Jung_E: Gedächtnis des Krieges (2023)

IMMER WIEDER AN DIE FRONT

6/10


JungE© 2023 Netflix


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2023

BUCH / REGIE: SANG-HO YEON

CAST: HYUN-JOO KIM, SOO-YEON KANG, KYUNG-SOO RYU, SO-YI PARK U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Natürlich ist es naiv, zu glauben, wenn in der Entwicklung künstlicher Intelligenzen die Kurve so steil nach oben geht wie in den letzten Monaten, wir einen Krieg mit entfesselten Robotern vom Zaun brechen. Natürlich nicht. Kein Skynet, kein I, Robot, kein Blade Runner. Diese Szenarien sind noch kaum absehbar. Beklemmend ist allerdings die Tatsache, dass KI dazu führt, uns Menschen alles abzunehmen, was wir delegieren möchten. Und es ist schon irgendwie ironisch, wenn die wohl realistischste Darstellung der menschlichen Zukunft zwar nicht im Weltraum, aber auf der Erde ungefähr so aussehen würde wie in Pixars ironischer Dystopie Wall-E. Vielleicht werden wir nicht ganz so ballonartig durch unsere Hallen rollen (denn Sport kann durch nichts ersetzt werden). Vielleicht manifestiert sich die Trägheit des Körpers wohl eher als Trägheit des Geistes, wenn Kreativität nur noch ausgelagert wird.

Doch im Kino werden Szenarien, die das Ende der Menschheit einläuten könnten, gerne übertrieben. Auch in diesem koreanischen Science-Fiction-Film ist Homo sapiens dessen Vorschussvertrauen für High Tech, Robotik und KI auf die Füße gefallen. In Jung_E: Gedächtnis des Krieges befindet sich eine längst dem Klimawandel zum Opfer gefallene und überflutete Erde im Krieg mit einer autark gewordenen, manischen Technologie, die separatistische Züge trägt und tut, was es, frei von Empathie und anderer Gefühle, für richtig hält. Im Orbit tobt also ein Krieg jener, die sich rechtzeitig auf Raumstationen haben retten können – und jenen, denen das Wasser auf der Erde bis zum Hals steht. Die Technik dort oben hat sich aber längst der Herrschaft des menschlichen Geistes entledigt und macht ihr eigenes Ding. Dagegen kämpfen seit Jahren perfekt ausgebildete Soldatinnen wie Jung-yi, die aber auch nur ein Mensch ist und über kurz oder lang von den Maschinen niedergestreckt wird. Mit dem Ende ihres Heldentums neigt sich auch Anthropozän einer Götterdämmerung entgegen. Jung-yi liegt im Koma, wird aber dank kniffligen High-Techs – und weil ihr Geist wohl der Prototyp eines erfolgreichen Soldaten darstellt – zu Übungszwecken in den Körper eines Androiden eingespeist, um die perfekte Armee zu erschaffen. Gerade deren Tochter Yun Seo-hyun, die längst ihre Mutter zu einer Halbgöttin verklärt hat, betreut das Projekt. Bis es, wie kann es anders sein, zwangsläufig aus dem Ruder läuft. Und der Geist Jung-yis die Befreiung plant.

Nein, Jung_E: Gedächtnis des Krieges ist kein trashiger Kawumm-Streifen voll ermüdender, dystopischer Action zwischen finsteren urbanen Ruinen. Es stimmt, das Ganze macht den Eindruck, als wäre es das – doch nur die große Eröffnungsszene liefert martialische Schauwerte, wie wir sie auch aus Edge of Tomorrow kennen. Science-Fiction-Afficionados mit eher bescheidener Vorliebe fürs Krawallkino bleibt an dieser Stelle zu empfehlen, dranzubeiben. Denn Jung_E steigt vom großen Bombast auf ein konzentriertes Machwerk um, das nur eine kleine Episode aus einer gigantischen Chronik erzählt, von welcher wir nie etwas erfahren werden. Verantwortlich für diesen, auf Netflix veröffentlichten Film ist der Macher des modernen Klassikers Train to Busan: Sang-Ho Yeon. Mit seinem „Zombie on the Train“-Thriller hat er dem Subgenre des Horrorfilms erfrischende Kicks verliehen. Der Nachfolger Peninsula sackte dann deutlich ab. Mit Jung_E: Gedächtnis des Krieges hat er sich aus seiner Schräglage geholt. Sang Ho-Yeon, der auch für den Busan-Klassiker das Drehbuch schrieb, schuf für dieses geradlinige und moralisch orientierte Thrillerdrama das trittsichere Grundkonstrukt einer sowohl dysfunktionalen als auch idealisierten Mutter-Tochter-Beziehung. Soo-Yeon Kang, die nach den Dreharbeiten mit nur 55 Jahren an einer Hirnblutung verstarb, gibt dem Film nicht nur dank ihres ungewöhnlichen Aussehens eine gewisse, vorab nicht zu erwartende Tiefe. Zum Glück reißt der Film nicht zu viele Themen an, bleibt Nebenstories fern und gewinnt durch seine dramaturgische Schlichtheit. Weniger ist mehr, auch wenn das top ausgestattete Drumherum aus Wissenschafts-Futurismus und absurd überhöhter Technik-Perfektion protzen möchte. Am Ende gewinnt das feine Drama und die variierte Idee von einem Ghost in the Shell.

Jung_E: Gedächtnis des Krieges (2023)

Broker – Familie gesucht (2022)

MENSCHENLEBEN ZU VERGEBEN

6/10


broker© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

BUCH / REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: SONG KANG-HO, GANG DONG-WON, BAE DOONA, JI-EUN LEE, LEE JOO-YOUNG, SEUNG-SOO IM, JI-YONG PARK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Das macht schon was mit jemandem, der draufkommt, nicht gewollt auf die Welt gesetzt worden zu sein. Der rein zufällig lebt und atmet, obwohl er nicht geplant war. Eine Existenz, entstanden aus einem Unfall. Gut, es gibt Eltern, die nehmen dieses Ereignis dankend an, denn es wird ihr Leben verändern und um unersetzbare Aspekte bereichern. Es gibt aber auch welche, die niemals Mutter oder Vater sein wollen. Oder können. Wie fühlt man sich, als ein Kind, das keiner haben will? Eine neue Familie, ja klar. Aber dass die leiblichen Eltern einen nicht wollen, lässt sich, wie es scheint, nicht verwinden. Da kann es passieren, dass man im Erwachsenenalter aus der Not der anderen, die noch nicht wissen, wie ihnen geschieht, weil zu klein, Profit herausschlägt. Zwecks Rache. Als Genugtuung. Als Eigentherapie, wie auch immer.

Dong-soo zum Beispiel, selbst einmal Waisenkind gewesen und in entsprechender Einrichtung aufgewachsen, hat sich darauf spezialisiert, gemeinsam mit seinem älteren Freund Sang-Hyun „weggeworfene“ Babys, wie sie es nennen, an kinderlose Eltern zu verhökern, die das offizielle und oft recht mühsame Prozedere zur Adoption umgehen wollen. Klar ist das ein Verbrechen, nämlich astreiner Menschenhandel. Auf Nachhaltigkeit und Gewissenhaftigkeit, wie das die Behörden tun, kann dabei nur schwer gesetzt werden. Da passiert es eines Nachts, dass das Schicksal des Babys von So-young, abgegeben an der Babyklappe einer Kirche, für die Dong-soo arbeitet, von Polizei und Sozialbehörde genauestens beobachtet wird. Und auch So-young hat es sich tags darauf anders überlegt und will ihr Kind wieder zurück – allerdings ist dieses bereits in den Händen der beiden Gauner, die aber im Grunde ihres Wesens herzensgut sind und von da an die Mutter des Kindes mit auf ihre Tour durchs Land nehmen, um die richtigen Eltern zu finden, die auch bereit sind, einen stolzen Preis zu zahlen. Warum da So-young mitmacht, erscheint anfangs nicht klar. Doch irgendwie fühlt sie sich zu den beiden Außenseitern, die selbst keine Familien haben und verstoßen wurden, hingezogen. Wen wundert es, wenn die Biographie der jungen Mutter ein ähnliches Trauma beinhaltet wie das der beiden Gefährten, die fortan so etwas wie eine notgedrungen zusammengewürfelte Familie bilden.

Song Kang-ho, wohl der berühmteste südkoreanische Schauspieler, und das schon seit Jahrzehnten, war Haus- und Hofakteur Park Chan-wooks und wurde durch Bong Joon-hos Parasite weltbekannt. Jetzt hat er letztes Jahr glatt noch die Goldene Palme für sein Schauspiel im vorliegenden Film namens Broker – Familie gesucht erhalten. Er spielt nicht schlecht, was anderes würde mich auch wundern, doch eine herausragende Leistung ist das keine. Dafür spielen ihn seine Kolleginnen und Kollegen fast schon an die Wand, allen voran Im Seung-soo als der kleine Hua-Jin, der sich in den Wagen der Broker schleicht, weil diese für ihn eine Familie sein könnten.

Die Idee des Films, inszeniert und geschrieben von Palme-Gewinner Hirokazu Kore-Eda, der mit dem thematisch recht ähnlichen Shoplifters auf sich aufmerksam machte, hat alles, was ein Seelenwärmer fürs Kino so braucht: Wehmut, Hoffnung, die inspirierende Eigendynamik einer kleinen Gemeinschaft und das erstrebenswerte Gefühl, gebraucht zu werden. Alle, die hier durch Südkorea tuckern, sind Verstoßene, denen das Glück in ihrem Unglück widerfährt, einander plötzlich wichtig zu sein. Dafür findet der Filmemacher vielsagende Momente voller Wahrhaftigkeit, die aber dennoch recht spärlich gesät sind. Denn so richtig mitnehmen will Broker sein Publikum manchmal doch nicht. Es ist, als wären sich die fünf Individuen selbst genug, und wir als Zuseher müssen gar nicht so genau nachvollziehen können, was nun als nächstes passiert.

Zu sprunghaft erscheint mir der Film, nachdem er sich anfangs recht viel Zeit gelassen hat, um überhaupt in Fahrt zu kommen. Kaum sind die Reisenden in Busan, sind sie plötzlich in Uljin oder Seoul. Dann sind da plötzlich Eltern, dort plötzlich Eltern. Es reißt Kore-Eda herum in seinem Skript, und zumindest mich selbst irritiert der plötzliche Orts- und Szenenwechsel manchmal doch so sehr, dass es mich fast bis zum Ende auf Distanz hält. Broker – Familie gesucht ist ein Film, der manche Details verschluckt, während er manchen wiederum zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Dazwischen finden sich einige szenische Highlights, die aber dennoch keinen perfekten Film daraus machen.

Broker – Familie gesucht (2022)

Decision to Leave

DAS HERZ, EINE MÖRDERGRUBE

7,5/10


decisiontoleave© 2022 Bac Films


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

REGIE: PARK CHAN-WOOK

BUCH: PARK CHAN-WOOK, JEONG SEO-KYEONG

CAST: PARK HAE-IL, TANG WEI, LEE JUNG-HYUN, GO KYUNG-PYO, PARK YONG-WOO, JUNG YI-SEO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Die Rache-Trilogie des südkoreanischen Regie-Visionärs Park Chan-Wook möchte ich allen Filmfreundinnen und Freunden ans Herz legen – wenn diese sowieso nicht schon als selbstverständliches Must-See auf der Watchlist stehen oder gestanden haben. Lady Vengeance, Sympathy for Mr. Vengeance und natürlich Oldboy: Großes Kino ohne Mainstream-Kompromisse, selbstbewusst bis in den letzten Spot und nicht darauf angewiesen, um jeden Preis gefallen zu müssen. Park Chan-Wooks Filme halten eben dadurch, dass sie ihrem Konzept so sehr treu bleiben, Ablehnung jedweder Art sehr gut aus. Man muss manch verstörenden Stilbruch, manch Gewalteruption oder groteskes Intermezzo nicht unbedingt verstehen, man wird aber nicht umhinkommen, die virtuose Regieführung des Meisters zu bemerken. Seine Filme sind gehaltvoll und komplex, das ist nichts für zwischendurch. Und manchmal auch ein Schlag in die Magengrube. Wer aber dennoch mit Park Chan-Wook vertraut werden und das koreanische Kino abseits kommerzieller Berechenbarkeit erfahren will, sollte mit Decision to Leave beginnen, seinem neuesten Werk, das eben bei den Filmfestspielen der Viennale läuft. Hier lässt sich ein moderater Einstieg in die vertrackte Gedankenwelt eines Künstlers finden, der mit mächtigen menschlichen Gefühlswelten hart ins Gericht geht, ist es nun Rache oder Liebe.

Die Liebe hält bei Decision to Leave auf Umwegen Einzug, dabei fällt das heikle Wort so gut wie kaum, und auch das leidenschaftliche Empfinden einer Zuneigung findet nur im Ermitteln eines Mordfalls seine Legitimität. Denn Detektiv Hae-joon muss Song Seo, die Witwe eines beim Klettern verunglückten älteren Koreaners einvernehmen, die ob des Verlustes ihres Ehemannes nicht so wirklich Tränen vergießt, gerne mal im Verhörraum die edelsten Sushis des Viertels verdrückt und Hae-joon sowieso schöne Augen macht. Unter Mordverdacht steht die Dame nicht wirklich, doch ihre Rolle in diesem mysteriösen Fall bleibt lange im Dunkeln. Während dieser Zeit des Investigierens kommen sich die beiden näher, auf romantische Weise, doch kommt es nie zu Intimitäten. Als der Fall geklärt scheint, endet diese Art der Zweisamkeit abrupt. Doch nicht für lange.

Der Plot klingt jetzt nicht nach einem umwerfend komplexen Filmdrama. Eine Kriminalromanze eben. Oder doch mehr? Natürlich. Es wäre nicht Park Chan-Wook, würde er das Konzept des Film Noir nicht auf eine Weise wiederbeleben und in erweiterter Form neu interpretieren. Ich denke da an die frühen Dashiell Hammett– oder Raymond Chandler-Krimis mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall. Ausgetüftelte Werke, die mit voller Konzentration gesichtet werden sollten, denn wenn auch nur einer der vielen ins Spiel gebrachten Namen nicht im Gedächtnis bleiben, stürzt das ganze filigrane Krimi-Konstrukt in sich zusammen. Aufpassen und mitdenken muss man auch bei Decision to Leave. Und hier gestaltet sich die Erarbeitung des Films noch schwieriger, denn asiatische Gesichter scheinen uns ohnehin ähnlicher als die unsrigen, und bei koreanischen Namen klingt der eine wie der andere. Hat man diese Hürde überwunden und all die Namen und Personen erscheinen vertraut, eröffnet sich ein neues Fenster mit Ausblick auf ein sehnsuchtsvolles Kriminaldrama, auf Landschaften und Meeresküsten Südkoreas, wo die Brandung tost oder der Schnee leise zwischen den Föhren fällt. Park Chan-Wooks Film widmet sich stark wie selten zuvor seinem Land und seinen Leuten, blickt in die Ferne und in eine stets offene Mördergrube namens Herz. Dort folgt eine radikale Entscheidung der anderen, und wir wissen, dass Chan-Wooks Filme keine Kompromisse eingehen. Auch hier nicht – auch in Decision to Leave ist die letzte Konsequenz eine radikale und entsteht aus dem verrückten Entschluss, sich lebenslang an die große Liebe zu binden. Die letzte Entscheidung wird zu einem künstlerischen Akt, einer Art Manifest. Bis dahin weiß das manchmal gar urkomische, locker dahinerzählte und dann wieder getragene Filmpuzzle all seine vielen Details so zu ordnen, dass sich am Ende ein schillerndes, großes Ganzes ergibt. Einen eingefleischten, satten Film Noir, der die volle Aufmerksamkeit verdient.

Decision to Leave

Das Licht, aus dem die Träume sind

SO SCHMECKT KINO

7,5/10


lastfilmshow© 2021 Neue Visionen


LAND / JAHR: INDIEN, USA, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: PAN NALIN

CAST: BHAVIN RABARI, BHAVESH SHRIMALI, RAHUL KOLI, RICHA MEENA, TIA SEBASTIAN, DIPEN RAVAL, SHOBAN MAKWA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Blickt man auf die Geschichte der bildnerischen Künste, so ist ganz klar, wer hier als Meister des Lichts gelten kann: William Turner. Und ja, natürlich, Claude Monet. In der Filmwelt gibt es dann doch noch einige weitere Kandidaten, mehr als eine Handvoll, die das Licht, aus dem die Träume sind, so einfangen können, dass es nicht nur dekorativen Zwecken nutzt, sondern als eigene narrative Ebene zum Verständnis des Films beitragen kann. Zu diesen Meistern des Lichts zählt zweifelsohne der Inder Pan Nalin. Ein Indepententfilmer, der mir vor einundzwanzig Jahren mit seinem Meisterwerk Samsara schon die Sprache verschlagen hat. Das Himalaya-Epos über einen buddhistischen Mönch, der vom profanen Leben angezogen wird wie die Motte vom Licht, führt jenseits der Wolken – strahlend blauer Himmel, zerklüftete Gebirge, in den Fels eingebettete Klöster, dazu ein hypnotischer, längst nicht altbackener Score zwischen Moderne und indischer Klassik. Samsara ist eine Wucht, wagt sich in Sachen Perspektiven weit vor, experimentiert mit Kontrasten und feiert die Farbe wie bei einem Holi-Fest.

Nach einigen weiteren Filmen – darunter einer ebenfalls bildstarken Ayurveda-Doku oder dem Frauendrama 7 Göttinnen – erschien zum Tribeca Filmfestival 2021 seine Hommage ans Kino der guten alten Zeit: bildgewaltig, sinnlich und fabulierend: Last Film Show – oder eben: Das Licht, aus dem die Träume sind. Zugegeben, eine Übersetzung, die vermuten lässt, es hier mit einem Nicholas Sparks-Roman zu tun zu haben. Dem ist aber logischerweise nicht so, wenngleich das Licht, wie bereits vermuten lässt, alle Stückchen spielt. Das hat damals schon, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, bereits Georges Méliès erkannt. Und später die Gebrüder Lumière. Mit dem Licht lässt sich allerhand anstellen. Es lassen sich Bilder zum Laufen bringen. Und es lassen sich anhand dieser Bilder Geschichten erzählen. Der Film war geboren, das laufende Bilderbuch ohne Umblättern und Mitlesen, sondern eben nur zum Staunen. Pan Nalin dürfte das Kino ebenfalls schon in jungen Jahren fasziniert haben, was in Indien keine Kunst sein muss, ist der Subkontinent doch der eifrigste Filmproduzent der Welt – ein Umstand, von welchem wir im Westen nur die Spitzen sämtlicher Eisberge wahrnehmen können – der Rest ist Bollywood mit immer ähnlichen Formeln und Farben und ganz viel Gesang. Oft stundenlang, aber mit unvermindertem Herzblut und wirbelnden Saris. Pan Nalin findet aber einen anderen, weniger gefälligeren Zugang. Er weiß, dass es mehr gibt als nur das, was Indien bewegt. Er kennt Chaplin, Godard und Kubrick. Er würdigt Tarantino und Scorsese. Und er will die Essenz von alldem nicht aus den Augen verlieren. Den Anfang, das Alpha, die Big Bang Theory, warum und wodurch Film eigentlich möglich wird. Was ist das Eigentliche, was Bilder und Publikum bewegt? Was tut man mit dem Licht, und was braucht man dafür? Was macht Film zum Erlebnis? Und wen berührt es?

In diesem Fall den neunjährigen Samay (grandios: Bhavin Rabari), der im Westen Indiens, am Rande eines Reservats voller Löwen und Großwild, eines Tages mit Papa an der Seite im Kino sitzen darf, um einen schwer religiösen Hindu-Streifen über Göttin Kali zu bewundern – ihr wisst schon, die blauäugige Dame mit der herausgestreckten Zunge und den vielen Armen. Ab diesen Moment ist es um Samay geschehen – er will Filme machen. Verstehen, wie so etwas funktioniert. Dem Vater schmeckt das gar nicht, denn Filme sind lasterhaft und verdorben, mit Ausnahme eben solche über Kali und Co. Der Junge aber hat seinen eigenen Kopf, schwänzt die nächsten Tage die Schule und schleicht sich dank eines Deals mit dem Filmvorführer Fazal in den Vorführraum des Galaxy-Kinos, bringt diesem die köstlichen Speisen seiner Mutter und darf durch ein Guckloch alles sehen darf, was hier so läuft. Obwohl dank dieser besonderen Konstellation glückselig, will Samay auch seine Freunde daran teilhaben lassen. Also stiehlt er Filmrollen und versucht, das Knowhow von Fazal über Film und Technik in einem verlassenen Gebäude abseits des Dorfes in die einfache Praxis umzusetzen. Und siehe da – irgendwann funktioniert es. Dank Grips, Improvisationstalent und der enormen Kreativität aller Beteiligten.

In den Szenen, in welchen das „Kinderkino“ immer mehr Gestalt annimmt und das Einmaleins des Mediums Film von der Pike auf erklärt, gerät Last Film Show zum Meisterwerk. In humorvoller und erfrischender Betrachtung schenkt Pan Nalin dem Kino all seine Liebe. Und nicht nur dem Kino: Auch dem Licht, dass durch Buntglas geschickt oder vom Spiegel reflektiert wird, durch ein Gitter fällt, durch Staub zum Strahl wird oder die Hand Samays berührt. Last Film Show erzählt im Grunde seines Wesens eine recht unspektakuläre Geschichte, fast alltäglich. Doch gerade dort, zwischen den Schmalspurlinien einer bald ausdienenden Eisenbahn und dem entwendeten Sari der Mutter als Leinwand, ruht ein zauberhafter Charme, der auch schon in Guiseppe Tornatores Cinema Paradiso, untermalt von Ennio Morricones melancholischen Klängen, berührt hat. Nicht das große Wumms, sondern kleine Ideen werden mal was Großes. Last Film Show beginnt am Anfang von etwas, wie der immer wieder zitierte Klassiker 2001, in welchem unter Also sprach Zarathustra der Urmensch den Knochen als Werkzeug erkannt hat.

Nalins Film ist eine spielerische Odyssee der Erkenntnis und der Wahrnehmung. Letzteres geht manchmal gar über die Leinwand hinaus, wenn der Meister des Lichts den Geruch und Geschmack indischen Essens, das ebenso aus einzelnen wichtigen Zutaten besteht wie das Medium Film, erfahrbar werden lässt. Wenn dann unter Blubbern und giftigen Dämpfen das Ende allen Zelluloids einen Neuanfang einläutet, wird Last Film Show zum dokumentarischen Paradigmenwechsel und blickt – gar nicht mal so wehmütig – zurück auf eine Ära, die gehuldigt werden muss, denn ohne sie gäbe es das Kino nicht. Egal, wie einfach heutzutage das Licht auf die Leinwand geworfen wird.

Das Licht, aus dem die Träume sind

Zorn der Bestien – Jallikattu

WIE MAN EINEN BULLEN FÄNGT

5,5/10


jalikattu© 2021 Indeedfilm


LAND / JAHR: INDIEN 2019

REGIE: LIJO JOSE PELLISSERY

CAST: ANTONY VARGHESE, CHEMBAN VINOD JOSE, SABUMON ABDUSAMAD, SANTHY BALACHANDRAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Pamplona liegt in Indien. Warum? Weil man Pamplona in erster Linie mit etwas verbindet, das als Stierrennen bekannt ist. Oder Stierhatz. Von Tierwohl kann da keine Rede sein, wenn alljährlich ein Bulle durch die Straßen und Gassen getrieben wird. Aber Tradition steht nun mal über dem kognitiven Fortschritt des Menschen, und deswegen gibt es so etwas Verachtendes immer noch. Wenn dann der Stier die Menschen jagt und sie schlimmstenfalls aufspießt, ist das ein Risiko, das jeder vorher weiß. Pamplona liegt also in dieser Hinsicht eben auch auf dem asiatischen Subkontinent. Und geht ein bisschen anders. Dort nennen die Leute diesen traditionellen Sport Jallikattu. Ziel ist es, den Stier im wahrsten Sinne des Wortes bei den Hörner zu packen, bestenfalls aufzusitzen und dort eine Zeit lang zu bleiben, eher sich das verängstigte und panische Tier losreißen kann. Rodeo meets Pamplona, könnte man sagen. Dieser Tradition folgt auch der indische Oscar-Beitrag Zorn der Bestien – Jallikattu. Doch ist dieses filmische Hide and Seek mit einem Bullen wohl rein zufälligen Ursprungs.

Denn: Zwei Metzger müssen für eine anstehende Hochzeit einen Stier schlachten. Der allerdings nimmt sein Schicksal selbst zwischen die Hufe und kann entkommen, in wildem Trab. Ohne Rücksicht auf Verluste arbeitet sich der gehörnte Schädel durch das Dickicht des Waldes, pflügt Menschen zur Seite und bringt ganze Baracken zu Fall. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Also muss der Bulle wieder eingefangen werden. Wie man das macht? Am besten mit einem ganzen Mob an grölenden, wütenden, besserwissenden Männern im Sarong, die, wenn es dunkel wird, ihre Fackeln schwingen. Die Frauen sind daheim und kochen Reis, die Alten darben dahin. Während sich immer mehr zeternde Männern um den eigentlichen Tross scharen, kommen alte Dispute wieder ans Licht, die der eine oder andere mit dem einen oder anderen der Runde noch nicht ganz geklärt hat. Und das Tier, das beansprucht plötzlich jeder für sich. Und jeder will einen Teil der Beute, das ist klar. Die Schar, die durch den Wald pflügt, begleitet von einem sphärischen, ungewöhnlichen, mystischen Score, der den entrückten Wahnsinn formidabel unterstreicht, steht längst nicht mehr im richtigen Verhältnis zur Ursache.

Noch nie etwas von Lijo Jose Pellissery gehört? Ist nicht sehr verwunderlich, denn dieser Künstler ist Vertreter des sogenannten Mollywood, der Subklasse des südindischen Films rund um Kerala. Entsprechend tropisch ist auch das Setting dieser wüsten Parabel, die zumindest teilweise die Aufmerksamkeit längst verwöhnter Cineasten erregt. Andernteils erkennt man ein gewisses Chaos in der Erzählstruktur, die, will man das Gesehene aufmerksam verfolgen, ungemein anstrengt. Für offene Münder sorgt hingegen die erste Sequenz – eine Collage an kurzen Bildern und Szenen, die den Alltag der Dorfbewohner bündelt, ebenfalls untermalt von einer tickenden Klangkulisse, als wäre das Leben eine Abhandlung der immer gleichen Agenda – hektisch, umtriebig, lebhaft. Dann, wenn der Stier entkommt, ist die aufgebrachte Versammlung an Menschen, die alle zum Verwechseln ähnlich sehen und manche davon nur vage als Hauptrollen zu erkennen sind, eine ins Nichts geführte Revolte wider der Vernunft. Der Mensch kehrt zu seinen archaischen Wurzeln zurück, verfällt der Lust an Gier und Macht. Unverkennbar überträgt sich die Wildheit des Stiers auf den Menschen. Als soziale Studie bringt Zorn der Bestien – Jallikattu aber, indem es sich verzettelt, verpeilt und verplaudert, zu wenig aufs Tapet.

Zorn der Bestien – Jallikattu

A Hard Day

WENN TOTE NICHT ANS HANDY GEHEN

7/10


ahardday© 2021 Busch Media Group

LAND / JAHR: SÜDKOREA 2014

BUCH / REGIE: KIM SEONG-HUN,

CAST: LEE SUN-KYUN, CHO JIN-WOONG, JEONG MAN-SIK, SHIN JUNG-KEUN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Meist lautet die Faustregel so: kennst du einen amerikanischen Thriller, kennst du gleich viele andere. Kennst du aber einen südkoreanischen Thriller, können dich alle anderen noch überraschen. Forrest Gump würde den Umstand mit einer Schachtel Pralinen vergleichen. Wie die das dort machen, ist kein Geheimnis – klarerweise liegt’s am Drehbuch, und klarerweise liegt’s an der Bereitschaft der Produzenten, auch gegen die Norm gebürstete Arbeiten zu verfilmen, die nicht dem lukrativen Schema erfolgreicher Marktforschung unterliegen. Die Südkoreaner, die trauen sich einfach mehr. Fabulieren mehr und denken mehr um die Ecke. Daher sind auch Filme, die sonst kaum das Zeug haben, auf westlichen Leinwänden groß rauszukommen – weil sie vielleicht nicht Bong Joon-Ho oder Park Chan-Wok in den Credits haben – bemerkenswerte Geschichten, die einfach erzählt werden müssen. So auch dieser bereits 2014 abgedrehte Streifen, der allerdings rund sechs Jahre darauf warten hat müssen, um das Licht der Retail-Welt zu erblicken. Doch egal, wann dieser letztendlich auftaucht – es ist schön, ihn zu sehen. Und ein kurioses Vergnügen obendrein. Ich hoffe, nur, dass es den Coen-Brüdern oder sonst wem nicht einfällt, Filme wie diese zu amerikanisieren. Eigene Ideen wären begrüßenswerter.

So ist die Idee vom korrupten Detektiv Ko, der bei einer nächtlichen Autofahrt zum Begräbnis seiner Mutter einen Menschen überfährt und sich damit allerlei Schwierigkeiten aufhalst, eine erfrischend originelle. Denn eine Anklage kann Ko momentan wirklich nicht gebrauchen, also schafft er das Unfallopfer in seinen Kofferraum, um es später spurlos verschwinden zu lassen. Was eignet sich da nicht besser als der Sarg seiner verstorbenen Mutter, die ja ohnehin begraben wird. Doch dieses groteske Vorhaben gestaltet sich äußerst schwierig. Dabei passieren Dinge, die kurioser kaum sein können. Und letzten Endes war der Überfahrene nicht irgendeiner, und auch nicht jemand, dessen Ableben nicht noch von jemand anderem beobachtet wurde.

Schwarzer Humor trifft auf Copthriller, die wiederum treffen auf makabren Suspense. Das muntere Potpourri aus Vertuschung und Erpressung, in dem es keine Guten, sondern nur weniger Böse gibt, steuert mit sehr viel ausgelebter Schadenfreude auf ein Katz- und Mausspiel zu, das vor skurrilen Momenten nicht mehr weiß, wohin damit. Klar kommt einem da wieder das tiefschwarze Meisterwerk Blood Simple von den eingangs erwähnten Coen-Brüdern in den Sinn, es werden Leichen aus- und eingegraben, und das alles in einem lakonischen, fast schon finnischen Gleichmut, der allerdings das Meistern scheinbar auswegloser Situationen in glaubhaftem Licht erscheinen lässt. A Hard Day ist nicht nur ein Tag, A Hard Week trifft es wohl eher, denn der Thriller erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Doch dieser eine Moment der Unachtsamkeit an diesem einen harten Tag ordnet die Parameter neu und zwar so, wie man sie vielleicht nicht erwartet hätte.

A Hard Day

Osama

DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT

7,5/10


osama© 2003 Polyfilm 

LAND / JAHR: AFGHANISTAN, JAPAN, IRLAND 2003

BUCH / REGIE: SIDDIQ BARMAK

CAST: MARINA GOLBAHARI, ARIF HERATI, ZUBAIDA SAHAR U. A. 

LÄNGE: 1 STD 23 MIN


Es ist, was viele nicht für möglich hielten, tatsächlich nochmal passiert: Afghanistan ist seit dem 15. August des Jahres wieder in den Händen der Taliban, die, im Eiltempo und einem Virus gleich, das ganze Landüberzogen hat. So leicht lässt sich diese Krankheit wohl nicht mehr abschütteln, denn was nun fehlt, ist das US-Militär. Die ganze Welt harrt an den Grenzen und sieht zu. Fürchtet, auch bald wieder erfahren zu müssen, wie Frauen und ihre Rechte mit Füßen getreten werden. Dieses mal allerdings wollen die Taliban laut Medienberichten moderater auftreten. Angst braucht niemand mehr zu haben. Alles nur ein Lippenbekenntnis? Nach dem von den USA gewaltsam herbeigeführten Ende des Taliban-Regimes anno 2001 hat sich der afghanische Autorenfilmer Siddiq Barmak dieser für Frauen so entsetzlichen, aber überwunden geglaubten Zeit angenommen – und ein so nüchternes wie ernüchterndes Zeitdokument geschaffen. Nach 12 Years a Slave kann ich dieses Werk wohl zu den hoffnungslosesten und deprimierendsten Filmen zählen, die ich jemals gesehen habe.

Wie denn auch etwas anderes erzählen? Alles andere wäre eine Verharmlosung der Tatsachen. Im Film allerdings lassen sich zuversichtliche Alternativen gegen tatsächliche Geschichtsschreibung austauschen. Tarantino hat zum Beispiel Hitlers Schicksal umgeschrieben – oder die Ermordung von Sharon Tate. Warum nicht auch dem Schicksal afghanischer Frauen einen helleren Anstrich verleihen? Warum nicht dort Hoffnung setzen, wo keine ist? Womöglich, weil es Siddiq Barmak viel zu schwer fallen würde, den Ernst des Erlittenen zu übergehen. So lässt der Filmemacher seine 13jährige Hauptdarstellerin Marina Golbahari (ein bemerkenswertes Naturtalent) sprichwörtlich durch einen Dornwald gehen, der nie endet. Ein Leidensweg steht dem Mädchen bevor, das jeden Tag aufs Neue zusehen muss, wie es für sich und ihre Familie an Nahrung kommt. Da der Vater verstorben ist und sich auch sonst niemand findet, um Mutter und Tochter durch Kabul zu geleiten, muss sich letztere kurzerhand als Junge ausgeben. Der Plan geht nach hinten los, als Osama ganz plötzlich zwangsrekrutiert und in die Koranschule gesteckt wird.

Das ist erst der Anfang – vom Ende eines Lebens, das gerade erst begonnen hat. Die Hoffnung, heißt es, stirbt zuletzt. Und zwar tatsächlich, denn Barmak lässt sie sterben, ohne Wenn und Aber, im Gegensatz zum weitaus zuversichtlicheren Animationsdrama Der Brotverdiener, der ebenfalls, und natürlich in erster Linie, von der Verleugnung der Weiblichkeit handelt. Dabei gibt sich der Stil von Osama jedoch keinem nackten Realismus hin, sondern wendet sehr wohl klassische und gut erlernte Methoden einer Bildsprache an, die vieles versinnbildlicht und die weit davon entfernt ist, aus der physischen wie psychischen Gewalt einen marktschreierischen Nutzen zu ziehen. Das tut aber der Intensität dieses fatalen Schicksals keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Die Resignation der einzelnen Menschen ist erschütternder als jeder Aufschrei.

Osama ist ein Film, der zu gegebenem Anlass kaum besser passen würde. Der zeigt, wie sehr das Gewaltregime der Taliban humanistische Fortschritte um Jahrhunderte zurückgeworfen hat. Mal sehen, ob die neue Macht im Land gemäßigter vorgeht. Zu hoffen wäre es. Doch wenn diese Hoffnung stirbt, wissen wir’s.

Osama

Cemetery of Splendour

GESPRÄCHE MIT TRÄUMENDEN

5/10


cemeteryofsplendour© 2015 Rapid Eye Movies


LAND / JAHR: THAILAND, GROSSBRITANNIEN, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, MYANMAR 2015

BUCH / REGIE: APICHATPONG WEERASETHAKUL

CAST: JENJIRA PONGPAS, BANLOP LOMNOI, JARINPATTRA RUEANGRAM U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Wer meint, das asiatische Kino wäre mit Südkorea, China oder Japan so gut wie abgedeckt, hat die Rechnung ohne Indonesien oder gar Thailand gemacht. Aus diesem beliebten tropischen Urlaubsland kommt nämlich ein ganz spezieller Filmemacher her: Apichatpong Weerasethakul. So richtig zum Begriff wurde dieser bemerkenswerte Sonderling 2010 mit seinem metaphysischen Drama Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben. Damit gewann er doch glatt die Goldene Palme von Cannes. Meines Erachtens auch zurecht – denn auch wenn man in der Welt des Kinos schon vieles gewohnt sein mag: diese Art, Geschichten zu erzählen, verlässt viele bislang vertraute Wege, und scheut auch sehr diszipliniert davor zurück, alle Stückchen spielen zu wollen, die filmtechnisch möglich sind. Gerade im Fantasygenre drängt sich die Möglichkeit, irreale Bilderwelten zu erzeugen, förmlich auf. Ich für meinen Teil schätze all diese erdachte Opulenz. Das es aber auch anders geht, wird in Weerasethakuls Entwürfen deutlich. Der Mann mit dem Namen, den ich bis dato nicht aus dem Gedächtnis buchstabengetreu wiedergeben kann, kreiert Werke, die sich genauso wenig einfach nacherzählen lassen. Uncle Boonmee zum Beispiel ist phantastisches Kino – doch von pittoreskem Dekor entschmückt und auf einen Alltag minimalisiert, zu dessen Tagesordnung so Dinge zählen wie Seelenwanderungen oder paranormale Erscheinungen, die jedoch keinerlei Furcht oder Skepsis auslösen. Die unserem Dasein, so, wie wir es kennen und so, wie wir es leben, ganz einfach inhärent sind. In fast schon semidokumentarischen Bildern widmet sich Weerasethakul auch in seiner Arbeit aus dem Jahr 2015 dem wissenschaftlich nicht Belegbaren. Mit in der Esoterik verorteten praxisnahen Selbshilfephänomenen hat das ganze aber nichts zu tun.

Schauplatz ist der Nordosten Thailands an der Grenze zu Laos. In einer ehemaligen Schule liegen mehrere Soldaten in ihren Betten, Ventilatoren spenden den in den Tropen essenziell notwendigen Luftzug. Diese Soldaten sind jedoch nicht Kriegsversehrte, sondern schlafen tief und fest. Sie leiden an einer der Narkolepsie verwandten seltsamen Krankheit. Betreut werden diese von einigen freiwilligen Helferinnen, darunter auch von Jen, einer körperlich etwas beeinträchtigten älteren Dame, die für einen der Patienten geradezu mütterliche Gefühle hegt. Unter den Besuchern gibt es ein junges Medium namens Keng. Sie kann durch Handauflegen Verbindungen zu den Schlafenden aufnehmen und als Sprachrohr dienen. Jen wiederum bekommt Besuch von zwei längst verstorbenen, antiken Prinzessinnen, die ganz plötzlich erscheinen, und die so einige Geheimnisse offenbaren, was den historisch interessanten Ort betrifft, auf welchem die Schule errichtet wurde. Ein Ort, der früher mal der Friedhof der Könige genannt wurde.

Diese radikale Nüchternheit von Cemetery of Splendour ist irritierend. Und auf eine ganz eigene, schwer zu fassende Weise erst im Nachhinein faszinierend. Lange, unbewegte Bildeinstellungen wechseln mit langen, völlig unaufgeregten Dialogen. Dann herrscht wieder Stille, nur das Zirpen der Zikaden ist zu hören. Die seltsamen L-förmigen Leuchtkörper, die im Krankenzimmer mithilfe des ganzen Farbspektrums die bösen Träume der Schlafenden vertreiben sollen, setzen die wenigen visuellen Reizpunkte. Es ist, als wäre dieser ganze Kosmos hier ein transzendenter Reigen aus Schlafen und Erwachen. Vom Tod handelt der Film nicht. Es gibt noch ganz andere Sphären, die betreten werden können. Weerasethakul beobachtet wie selbstverständlich einen die Grenzen unseres Verstehens überschreitenden Zustandswechsel. Das ist langsam, sehr langsam, von der schwülen Tropenhitze ziemlich ermattet, mitunter finden sich sehr rätselhafte Szenen in diesem Film – zum Beispiel einen Mann, der im Busch seine Notdurft verrichtet, oder ein seltsames amöbenförmiges Wesen tanzt über den Himmel. Die Unaufgeregtheit führt im Gegensatz zu Uncle Boonmee jedoch zu einer sachlichen Lethargie, die das Besondere auf Small Talk reduziert.

Aber mal sehen, wie Weerasethakuls nächster Film wird – den gibt´s heuer in Cannes. Ich bleib‘ dran.

Cemetery of Splendour

Sympathy for Mr. Vengeance

DAS ENDE DER RACHE

7/10


SympathyForMrVengeance© 2021 capelight pictures


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2002

BUCH / REGIE: PARK CHAN-WOOK

CAST: SONG KANG-HO, SHIN HA-KYUN, BAE DU-NA, LIM JI-EUN U. A. 

LÄNGE: 2 STD


Ein Blick in den Nahen Osten reicht, um zu sehen, wie es ist, wenn auf Rache Rache folgt. Israel und Palästina kommen aus diesem Drehkreuz der gegenseitigen Vergeltung nicht mehr heraus. Das kaum unterdrückbare Verlangen, in einer aus mehreren Standpunkten gerechten Sache das letzte Wort haben zu wollen, bringt den Gewaltkreislauf womöglich erst dann zum Stillstand, wenn eine der beiden Parteien keinen Mucks mehr macht. Wie verlässlich dieses Grundprinzip funktioniert, und welche bizarren Wege Rache nehmen kann, hat der Südkoreaner Park Chan-Wook in seiner Rachetrilogie veranschaulicht, seinem großen Opus Magnum, das ihm sozusagen Tür und Tor in der Filmbranche geöffnet hat. Aus dieser Trilogie ist Oldboy natürlich das schillernde Mittelstück – mittlerweile längst ein Klassiker. Flankiert wird dieser irre Knüller von Mr. und Lady Vengeance. Zwei völlig andere Ansätze zu selbem Thema, und es ist auch ganz egal, in welcher Reihenfolge man sich diese Werke zu Gemüte führt, eines ist bei Park Chan-Wook aber gewiss: In Sachen Gemüt muss man hierbei schon einiges vertragen können, vor allem die drastische Darstellung von Gewalt.

Den Anfang dieses Triptychons macht ein blauhaariger, gehörloser junger Mann, dessen schwerkranke Schwester ganz dringend eine neue Niere braucht. Die eigene kommt aufgrund falscher Blutgruppe nicht infrage, und die Warteliste für Organe wie diese ist lang. Also geht Ryu andere Wege und lässt sich mit einer illegalen Organhändlerin ein, die das geforderte Geld und Ryus eigene Niere kassiert, mit dem in spe erstandenen Körperteil aber nicht rausrückt. Plan C ist es also, die Tochter eines Geschäftsmannes (Song-Kang-Ho, zuletzt in Parasite zu sehen) zu kidnappen und Lösegeld zu erpressen. Es wäre nicht Park Chan- Wook, würde dieser Plan nicht ebenfalls schrecklich schieflaufen. Wichtige Figuren in diesem Spiel des Schicksals verlassen vorzeitig ihr irdisches Dasein – und das ist Grund genug für die Rache am Rächer, der sich am Rächenden rächt.

Von allen drei Werken ist Sympathy for Mr. Vengeance (vom Original übersetzt: Mein ist die Rache) der wohl nihilistischste. Allerdings auch der introvertierteste, bedächtigste, der anfangs lange Luft holt und sich einfach die Zeit nimmt, die er ungeachtet eines nervösen Publikums braucht, um seine Charaktere und ihr gesellschaftliches Umfeld näher zu betrachten. Park Chan-Wook verschwendet dabei aber keine Spielzeit – sein fast über die ganze erste Hälfte des Film dauerndes Vorspiel macht die zweite Hälfte dann umso intensiver. Und dort bleibt kein Stein auf dem anderen, denn es ist, wie eingangs erwähnt, diese niemals anhaltende Drehtür aus Vergeltung und Gegenvergeltung, die wie ein Körper, der ins Wasser fällt, seine Kreise zieht. Die Eigendynamik der Rache spielt sich dann auch längst nicht mehr linear ab, sondern verzweigt sich und findet auf mehreren Ebenen und an mehreren Orten gleichzeitig statt. Sympathy for Mr. Vengeance nimmt dem Thema Rache seine Banalität, die nur zu gut und gern im Actiongenre stereotype Verwendung findet. Park Chan-Wook macht aus dieser scheinbar simplen Emotion ein kunstvolles Spektakel, das allerdings nichts mehr hat, woran man sich noch festhalten könnte. Hier stürzt alles ins Chaos, lässt andererseits aber seine strauchelnden und hasserfüllten Figuren übertrieben rasch zu sehr hässlichen Mitteln greifen, die man in ihnen keinesfalls vermutet hätte. Das macht den Streifen weniger plausibel. Und da auch des Weiteren all der Jammer wie Abwaschwasser in eine Richtung abläuft, bleibt aufgrund seiner makellos glatten Konsequenz überraschend wenig narrative Haptik.  

Allerdings: Sympathy for Mr. Vengeance mag zwar der schwächste Film der Trilogie sein – Park Chan Wooks Sinn für penibel arrangierte Tableaus, unorthodoxe Blickwinkel und schräge Details findet auch in diesem tiefschwarzen und bizarr bebilderten Klagelied seine praktische Entfaltung.

Sympathy for Mr. Vengeance

Bring Me Home

IN DIE HÖHLE DES RATTENFÄNGERS

6,5/10


bring-me-home© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc.


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2019

BUCH / REGIE: KIM SEUNG-WOO

CAST: LEE YEONG-AE, YOO JAE-MYUNG, KIM JONG-HO, LEE HANG-NA, PARK HAE-JOON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Schon Oldboy-Regisseur Park Chan-Wook hat sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen lassen, und zwar in seinem virtuosen Rachedrama Lady Vengeance: die Rede ist von Lee Yeong-ae. Die koreanische Schauspielerin mit den zarten Gesichtszügen ist auch hier, in diesem sehr düsteren Kriminalfilm, dem Unvorstellbaren ausgesetzt. Als Mutter kann einem auch nichts Schlimmeres passieren, als sein Kind zu verlieren. Allerdings ist dieses Kind nicht verstorben, sondern ganz einfach verschwunden. Das war vor sechs Jahren. Yung-Yeon wirft sich vor, nicht gut auf ihren Sohn geachtet zu haben. Schuldgefühle plagen sie, das Leben wäre schon lange nicht mehr lebenswert, hätten die Eltern die Suche längst aufgegeben. Wie es das Schicksal aber will, passiert doch noch, worauf alle hoffen, und Yeong-Jeon und ihr Mann erhalten entsprechende Hinweise. Es wäre kein koreanischer Film, wären diese Widrigkeiten schon nervenzehrend genug – auf der Suche nach dem Jungen stirbt der Vater bei einem Autounfall. Die am Boden zerstörte Mutter (noch gebrochener kann man kaum sein) steht nun allein da. Allerdings nicht allzu lange – denn bald folgt wieder ein Anruf, der sie aus der Resignation und an die Küste Südkoreas lockt.

Bring Me Home von Regiedebütant Kim Seung-Woo hat von Meister Bong Joon-Ho, der lange vor Parasite so gehaltvolle Krimidramen wie Memories of Murder oder Mother schuf, so einiges gelernt. Sein Inszenierungsstil wirkt selbstsicher, vor allem die schwierig zu timenden, konfliktreichen Szenen gegen Ende des Dramas sind geschickt ausbalanciert. Seung-Woo, der seinen Film auch selbst verfasst hat, lässt sein anfangs in sich ruhendes Vermisstendrama immer mehr und mehr eskalieren, aus der verzweifelten Suche nach dem Kind wird bald ein handfester, durchaus blutiger und auch kompromissloser Thriller, dem aber immer noch die verpeilte Melancholie innewohnt, die koreanische Filme so auszeichnet. Das ist großes, packendes und nur scheinbar pessimistisches Asia-Kino in naturalistischer Bildsprache, und dieses Drama hätte seine Wirkung fast verspielt, wäre es nicht so professionell inszeniert worden. Schuld an diesem Fast-Debakel hat die deutsche Synchronisation. Dafür lässt sich Seung-Woo natürlich nicht zur Rechenschaft ziehen. Den scheinbar ungeschulten Sprechern aber sei so manches vorzuwerfen – allen voran eine unachtsame Dialogregie, die wohl geduldet hat, dass der Sprachcontent wie abgelesen klingt – ohne Intonation und ohne ein Gespür für die Szene. Synchronstudio ist nicht gleich Synchronstudio, das wird spätestens bei diesem Film klar. Und man weiß dann auch wieder, was für Könner hinter der Eindeutschung großer Produktionen stehen, die sich mit dem Thema des Films zu hundert Prozent auseinandersetzen.

In Bring Me Home wäre die schlechte Qualität der Synchro kaum durchzustehen gewesen, hätte der Film nicht so dermaßen an Fahrt aufgenommen. Letzten Endes aber war die hochdramatische Geschichte weitaus dominanter als die emotionslos heruntergeleierten Dialoge. Mein Tipp: Diesen Film unbedingt in OmU sehen. So wie eigentlich fast jeden koreanischen Film, denn dann hat man das lokale Sprachkolorit auch gleich mit am Schirm. Ein Kniff, der das Filmerlebnis vieleicht noch intensiver macht.

Bring Me Home