Monster (2023)

NONKONFORME UNGEHEUER

7,5/10


monster© 2023 Monster Film Committee


ORIGINAL: KAIBUTSU

LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

DREHBUCH: YŪJI SAKAMOTO

CAST: SAKURA ANDŌ, EITA NAGAYAMA, SOYA KUROKAWA, HINATA HIIRAGI, HARUKO TANAKA, MITSUKI TKAHATA, AKIHIRO TSUNODA, YŪKO TANAKA, SHIDŌ NAKAMURA U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Der Mensch ist dem Menschen schutzlos ausgeliefert. Zumindest in seinen ersten Lebensjahren, als Baby, als Kleinkind, und natürlich noch als zur Bildung verpflichteter Schüler. Wehren können sich so junge Menschen wohl kaum, und wenn, dann drohen Sanktionen, die das familiäre Miteinander schwerer machen, als es ohnehin schon ist, wenn die in der Pubertät auftretende soziale Reibung mit den Eltern hinzukommt – der erste Schritt zur Abnabelung, das erste Tasten nach einer Welt der Selbstbestimmung. Dieses Ausgeliefertsein und den Wunsch, die Gunst der Erwachsenen zu erlangen; diese selbstlose, idealistische Liebe, womöglich zum gar nicht mal eigenen Nachwuchs, ist etwas, das Hirokazu Kore-Eda zutiefst beschäftigt – und ihn einfach nicht loslässt. Mit Shoplifters aus dem Jahr 2018 hat das Ganze angefangen. In seinem Gewinner der Goldenen Palme wird das fremde Kind zum Teil einer kurios anmutenden, allerdings ums Überleben kämpfenden Patchworkfamilie, da die eigenen Blutsverwandten längst versagt haben. In Broker, seinem übernächsten Film nach La Verité – Leben und lügen lassen mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche (indem es zwar auch um das Ausgeliefertsein in der Kindheit geht, jedoch auf dem indirekten Weg der Rückblenden) sieht sich die Mutter nicht imstande, ihr eigenes Neugeborenes großzuziehen – und macht, mithilfe zweier karitativer „Menschenhändler“, auf Selfmade-Akquisition, wenn es um die Adoption ihres eigenen Kindes geht. Wieder stellt die Biografie eines Lebens den Beginn eines solchen als eine dem Wind und Wetter ausgesetzten Opfergabe dar, als ein Zustand, der Gnade erfordert. Und diese meistens auch genießen darf. Denn Kore-Eda ist kein Schwarzseher, seine Filme haben Herz und Hoffnung.

Auch das allerneueste und eben auf der Viennale exklusiv präsentierte, vielschichtige Jugenddrama Monster will nicht einfach so das Handtuch werfen. Die zum Teil recht verloren scheinenden Figuren in dieser stets neugierigen Komposition aus wechselnden Perspektiven und Wahrheiten haben allesamt die Chance, ihren Standpunkt einem Publikum zu erklären, das lange im Dunklen tappt. In ihrer, dem Film inhärenten Welt ist die Chance dafür eher gering und dringt vielleicht auch nur am Rande eines tobenden Taifuns an das Ohr der anderen, die dann hoffentlich verstehen werden, warum der Lehrer, Mr. Hori (Eita Nagayama), sich irgendwann am Dach des Schulgebäudes wiederfindet, um von dort in den Tod zu springen. Oder warum die Direktorin Fushimi (Yūko Tanaka) von Minatos Schule immer wieder dieselben Stehsätze rezitiert, ohne die Emotionen der anderen zu begreifen. Vielleicht, weil sie selbst zu sehr traumatisiert ist, um die Bedürfnisse, die rings um sie herum nach Verständnis lechzen, wahrzunehmen. Monster – auf japanisch: Kaibutsu – verbindet, wie eben auch in Kore-Edas anderen Filmen – das Hilflose einer Kindheit, die in ihrer Entwicklung keinen Stereotypen folgt, mit dem Ende des Lateins der Erwachsenen und stellt beide auf eine Stufe, bringt beide auf Augenhöhe. Und an den Rand der Verzweiflung. Doch wie gesagt; nur an den Rand.

Im Mittelpunkt dieses manchmal vielleicht zu gewollt ausgestalteten Vexierspiels steht der rätselhafte Junge Minato, aus dessen Verhalten wir allesamt nicht schlau werden. Schon gar nicht dessen alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Andō). Fast könnte man meinen, der Junge sei besessen von irgendetwas – einer höheren, vielleicht finsteren Macht. Und langsam, aber doch, wird er zum Ungeheuer. Mit dem Gehirn eines Schweins, welches er, wie er behauptet, selbst besitzt. Auf der anderen Seite steht Eri (Hinata Hiiragi), ein kleiner Sonderling, der in seiner eigenen Welt lebt und stets gut aufgelegt scheint, obwohl er tagtäglich in der Schule gemobbt wird. Sein Vater, ein Trunkenbold, redet ihm schließlich ein, an einer Krankheit zu leiden, deren Symptome sich in seinem seltsamen Verhalten manifestieren. Ausgetrieben muss es ihm werden, so, wie das gespenstische Treiben von Minato – oder die Lust zur Gewalt, die Mr. Hori an den Tag legt. Alle drei sind Monster. Das Monströse auf der anderen Seite – die konformistischen Gepflogenheiten Japans, in welchem die Norm das größte Gut ist, bietet zwar soziale Sicherheit, errichtet allerdings auch eine Mauer der Inakzeptanz allem Unberechenbaren gegenüber. Wie sehr so ein Zustand uneinschätzbar bleibt, ist Sache der Wahrnehmung.

Alle fünf zentralen Protagonisten – die beiden Kinder, die Mutter, der Lehrer und die Direktorin – müssen in diesem Sozialthriller ihr bestes geben, um ihre Sichtweisen zu kombinieren. Und so erhalten nicht nur sie, sondern auch wir als Publikum das Gesamtbild eines längst nicht so spektakulären Ist-Zustandes: Es ist die verzweifelt wirkende Geschichte einer vielleicht jungen Liebe, die als freundschaftliche Zuneigung beginnt – und später zumindest Minato Angst macht, bis dieser genug Mut aufbringt, sich diesem Ausgeliefertsein zu widersetzen. Viel schöner und treffender lässt sich der Heldenmut inmitten eines tosenden Sturmregens gar nicht darstellen. Unweigerlich erinnert Monster an Lukas Dhonts letztjähriger Filmtragödie Close. Auch hier: zwei Freunde, die in ihrer bereichernden Zweisamkeit mehr füreinander empfinden – und der Angst vor dem Unbekannten, die diese Liebe mit sich bringt, unterliegen. Kore-Eda spinnt diese Situation einen Schritt weiter, in eine weniger radikale Richtung. Er, der die japanische Etikette hinterfragt, will die Gunst für ein Leben nicht anderen überlassen, will dem Sturm nicht alles, was sich schutzlos draußen befindet, ausliefern. Selbstbestimmung, Individualität und die Identifikation mit den eigenen Wünschen sind wie vermeintlich tief vergrabene Schätze, die vielleicht schon im Innern eines alten Waggons gehoben werden können. Diese rauszubringen ans Licht des Tages ist eine Challenge, die Kore-Edas Film womöglich zu seinem bisher besten macht.

Monster (2023)

Broker – Familie gesucht (2022)

MENSCHENLEBEN ZU VERGEBEN

6/10


broker© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

BUCH / REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: SONG KANG-HO, GANG DONG-WON, BAE DOONA, JI-EUN LEE, LEE JOO-YOUNG, SEUNG-SOO IM, JI-YONG PARK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Das macht schon was mit jemandem, der draufkommt, nicht gewollt auf die Welt gesetzt worden zu sein. Der rein zufällig lebt und atmet, obwohl er nicht geplant war. Eine Existenz, entstanden aus einem Unfall. Gut, es gibt Eltern, die nehmen dieses Ereignis dankend an, denn es wird ihr Leben verändern und um unersetzbare Aspekte bereichern. Es gibt aber auch welche, die niemals Mutter oder Vater sein wollen. Oder können. Wie fühlt man sich, als ein Kind, das keiner haben will? Eine neue Familie, ja klar. Aber dass die leiblichen Eltern einen nicht wollen, lässt sich, wie es scheint, nicht verwinden. Da kann es passieren, dass man im Erwachsenenalter aus der Not der anderen, die noch nicht wissen, wie ihnen geschieht, weil zu klein, Profit herausschlägt. Zwecks Rache. Als Genugtuung. Als Eigentherapie, wie auch immer.

Dong-soo zum Beispiel, selbst einmal Waisenkind gewesen und in entsprechender Einrichtung aufgewachsen, hat sich darauf spezialisiert, gemeinsam mit seinem älteren Freund Sang-Hyun „weggeworfene“ Babys, wie sie es nennen, an kinderlose Eltern zu verhökern, die das offizielle und oft recht mühsame Prozedere zur Adoption umgehen wollen. Klar ist das ein Verbrechen, nämlich astreiner Menschenhandel. Auf Nachhaltigkeit und Gewissenhaftigkeit, wie das die Behörden tun, kann dabei nur schwer gesetzt werden. Da passiert es eines Nachts, dass das Schicksal des Babys von So-young, abgegeben an der Babyklappe einer Kirche, für die Dong-soo arbeitet, von Polizei und Sozialbehörde genauestens beobachtet wird. Und auch So-young hat es sich tags darauf anders überlegt und will ihr Kind wieder zurück – allerdings ist dieses bereits in den Händen der beiden Gauner, die aber im Grunde ihres Wesens herzensgut sind und von da an die Mutter des Kindes mit auf ihre Tour durchs Land nehmen, um die richtigen Eltern zu finden, die auch bereit sind, einen stolzen Preis zu zahlen. Warum da So-young mitmacht, erscheint anfangs nicht klar. Doch irgendwie fühlt sie sich zu den beiden Außenseitern, die selbst keine Familien haben und verstoßen wurden, hingezogen. Wen wundert es, wenn die Biographie der jungen Mutter ein ähnliches Trauma beinhaltet wie das der beiden Gefährten, die fortan so etwas wie eine notgedrungen zusammengewürfelte Familie bilden.

Song Kang-ho, wohl der berühmteste südkoreanische Schauspieler, und das schon seit Jahrzehnten, war Haus- und Hofakteur Park Chan-wooks und wurde durch Bong Joon-hos Parasite weltbekannt. Jetzt hat er letztes Jahr glatt noch die Goldene Palme für sein Schauspiel im vorliegenden Film namens Broker – Familie gesucht erhalten. Er spielt nicht schlecht, was anderes würde mich auch wundern, doch eine herausragende Leistung ist das keine. Dafür spielen ihn seine Kolleginnen und Kollegen fast schon an die Wand, allen voran Im Seung-soo als der kleine Hua-Jin, der sich in den Wagen der Broker schleicht, weil diese für ihn eine Familie sein könnten.

Die Idee des Films, inszeniert und geschrieben von Palme-Gewinner Hirokazu Kore-Eda, der mit dem thematisch recht ähnlichen Shoplifters auf sich aufmerksam machte, hat alles, was ein Seelenwärmer fürs Kino so braucht: Wehmut, Hoffnung, die inspirierende Eigendynamik einer kleinen Gemeinschaft und das erstrebenswerte Gefühl, gebraucht zu werden. Alle, die hier durch Südkorea tuckern, sind Verstoßene, denen das Glück in ihrem Unglück widerfährt, einander plötzlich wichtig zu sein. Dafür findet der Filmemacher vielsagende Momente voller Wahrhaftigkeit, die aber dennoch recht spärlich gesät sind. Denn so richtig mitnehmen will Broker sein Publikum manchmal doch nicht. Es ist, als wären sich die fünf Individuen selbst genug, und wir als Zuseher müssen gar nicht so genau nachvollziehen können, was nun als nächstes passiert.

Zu sprunghaft erscheint mir der Film, nachdem er sich anfangs recht viel Zeit gelassen hat, um überhaupt in Fahrt zu kommen. Kaum sind die Reisenden in Busan, sind sie plötzlich in Uljin oder Seoul. Dann sind da plötzlich Eltern, dort plötzlich Eltern. Es reißt Kore-Eda herum in seinem Skript, und zumindest mich selbst irritiert der plötzliche Orts- und Szenenwechsel manchmal doch so sehr, dass es mich fast bis zum Ende auf Distanz hält. Broker – Familie gesucht ist ein Film, der manche Details verschluckt, während er manchen wiederum zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Dazwischen finden sich einige szenische Highlights, die aber dennoch keinen perfekten Film daraus machen.

Broker – Familie gesucht (2022)

La Vérité – Leben und lügen lassen

ÜBER-MAMA UND ICH

6,5/10


laverite© 2019 Prokino


LAND: FRANKREICH 2018

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: CATHERINE DENEUVE, JULIETTE BINOCHE, ETHAN HAWKE, MANON CLAVEL, LUDIVINE SAGNIER, ALAIN LIBOLT U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Erst kürzlich hat Filmlegende Catherine Deneuve in der eher schwermütigen Tragikomödie Der Flohmarkt von Madame Claire ihren ganzen Besitz verhökert, um sich aufs Ende vorzubereiten. Natürlich trägt die Situation im Film keine autobiographischen Züge. Die Deneuve hat weitergemacht – und einen diesmal seelenverwandteren Film gedreht, in dem sie selbst als Schauspielerin eine Schauspielerin spielt, die auf ihren Ruhm als extrovertierte Künstlerin zurückblickt, die diesen Ruhm allerdings auch als sozialen Störfaktor mit sich herumschleppt, was ihr aber erst so richtig bewusst wird, als Töchterchen Juliette Binoche samt Familie an den Ort der Kindheit zurückkehrt, um auf die eben erst veröffentlichten Memoiren der Grand Dame anzustoßen. Allerdings vermengt sich der reine Wein mit einigen Wermutstropfen, denn die Biographie entspricht laut allen anderen an ihrem Leben Beteiligten wirklich nicht der Wahrheit.

Bei Mutter-Tochter-Geschichten hat die Deneuve ein offenes Ohr. Im Flohmarkt-Film hatte sie sogar ihre eigene leibliche Tochter als Co-Star, nun aber ist es Juliette Binoche, die auch gleich Filmgatte Ethan Hawke mitbringt, der geradezu etwas eingeschüchtert und als kaum dem Französischen mächtiger Amerikaner eine gewisse kaugummikauende Naivität an den Tag legt. Eine verzichtbare Rolle, aber dennoch schön, ihn zu sehen, denn Hawke hat so etwas Grundsympathisches, da kann auch so eine bescheidene Staffage nichts dagegen machen. Über dieses Willkommens-Setting in den Gemächern der exaltierten Künstlerin hinaus haben wir es in Verité ganz klassisch mit einem gesprächsbereiten Künstlerdrama zu tun, in dem es ausschließlich um Schauspielerei, schauspielerische Konkurrenz, Jungstars, dem Abgesang von Ikonen und hochnäsige Attitüden geht. Umso irritierender die Tatsache, dass Hirokazu Kore-eda, Gewinner der Goldenen Palme für seine außergewöhnliche Sozialballade Shoplifters, sich dieses eigentlich relativ nichtssagenden Stoffes angenommen hat. Gab es in Shoplifters noch allerlei an mikrokosmischer Familiensynthese zu betreiben, flanieren all die bekannten Gesichter in La Vérité – Leben und lügen lassen natürlich ausgesprochen geschickt, aber doch nur an der Oberfläche dahin. Eine Bühne ist das Ganze, sowohl die Kulisse des Films im Film als auch der eigentliche Film, in welchem Catherine Deneuve wie ein Brummkreisel um sich rotiert, dabei vieles plötzlich aus anderen Blickwinkeln sieht, weil Juliette Binoche den Kreisel immer wieder anstößt, wenn’s um anstößige Unwahrheiten aus ihrem Buch geht.

Künstlerfamilien haben es nicht leicht. Denn Künstler sind manchmal für andere recht anstrengende Ich-Agenturen, die sich als Mittelpunkt von etwas ganz Großem sehen. Alle anderen aus der Sippe müssen dann sehen, wo sie bleiben, müssen entweder in die Fußstapfen ihrer erzieherischen Vorbilder treten oder sich damit abfinden, als Zaungast danebenzustehen. Darum geht’s in La Vérité, und ja, zwischen Eigenheim und Filmstudio wird viel geredet, sinniert und aus dem Fenster geblickt, manchmal entwickelt Kore-eda tatsächlich auch eine metaphysische Zwischenebene, die sehr vage bleibt, dadurch aber recht reizvoll wirkt und das elitäre Filmvergnügen etwas auflockert. Kore-edas Regiegespür formt selbst aus diesem sehr speziellen Stoff ein sehenswertes Arthouse-Familientreffen, mit Gefühl für Zwischenmenschliches, für leisen Sarkasmus und für geschickt nuancierte Dialoge.

La Vérité – Leben und lügen lassen

Shoplifters

FAMILIE KANN MAN SICH AUSSUCHEN

7,5/10

 

shoplifters© 2018 Filmladen

 

LAND: JAPAN 2018

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: LILY FRANKY, SEKURA ANDÔ, MAYU MATSUOKA U. A. 

 

Bei Oma ist es doch am Schönsten. So sieht es zumindest mal auf den ersten Blick aus. Oma wohnt allerdings in einem kleinen Häuschen mit Garten, das vollgeräumt ist mit Dingen, und eigentlich viel zu wenig Platz bietet für fünf Personen, die hier auf engstem Raum leben. Vor allem wenn es kalt ist, hier in Tokio, lässt sich nicht mal der Garten nutzen. Bei fünf Personen bleibt es auch nicht, bald sind sechs Mäuler zu stopfen, weil ein kleines, verwahrlostes Mädchen bei den scheinbar unbekümmert vor sich hin lebenden Fünf wohl besser aufgehoben ist. So finden das Nobyo und Osamu, die das Kind entdecken und sich seiner annehmen. Wie es aussieht, scheinen die leiblichen Eltern den ungeliebten Nachwuchs gar nicht mal zu vermissen. Da ist es besser, Kind sucht sich eine andere Familie. Denn die kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen, da muss der Nachwuchs nehmen, was er bekommen hat. Die Familie um Osamu scheint hier aber die bessere Wahl zu sein. Wobei nicht ganz klar ist, ob Omas Schützlinge allesamt zueinander gehören oder nicht. Blut scheint hier kaum dicker als Wasser zu sein, und mit Vorbildwirkung nehmen es die Älteren auch nicht so genau. Osamu nämlich, der als Vaterfigur gesehen werden will, bessert das Haushaltsbudget gerne mit Ladendiebstählen auf. Das macht er mit seinem Ziehsohn Shota, der darin immer besser wird, allerdings braucht es da ein ausgeklügeltes Fingerritual vor jedem Coup, denn der scheint spirituell vor dem Erwischen zu schützen.

In diesem japanischen Familiendrama der anderen Art nimmt der Zuseher lange die Rolle des Wartenden ein, der nicht in die privaten vier Wände gebeten wird, und kaum einer Geschichte folgt, sondern nur Zeuge alltäglicher Rituale einer Gemeinschaft wird, die man allgemein eben als Familie bezeichnet. Einer Familie am Rande oder am Existenzminimum, auch bezeichnet als Präkariat, also dem Über-Leben in einer prekären finanziellen Situation, in der im schlimmsten Falle nicht mal Anspruch auf Versicherungsschutz besteht. Sozial gesehen ist das ein ziemliches Abstellgleis, sichtbar sowieso überall in den Großstädten Südostasiens, in diesem Falle eben Tokio, wo sich die urbane Existenz in Fleiß, Arbeit und beruflicher Hingabe manifestiert. Wo emotionale Nähe wirklich etwas ist, was man sich kaufen muss. Und wofür Familie längst nicht mehr steht. Das ist ein trauriges Bild einer Gesellschaft unter Druck. Und da kann es schon sein, dass gesellschaftliche Kreativität das einzige ist, was vor dem werteverlorenen Nichts retten kann. Ein kleines Paradies also, versteckt im Straßenwirrwarr einer Millionenmetropole, mit etwas Grün vor der Haustür und einer gemeinsamen Not, die zusammen ein Stück Glück ermöglicht. Familie ist demnach also etwas, das kein Echtheitszertifikat braucht, was auch ohne gemeinsame Gene funktioniert, was einfach durch Zuhören, Achtsamkeit und gegenseitiger Verantwortung wirklich erst das wird, wofür sich diese Mikrogemeinschaft loben lässt.

Ein Film wie Shoplifters verabschiedet sich von den durchaus lobenswerten, aber redundanten Klischees des originären Familienbildes, welches grundlegend immer intakt ist, und nur durch äußere Einflüsse zerrissen wird. Disney zum Beispiel will im Rahmen seines Angebots familienfreundlicher Filme gar nichts anderes zeigen, und variiert seine Messages daher auch kein bisschen. Hirokazu Kore-Eda verabschiedet sich von dieser Zweckform, löst seine Geborgenheit suchenden Gestalten aus jeglicher Zugehörigkeit, macht sie alle zu Waisen, obwohl sie es eigentlich nicht sind. Und dann geschieht das, was in Shoplifters geschehen ist – das Soll einer Familie bündelt die Umherirrenden wie Trabanten in der Umlaufbahn. Dass dieser Zustand nicht ewig halten kann, wird irgendwann klar. Das passiert relativ plötzlich, und die Harmonie unter dem Glassturz, der es dadurch auch schwer macht, als Zuseher ein Teil davon zu sein, wird durchbrochen. Plötzlich aber kann ich mich den Individuen nähern, lerne ihre Geschichten kennen, will nicht, dass der isolierte, zeitlose Zustand auf Dauer bestehen bleibt. Kore-Eeda findet intensive Bilder für seine Ballade, teils durchdrungen von den Lichtern einer Großstadt, teils dringt die Kamera indiskret in den engen Fuchsbau einer Gemeinschaft ein. Man hört sie Suppe schlürfen, palavern, lachen, es ist ein geordnetes Chaos. Letzten Endes aber nur reiner Zweck, der den evolutionären Sinn einer Familie zweckentfremdet. Shoplifters ist ein Film auf der Suche nach Nähe, eine aufrichtige Studie, mit Sympathie für seine Seelen, die als Einzelgänger verloren wären.

Shoplifters