufgesetzte Wendungen wie diese hier, die offensichtlich nur dazu da sind, um kreatives Defizit zu kompensieren, gar nicht mal nötig. Man hätte den Faktor X noch durchaus weiter in die Spieldauer hineinnehmen können, doch die Mystery weicht einem trivialen Duell Gut gegen Böse, wobei hier niemand Wert legt auf plausible Charaktere, mit Ausnahme vielleicht von Havana Rose Liu, die als moralisches Zentrum ihre sozialen Defizite durch ritterliche Verzweiflungstaten ausgleicht. 

No Exit überrascht nicht, sondern bestätigt immer wieder die Vermutungen des Zuschauers. Der würde sowieso anders agieren, und das gleich zu Beginn. Doch da wäre aus Damien Powers Romanverfilmung ein Kurzfilm geworden. Na und? Vielleicht wäre der aber knackiger.

No Exit

The Eyes of Tammy Faye

GELDBERGPREDIGTEN IM SPENDEN-TV

7/10


tammyfaye© 2021 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: KANADA, USA 2021

REGIE: MICHAEL SHOWALTER

CAST: JESSICA CHASTAIN, ANDREW GARFIELD, CHERRY JONES, SAM JAEGER, VINCENT D’ONOFRIO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Am Ende erkennt man sie nicht wieder. Das soll Jessica Chastain sein? Allerdings. Und dabei ist es gar nicht so, dass sich die rothaarige Schöne hinter Kilos an Make-up und Latex vergräbt wie manch anderer Star. Chastain ist noch immer sie selbst. Nur ist die Person, die sie verkörpert, so grundlegend anders angelegt als all ihre bisherigen Rollen, womit man mitunter glauben könnte: hier ist rein die sichtbare Verwandlung schuld an diesem Ausbruch aus festgelegten Stereotypen. Ist aber nicht so. Chastain probiert tatsächlich, gegen die Richtung zu schwimmen, der sie bislang souverän gefolgt war: als toughes, intellektuelles, mitunter auch recht kühles feministisches Kraftpaket, das zwar mit seinen inneren Dämonen hadert, nach außen hin aber die Wahrnehmung der Frau als dem Manne um einiges überlegen durchaus schärft. In The Eyes of Tammy Faye spiegelt sich diesmal aber etwas ganz anderes: der bemitleidenswert naive Glaube an die Dreifaltigkeit, das Gute auf der Welt und dem Götzenbild des Mammon irgendwo in der Schublade in einem Zimmer des pompösen Eigenheims mit dem Namen Bakker unter der Türklingel.

Sorry, noch nie von denen gehört. Aber das ist kein Wunder. Wir haben es, wie so oft in letzter Zeit, mit lokalen Größen aus der amerikanischen Mediengeschichte zu tun. Tammy Faye und Jim Bakker, das waren Fernsehprediger und Evangelisten, die „Silbereisens“ des christlich-manischen Fernsehens, in der Gott Liebe ist und Liebe Gott, und ganz sicher trägt Jesus uns alle wirklich im Herzen. Verbale Brotkrumen, die zum Ende jeder Sendung unter die Zielgruppe gestreut wurden. Die Bakkers hatten gar ihren eigenen Fernsehsender, die Zuschauerzahlen waren enorm, die beiden konnten sich alles leisten, was nur zu leisten war – schwimmend im Geld und sonstigem Konsum und gleichzeitig so spendengeil wie alle NGOs Amerikas zusammen. Ist ja alles für den guten Zweck, da lässt sich nichts dagegen sagen. Wenn der Zweck aber auch den eigenen gut gesicherten Lebensabend einschließt, wird’s problematisch. Und so war’s dann auch: Jim Bakker muss sich mit Vorwürfen herumschlagen, das Geld anderer Leute veruntreut zu haben. Geht moralisch und rechtlich natürlich gar nicht. Tammy Faye gibt die Ahnungslose, weiß ja mit dem Zaster und dergleichen nicht umzugehen; nimmt, was sie bekommt und tut, was Reiche eben so tun. Dafür hat sie ihr Herz am rechten Fleck, singt wie Helene Fischer und steht zur Integration Homosexueller. Würde man den ganzen Fernsehschnickschnack weglassen, gibt sie sich überraschend liberal und offenherzig. Nah am Wasser gebaut ist die aufgedonnerte Dame obendrein, und so verschwimmt oft das Make-up auf ihrem tränenreichen Gesicht.

Kein einfacher Charakter, den Chastain hier für das große Kino neu interpretiert. Allerdings hat das Biopic von Michael Showalter (Die Turteltauben, The Big Sick) zumindest hierzulande keinen Weg auf die Leinwand gefunden. Verdient hätte es das, und wie schon Steven Soderberghs schillernde Bühnenbeichte Liberace hält The Eyes of Tammy Faye nicht nur deren stark geschminkte Augen in die Kamera, sondern auch ganz viel Glamour, Mode und Zeitkolorit. Während Chastain über Jahrzehnte hinweg unter den gerade trendigsten Frisuren und Outfits in die unterschiedlichsten Existenzstadien ihres so erfolgreichen wie -losen Lebens schlüpft, bleibt Andrew Garfield als Jimi Bakker stets er selbst, mit immer grauer werdender Mähne und Latexbäckchen. Die Wandelbarkeit Chastains hätte er wohl gerne, doch zumindest im Spiel findet er als kapitalistischer Pharisäer, der dem Schauspieler durchaus ähnlich sieht, einen guten Zugang zum Publikum.

Showalter setzt auf Ausstattung und die gut sortierten Fakten eines Medienskandals, in dem Gott lediglich als Lippenbekenntnis die zweite Geige spielt und eigentlich wie so oft verschnupft darüber reagieren sollte, wenn die Geldwechsler wieder mal den Tempel füllen.

The Eyes of Tammy Faye

The Last Duel

DES MANNES EIGENTUM

7,5/10


thelastduel© 2021 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: BEN AFFLECK, MATT DAMON, NICOLE HOLOFCENER

CAST: MATT DAMON, ADAM DRIVER, JODIE COMER, BEN AFFLECK, HARRIET WALTER, SAM HAZELDINE, NATHANIEL PARKER, ALEX LAWTHER U. A.

LÄNGE: 2 STD 32 MIN


Was Ridley Scott wirklich gut kann, und das schon über mehrere Jahrzehnte hinweg: Weltgeschichte als großes Kino zu verpacken. Niemand sonst kann das so gut, niemand sonst hat ein so lässiges Händchen dafür, Dramatik und Schauwerte mit intuitivem Sinn für Balance zusammenzubringen. Ridley Scott, der ist ein Handwerker. Ein nimmermüder, eigenmotivierter Künstler, wie Rodin oder Picasso es waren. Kaum ist ein Projekt fertig, braucht es keine Schaffenspause, um zum nächsten Tonklumpen oder zur nächsten Leinwand zu greifen. Als wäre der Brite ein Meister im Schnitzen hölzerner Reliefs, ausgestattet mit Hammer, Meißel und sonstigem Schnitzwerkzeug, um die Gesichtszüge der sich windenden, historischen Gestalten grob zwar, aber mit viel Esprit, in die dritte Dimension zu holen. Auch The Last Duel ist so ein Relief, eines aus dem Mittelalter, bereits wurmstichig, abgewetzt, aber mit unvergleichlicher Patina. The Last Duel ist nicht die Feinarbeit eines akribischen Nerds wie zum Beispiel Wes Anderson. Dieses Drama aus dem 14. Jahrhundert ist unvergleichbar impulsiv und rustikal – und gerade deshalb so lebendig. Nicht zuletzt auch dank eines formidablen Cast, der sich aus bekannten, aber veränderten Gesichtern zusammenstellt, und die allesamt, eben weil sie auch privat längst miteinander vertraut sind, wunderbar wechselwirken. Großes Schauspielkino ist das, neben der ganzen im Zwielicht des Morgens gedrehten Geschichte aus knirschenden Harnischen, vom Rauch dunstigen Kemenaten und kleinlauten Burgfrauen im Mieder, die mit ihrem Klatsch und Tratsch Social Media bereits vorwegnehmen.

Durch diesen Stille-Post-Mechanismus kommt es auch zu einem historisch belegten, denkwürdigen Moment des späten französischen Mittelalters unter der Herrschaft Karl VI: zum sogenannten letzten Duell auf Leben und Tod, damit Gott darüber entscheiden kann, wer in seiner Wahrheit nun Recht behält und wer nicht. Es kämpfen Matt Damon als Junker Jean de Carrouges und Adam Driver als Jacques Le Gris. Zuerst auf dem Pferd, wie bei einem Tjost, dann mit Schwertern, Äxten, Messern und Fäusten. Scott hat für diese Szene alles gegeben. Das ist maskulines Mittelalter in seinem reinsten Naturalismus. Grund für diese Urteilsfindung: die Vergewaltigung von Carrouges Ehefrau Marguerite (bildschön und oscarverdächtig: Jodie Comer). Unter Freunden wäre diese unschöne Episode wohl im Stillen geregelt worden, unter Ausschluss des eigentlichen Opfers. Doch hier sind andere Räder am Werk – nämlich die der Eifersucht und des Neids. Im Laufe des Films wird klar, dass Le Gris stets der ist, der auf die Butterseite fällt, während Carrouges nichts bekommt. Nicht mal das Erbe seines Vaters. Ein gekränktes Ego unter dem Licht vergangener Tage. Dieses Ego will Genugtuung. Und wir erfahren – ähnlich dem Konzept des Kurosawa-Klassikers Rashomon – aus drei Blickwinkeln, was sich wirklich zugetragen hat. Zuerst aus der Sicht der beiden Männer, dann aus jener der Frau.

Und Ridley Scott nimmt sich Zeit, in die Tiefe zu gehen. Kürzt seine gewohnt routinierten Schlachtenszenen auf das Minimum, um den Figuren viel mehr Spielraum zu geben. Den nutzen sie. Und selbst Ben Affleck beweist Talent. The Last Duel gewährt überraschend viel Einblick ins oftmals romantisierte Tagesgeschäft von Rittern und Machthabern, die sich stets in Korrelation mit dem Volk befinden. Das Ritterdrama erzählt von Geldnot, dem Einsatz für Erfolg und damals tauglichen Werten. Ernüchternd dabei ist, dass #MeToo längst noch kein Thema war – für Marguerite vielleicht, jedoch für niemanden sonst. Frauen waren nicht mehr als eine Sache, das Eigentum des Mannes. Hätte Carrouges nicht eingewilligt, aus Neid und wütender Rivalität die Schuld zu tilgen, wäre das Unglück einer vergewaltigten Frau kein Thema gewesen. Eine traurige, finstere Zeit also. Genauso finster ist auch dieser Film, der versucht, zu verstehen, wie es ist, sich mit ertragenem Leid arrangieren zu müssen, um als Frau zu überleben.

The Last Duel

Nomadland

HEIMKEHREN NACH IRGENDWO

7,5/10


nomadland© 2020 20th Century Fox Studios


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: CHLOÉ ZHAO

CAST: FRANCES MCDORMAND, DAVID STRATHAIRN, LINDA MAY, CHARLENE SWANKEY, BOB WELLS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Nomadland ist ein Western. Vielleicht ein Neo-Western, oder ein Spätwestern oder überhaupt ein Post-Millennial-Western. Aber ein Western. Dieses Bild des einsamen Cowboys oder Pistoleros oder Pioniers, der gegen den Sonnenuntergang reitet, immer weiter Richtung Pazifik. Der das ganze Land, all diese Wildnis dort in Nordamerika, sein Zuhause nennt. Umgeben von den Geräuschen der Natur und seinen Launen. Was für ein Mythos. Was für eine Romantik. Chloé Zhao gefällt das. Aber nicht dieses offensichtliche Bild, das ich hier  beschrieben habe. Sondern das Bewusstsein einer Nation dahinter, diese seit den alten Zeiten recht erfolgreich archivierte Gesinnung, die so oft mit Freiheit und allen möglichen Möglichkeiten verbunden wird. Dieses damit einhergehende, stereotype Bild der Männer und Frauen. Doch Chloé Zhao liebt ihr Land, in das sie emigriert ist; will das Nest, in dem sie selbst lebt, nicht beschmutzen; will auch niemanden, der scheinbar falsche Richtungen anpeilt, an den Haaren zurückhalten. Chloé Zhao will etwas nachspüren. Sie ist neugierig, wissbegierig. Will herausfinden, was diese Menschen antreibt, was sie straucheln lässt, wovon sie träumen, wohl wissend, diesen Traum niemals realisieren zu können.

Es ist zwar nichts faul, in diesem Staatenbund, zumindest aus Zhaos Sicht – aber nicht alles läuft nach Plan. Als Hemmschuh gilt der Mythos. Das war schon in ihrem beachtlichen, semidokumentarischen Spielfilm The Rider so. Das Draufgängertum des Rodeos; das toughe, unkaputtbare Männerbild des Westens. Nicht Indianer kennen keinen Schmerz, sondern der junge weiße Mann mit Hut und Halstuch. Ihr Blick darauf ist keiner des Mitleids, sondern des Mitgefühls. Zhao hält sich zurück, will beobachten, besetzt ihre Filme gerne mit Laiendarstellern oder mit genau den Darstellern, die diese ihre Geschichten tatsächlich erlebt haben. Viel Regie bedarf es dabei nicht – diese Menschen müssen nur sein, wie sie sind. Und Zhao bettet all das in eine Geschichte – die allerdings keinen Anfang und kein Ende hat, sondern Momentaufnahmen sind, mit ungewisser Zukunft.

In Nomadland hat Fern alias Francis McDormand (ausgezeichnet mit dem Oscar) ebenfalls einen Traum zu Grabe getragen, im Zuge ihrer existenziellen Not aber einen neuen ausgemacht – einen, der sich möglich und nicht verkehrt anfühlt, weil er dem Nationalbewusstsein entspricht. Sich dem Stolz der Pioniere bedient. So hat Fern also ihren Van, den sie sich recht kommod eingerichtet hat und mit welchem sie von einem saisonalen Job zum nächsten tingelt, quer durchs Land, durch die Prärie und durch die atemberaubend pittoreske Landschaft eines so reichen Kontinents. Sie trifft auf die Kommune der Nichtsesshaften, freundet sich mit urigen Originalen an, findet sogar etwas fürs Herz. Wir sehen den Alltag eines Lebensstils, der schon vor tausenden von Jahren als abgelegt gilt, den die Tuaregs noch praktizieren oder die Hirten der mongolischen Steppe. Nomadland ist ein in sich ruhender, unaufgeregter, sehr präziser Film, der völlig wertfrei einen Zustand widerspiegelt, der weder als trostloses Sozialdrama steht noch als idealisierte Aussteigerromantik. Von beidem hat McDormand etwas, unter beidem leidet und frohlockt sie gleichermaßen. Ihr Spiel ist ungekünstelt und zurücknehmend, direkt beiläufig – und ohne Scham vor kompromittierenden Alltagsszenen. Vielleicht hat ihr eben diese ungeschminkte, lockere Natürlichkeit den dritten Goldjungen eingebracht. Herausragend ist ihre Darstellung nicht, ungewöhnlich auch nicht. Dafür aber so angenehm normal. Diese Normalität sucht man im Kino fast schon vergeblich. Sowas kann McDormand. Und es könnte auch sein, dass sie und Zhao zu einem neuen Dreamteam werden, obwohl ich die Filmemacherin eher als jemanden einschätze, der viel lieber zu neuen Ufern aufbrechen möchte. Wie eben für den neuen Marvel-Film Eternals, der zu Weihnachten in die Kinos kommen soll. Auf ihren Filmstil, verbunden mit dem Disney-Franchise, kann man gespannt sein.

Nomadland ist vor allem auch in seiner Machart bemerkenswert. Zhao begleitet ihre Reisende rund ein Jahr lang, von Winter bis Winter. Und zeigt dabei sehr viel in sehr kurzen Szenen und Sequenzen, die aber, trotz des akkuraten Schnittstils, in ihrer Gesamtheit eine elegische, dahingleitende Ruhe ausstrahlen. Trotz der Umtriebigkeit, trotz der Rastlosigkeit ihrer Protagonistin. Mit Michael Glawogger hat Zhao einiges gemeinsam – vor allem wenn ich mir seinen letzten Film, Untitled, ins Gedächtnis rufe. Beide haben diese Kunstfertigkeit, über das Reale zu erzählen und sich dabei eines prosaischen Alphabets zu bedienen. Das gereicht zu einem geduldigen, wohlwollenden Beitrag für ein neues, altes Hollywood.

Nomadland