Monster (2023)

NONKONFORME UNGEHEUER

7,5/10


monster© 2023 Monster Film Committee


ORIGINAL: KAIBUTSU

LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

DREHBUCH: YŪJI SAKAMOTO

CAST: SAKURA ANDŌ, EITA NAGAYAMA, SOYA KUROKAWA, HINATA HIIRAGI, HARUKO TANAKA, MITSUKI TKAHATA, AKIHIRO TSUNODA, YŪKO TANAKA, SHIDŌ NAKAMURA U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Der Mensch ist dem Menschen schutzlos ausgeliefert. Zumindest in seinen ersten Lebensjahren, als Baby, als Kleinkind, und natürlich noch als zur Bildung verpflichteter Schüler. Wehren können sich so junge Menschen wohl kaum, und wenn, dann drohen Sanktionen, die das familiäre Miteinander schwerer machen, als es ohnehin schon ist, wenn die in der Pubertät auftretende soziale Reibung mit den Eltern hinzukommt – der erste Schritt zur Abnabelung, das erste Tasten nach einer Welt der Selbstbestimmung. Dieses Ausgeliefertsein und den Wunsch, die Gunst der Erwachsenen zu erlangen; diese selbstlose, idealistische Liebe, womöglich zum gar nicht mal eigenen Nachwuchs, ist etwas, das Hirokazu Kore-Eda zutiefst beschäftigt – und ihn einfach nicht loslässt. Mit Shoplifters aus dem Jahr 2018 hat das Ganze angefangen. In seinem Gewinner der Goldenen Palme wird das fremde Kind zum Teil einer kurios anmutenden, allerdings ums Überleben kämpfenden Patchworkfamilie, da die eigenen Blutsverwandten längst versagt haben. In Broker, seinem übernächsten Film nach La Verité – Leben und lügen lassen mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche (indem es zwar auch um das Ausgeliefertsein in der Kindheit geht, jedoch auf dem indirekten Weg der Rückblenden) sieht sich die Mutter nicht imstande, ihr eigenes Neugeborenes großzuziehen – und macht, mithilfe zweier karitativer „Menschenhändler“, auf Selfmade-Akquisition, wenn es um die Adoption ihres eigenen Kindes geht. Wieder stellt die Biografie eines Lebens den Beginn eines solchen als eine dem Wind und Wetter ausgesetzten Opfergabe dar, als ein Zustand, der Gnade erfordert. Und diese meistens auch genießen darf. Denn Kore-Eda ist kein Schwarzseher, seine Filme haben Herz und Hoffnung.

Auch das allerneueste und eben auf der Viennale exklusiv präsentierte, vielschichtige Jugenddrama Monster will nicht einfach so das Handtuch werfen. Die zum Teil recht verloren scheinenden Figuren in dieser stets neugierigen Komposition aus wechselnden Perspektiven und Wahrheiten haben allesamt die Chance, ihren Standpunkt einem Publikum zu erklären, das lange im Dunklen tappt. In ihrer, dem Film inhärenten Welt ist die Chance dafür eher gering und dringt vielleicht auch nur am Rande eines tobenden Taifuns an das Ohr der anderen, die dann hoffentlich verstehen werden, warum der Lehrer, Mr. Hori (Eita Nagayama), sich irgendwann am Dach des Schulgebäudes wiederfindet, um von dort in den Tod zu springen. Oder warum die Direktorin Fushimi (Yūko Tanaka) von Minatos Schule immer wieder dieselben Stehsätze rezitiert, ohne die Emotionen der anderen zu begreifen. Vielleicht, weil sie selbst zu sehr traumatisiert ist, um die Bedürfnisse, die rings um sie herum nach Verständnis lechzen, wahrzunehmen. Monster – auf japanisch: Kaibutsu – verbindet, wie eben auch in Kore-Edas anderen Filmen – das Hilflose einer Kindheit, die in ihrer Entwicklung keinen Stereotypen folgt, mit dem Ende des Lateins der Erwachsenen und stellt beide auf eine Stufe, bringt beide auf Augenhöhe. Und an den Rand der Verzweiflung. Doch wie gesagt; nur an den Rand.

Im Mittelpunkt dieses manchmal vielleicht zu gewollt ausgestalteten Vexierspiels steht der rätselhafte Junge Minato, aus dessen Verhalten wir allesamt nicht schlau werden. Schon gar nicht dessen alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Andō). Fast könnte man meinen, der Junge sei besessen von irgendetwas – einer höheren, vielleicht finsteren Macht. Und langsam, aber doch, wird er zum Ungeheuer. Mit dem Gehirn eines Schweins, welches er, wie er behauptet, selbst besitzt. Auf der anderen Seite steht Eri (Hinata Hiiragi), ein kleiner Sonderling, der in seiner eigenen Welt lebt und stets gut aufgelegt scheint, obwohl er tagtäglich in der Schule gemobbt wird. Sein Vater, ein Trunkenbold, redet ihm schließlich ein, an einer Krankheit zu leiden, deren Symptome sich in seinem seltsamen Verhalten manifestieren. Ausgetrieben muss es ihm werden, so, wie das gespenstische Treiben von Minato – oder die Lust zur Gewalt, die Mr. Hori an den Tag legt. Alle drei sind Monster. Das Monströse auf der anderen Seite – die konformistischen Gepflogenheiten Japans, in welchem die Norm das größte Gut ist, bietet zwar soziale Sicherheit, errichtet allerdings auch eine Mauer der Inakzeptanz allem Unberechenbaren gegenüber. Wie sehr so ein Zustand uneinschätzbar bleibt, ist Sache der Wahrnehmung.

Alle fünf zentralen Protagonisten – die beiden Kinder, die Mutter, der Lehrer und die Direktorin – müssen in diesem Sozialthriller ihr bestes geben, um ihre Sichtweisen zu kombinieren. Und so erhalten nicht nur sie, sondern auch wir als Publikum das Gesamtbild eines längst nicht so spektakulären Ist-Zustandes: Es ist die verzweifelt wirkende Geschichte einer vielleicht jungen Liebe, die als freundschaftliche Zuneigung beginnt – und später zumindest Minato Angst macht, bis dieser genug Mut aufbringt, sich diesem Ausgeliefertsein zu widersetzen. Viel schöner und treffender lässt sich der Heldenmut inmitten eines tosenden Sturmregens gar nicht darstellen. Unweigerlich erinnert Monster an Lukas Dhonts letztjähriger Filmtragödie Close. Auch hier: zwei Freunde, die in ihrer bereichernden Zweisamkeit mehr füreinander empfinden – und der Angst vor dem Unbekannten, die diese Liebe mit sich bringt, unterliegen. Kore-Eda spinnt diese Situation einen Schritt weiter, in eine weniger radikale Richtung. Er, der die japanische Etikette hinterfragt, will die Gunst für ein Leben nicht anderen überlassen, will dem Sturm nicht alles, was sich schutzlos draußen befindet, ausliefern. Selbstbestimmung, Individualität und die Identifikation mit den eigenen Wünschen sind wie vermeintlich tief vergrabene Schätze, die vielleicht schon im Innern eines alten Waggons gehoben werden können. Diese rauszubringen ans Licht des Tages ist eine Challenge, die Kore-Edas Film womöglich zu seinem bisher besten macht.

Monster (2023)

Das Lehrerzimmer (2023)

ALGORITHMEN DER KONFLIKTLÖSUNG

6/10


daslehrerzimmer© 2023 Alamode Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE: ÌLKER ÇATAK

BUCH: ÌLKER ÇATAK, JOHANNES DUNCKER

CAST: LEONIE BENESCH, MICHAEL KLAMMER, RAFAEL STACHOWIAK, ANNE-KATHRIN GUMMICH, EVA LÖBAU, KATHRIN WEHLISCH, LEONARD STETTNISCH U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Letzten Mittwoch war für den mit der goldenen Lola ausgezeichneten Spielfilm Das Lehrerzimmer Österreich-Premiere im Wiener Traditionskino Filmcasino. Leider war ich an dem Tag dort nicht zugegen, sonst hätte ich Akteurin Leonie Benesch persönlich die Hand schütteln können. Na gut, dann eben zwei Tage später. Denn ein Thema wie dieses kann ich schließlich nicht anbrennen lassen – Kino mit Gesprächsstoff, erhellend für den Alltag und das Miteinander. Das war schon bei Thomas Vinterbergs Die Jagd faszinierend genug – eine Chronik der Eigendynamik gesellschaftlicher Entrüstung. Auch der rumänische und zugegeben nicht ganz leicht zu verkostende Avantgarde-Knüller Bad Luck Banging or Loony Porn handelt von einer bigotten, heuchlerischen Elternschaft, die Wasser predigt und Wein trinkt. Alles Filme, die durchaus tief ins Fleisch des Wohlstands schneiden. Und ja, sie tun weh. Und noch besser: Sie bringen die Problematik auf den Punkt. Wer da nicht selbst reflektiert, dem ist nicht mehr zu helfen.

Ähnlich, aber nicht ganz so sarkastisch, sondern recht nüchtern und wertfrei, geht der Schulthriller Das Lehrerzimmer mit einer Problematik um, die nur allzu leicht allzu neugierige Schüler und Lehrer hinter ihrem Pult hervorlockt, ohne sie alle dazu aufzufordern, ihr Tun sofort zu überdenken. Vieles passiert da im Affekt, vieles lässt sich rein von den Emotionen treiben. Da könnte man meinen, gar nicht mal auf einer Schule zu sein, dem Ort des Wissens und der Bildung und vielleicht auch einer gewissen sozialen Intelligenz. Kann aber auch sein, dass sich in diesem Wald moralischer Zeigefinger der eine oder andere Fisch hinein verirrt hat, der gegen den Strom schwimmt. So jemand ist Leonie Benesch als Klassenvorstand Carla Nowak – jung und idealistisch und Methoden praktizierend, die bei den schon alteingesessenen Lehrkräften vielleicht für Verwunderung sorgen, allerdings aber frischen Wind durch die Klassenräume wehen lassen. Fast schon ein bisschen wie Robin Williams im Club der toten Dichter, nur für jüngere Semester. Carlas Schülerinnen und Schüler sind gerade mal 12 Jahre alt – und ja, es ist ein Alter, in welchem man Recht und Unrecht sowie unlautere Methoden von vernünftigen Vorgehensweisen unterscheiden kann, um einer gewissen Wahrheit ans Licht zu verhelfen.

Denn ein Dieb geht um, und natürlich kann dieser nur einer der Jungen sein. Lehrer würden sowas nie tun. Ein Verdacht fällt anfangs sehr schnell auf einen türkischstämmigen Schüler namens Ali – der hat aber mit der ganzen Sache nichts zu tun, die Eltern sind brüskiert. Da fällt der übermotivierten Carla eine detektivische Methode ein, um der Sache auf den Grund zu gehen – und zwar im Lehrerzimmer. Mit Geld als Köder, dass sie an ihrem Arbeitsplatz zurücklässt. Sie schafft es, den Langfinger auf Video zu bannen – die mit Sternen bemusterte Bluse trägt an diesem Tag nur eine: Frau Kuhn aus dem Sekretariat. Die denkt natürlich nicht daran, ihre Tat zuzugeben. Ganz im Gegenteil, sie wählt lieber den Angriff, um sich besser zu verteidigen. All das setzt eine Maschinerie aus Zufällen und Verkettungen in Gang, aus der sich selbst Ìlker Çatak gemeinsam mit Drehbuchautor Johannes Duncker nicht mehr herauswinden kann. Dieser Karren aus Begehrlichkeiten, Bedürfnissen und Rechthaberei steckt letzten Endes so tief im Dreck, dass ihn keiner mehr herausziehen kann. Da hilft vielleicht nur noch: loslassen. Das hat zur Folge, dass Das Lehrerzimmer zu keinem Konsens kommt, keine Lösung hat und keine Lösung will. Er setzt sich auch nicht bis zur letzten Konsequenz mit seinem geschaffenen Chaos auseinander. Muss er das denn? Ein bisschen ist man enttäuscht, als das ganze abrupt endet. Andererseits bleibt die Frage, um wen es in diesem Film eigentlich wirklich geht. Und wo der richtige Ansatz für eine Lösung begraben liegen könnte.

Und tatsächlich fragt man sich auch all die 98 Minuten des Films hindurch, wo die Quelle der Vernunft zu finden wäre. Was man wohl selbst hätte anders gemacht oder was man genauso gemacht hätte. Dass die Eigeninitiative von Leonie Beneschs Figur gleich zu Beginn aufgrund naiver Vorstellungen, was die Bereitschaft des Menschen betrifft, Schuld einzugestehen, wenn doch die Scham so sehr im Weg ist, natürlich nicht hinhauen wird, verwundert nicht. Da wären Alternativen noch möglich gewesen – später nicht mehr. Später verdichtet sich die Unordnung zu einem schwarzen Loch und verlangt einen Algorithmus, den man so noch nicht kennt. Çatak schafft hier die Analogie mit Rubiks Zauberwürfel – eine schöne Idee. Doch nicht mal Klassenvorstand Carla Nowak kann das Rätsel knacken.

Leonie Benesch hat hier offensichtlich ihre Hausaufgaben gemacht, denn fast scheint es unmöglich, glaubhaft eine Lehrkraft zu verkörpern, ohne sich mit der Materie vertraut gemacht zu haben. Die Rolle stemmt sie mit Bravour. Pädagogisch und zwischenmenschlich extrem geschult, braucht es viel mehr als das, um ihre Figur wirklich aus dem Konzept zu bringen. Trotz der Erschwernis der Sachlage steht sie zu ihrem Tun – da sieht man, was unerschütterlicher Idealismus alles bringen kann.

Das Lehrerzimmer (2023)

Piggy (2022)

DER FEIND MEINER FEINDINNEN

6,5/10


piggy© 2022 Alamode Filmdistribution Österreich


LAND / JAHR: SPANIEN, FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: CARLOTA PEREDA

CAST: LAURA GALÁN, RICHARD HOLMES, CARMEN MACHI, CLAUDIA SALAS, IRENE FERREIRO, CAMILLE AGUILAR, PILAR CASTRO, JOSÉ PASTOR U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Gibt es das tatsächlich noch, dass Menschen aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit gehänselt, verspottet und gemobbt werden? Womöglich würden mir jetzt einige die Gegenfrage stellen, in welcher Welt ich denn lebe. Irgendwie aber denke ich mir, dass Dinge wie Übergewicht längst nicht mehr Grund dafür sind, Menschen auszugrenzen. Das mag naiv sein, ich geb’s zu. Umso erschreckender ist es, dass junge Frauen wie Saras Altersgenossinnen, die in einer spanischen Kleinstadt ihren Sommer herunterbiegen, ungebildet und gehässig genug sind, um den Sprung in eine moderne Welt der Toleranz nicht geschafft und diese auch nicht im Rahmen ihrer Erziehung mit auf den Weg bekommen zu haben. In manchen Teilen der Welt hängt man halt noch immer einige Jahrzehnte hinterher, so traurig es sein mag. In diese kummervolle Wolke, entstanden aus Ablehnung von außerhalb, hängt die Tochter eines Fleischers ihren Gedanken nach, hört Musik und träumt davon, dazuzugehören. In diesem Sommer aber, wo sie ihrem Vater stets zur Hand gehen muss und von ihrer Mutter permanent bevormundet wird, wird alles anders werden. In diesem Sommer wird Piggy, wie sie von den anderen beschimpft wird, über sich selbst hinauswachsen und allen zeigen, wo der Fleischhaken hängt.

Denn ein Psychopath treibt sein Unwesen, der scheinbar wahl- und ziellos mordet und eines heißen Badetages ganz zufällig auf Sara trifft, die gerade eine Kaskade an Beleidigungen und üble Quälereien über sich ergehen lassen muss. Anscheinend hat der tumbe Killer ein Herz für Außenseiter – und überhaupt für Sara, die es ihm angetan hat. Also tut er das, was das gehänselte Mädchen nicht zustande bringen kann: Er knöpft sich all die Mobberinnen vor, entführt sie und verfrachtet sie in seinen Lieferwagen. Als Sara des Verbrechens gewahr wird, entschließt sie sich, einerseits aus Angst und andererseits aus Genugtuung für erlittene Schmach, nichts zu tun. Eine stille Vereinbarung zwischen Killer und Gemobbter scheint besiegelt, denn der Feind meiner Feindinnen könnte ein Freund sein. Noch dazu ein Mann, der Sara erstmals das Gefühl gibt, als junge Frau wahrgenommen zu werden.

Die dramatische Konstellation des im letzten Jahr auf dem Wiener Slash Filmfestival präsentierten, spanischen Thrillers birgt schon eine groteske, knackige Prämisse. Während sich bei Steven Kings Carrie dank telekinetischer Fähigkeiten nämlicher Teenie aus eigener Kraft heraus zu wehren weiß, greift Sara auf ein menschliches Monster zurück, dass ihr Zärtlichkeit entgegenbringt und als Beschützer fungiert. Ob edler Ritter oder nicht – das Ideal vom Beistand einer Frau gegenüber stellt sich in Carlota Peredas Autorenfilm einem kritischen Diskurs über Rollenbilder und Verantwortung, über Gut und Böse und dem Recht auf Rache. Dabei fädelt sie ein Coming of Age-Drama unter das Thriller-Genre, dem Hauptdarstellerin Laura Galán ein ausdrucksstarkes Gesicht verleiht.

Während sich das moralische Dilemma einer sich längst als Frau verstanden werden wollenden Persönlichkeit ausweitet und einige interessante Impulse setzt, greift das übrige Szenario auf gängige Slasher-Versatzstücke zurück, die manchmal an M. Night Shyamalans Split erinnern oder in der klischeehaften Darstellung sämtlicher Provinzbürger münden. Diese Elemente holen einen dann doch nicht so ab wie die Killer-Mädchen-Konstellation, wobei am Ende aber die Erwartungen im blutigen Finale fast schon wieder unterlaufen werden. Wie sich Laura Galán als brachiale Naturgewalt durch die Grauzonen physischer wie psychischer Gewalt kämpft, um eine Richtung für sich selbst zu finden, lässt sich als spektakulärer Showdown bezeichnen. Piggy ist ein zwar simpel gestrickter und manchmal etwas unbeholfen inszenierter, aber letzten Endes durchdachter schräger Thriller, den wohl, würde Harris Glenn Milstead als Divine noch leben, John Waters (u. a. Female Trouble) zu seinen Bestzeiten des Undergroundkinos auch gerne inszeniert hätte. Nur fraglich, ob die zarte Selbstfindung Saras zugunsten schockierender Trash-Momente nicht auf der Strecke geblieben wäre.

Piggy (2022)

Playground

SCHLACHTFELD SCHULE

7,5/10


playground© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: LAURA WANDEL

CAST: MAYA VANDERBEQUE, GÜNTER DURET, KARIM LEKLOU, LAURA VERLINDEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Die Welt der Peanuts ist eine, in der es so gut wie keine Erwachsenen gibt. Was nicht heißt, dass sie nicht ab und an auftreten, doch meist unsichtbar und aus dem Off unverständliches Zeug brabbelnd – Worte, die ein Kind nicht wirklich tangieren, es sei denn, sie werden direkt angesprochen und müssen Pflichten erledigen, die für ihr zukünftiges Fortkommen durchaus, so sagen andere, relevant sind. Charles M. Schulz hat mit seinen Comics also eine Welt kreiert, die nur den Kindern gehört. In welcher deren Regeln gelten und psychosoziale Mechanismen aus dem eigenen kindlichen Antrieb heraus entstehen. Dennoch würde Schulz womöglich niemals sagen, dass den Kindern das Kommando gegeben werden soll, wie es einst Herbert Grönemeyer in einem großen Missverständnis juveniler Psychologie gegenüber lauthals singend verlautbart hat.

Den Kindern das Kommando zu geben ist ein falscher Weg. Kindern aber die Möglichkeit zu geben, aus eigenem selbstbestimmtem Handeln heraus komplexe zwischenmenschliche Probleme erst zu verstehen, um sie dann zu lösen, ist notwendig. Das beste Biotop dafür: Die Schule. Dort passiert alles, was uns später genauso und immer noch widerfährt, nur kennen wir die Mechanismen zur Deeskalation womöglich besser – die Emotionen, die dabei im Spiel sind, verleiten aber immer noch dazu, sich aufzuführen wie ein Kind.

Playground von Laura Wandel ist wie die Peanuts, nur ohne charmanter Ironie – es ist härter, brutaler, gnadenloser. Was bei Wandels erster Regiearbeit zunehmend irritiert, ist der eng gesteckte Radius der Wahrnehmung, kurze Brennweiten und die Perspektive auf Augenhöhe der zentralen Filmfigur Nora. In Playground gibt es kein Rundherum, nur Kantine, Pausenhof und Klassenraum. Erwachsene erscheinen, sofern sie sich nicht auf Augenhöhe der Kinder begeben, als Fragmente von Körpern, die sich fast schon übergriffig und dominant ins Bild schieben. Playground ist ein Spiel mit den Hierarchien, nicht nur zwischen den Mitschülern, sondern auch und vor allem zwischen Kind und Aufsichtsperson. Fast gleicht dieses Schülerdrama einem Gefängnisfilm, in dem wilde Regeln gelten und das Recht des Stärkeren, Beliebteren.

Die Problemlage des Films ist es überdies wert, in weiterem Vorgehen ergründet zu werden: Die siebenjährige Nora beginnt ihren ersten Schultag an der Schule ihres Bruders Abel und muss sich ihr eigenes soziales Umfeld von der Pike auf neu errichten. Das scheint für den Anfang gar nicht so schwer – doch als sie merkt, dass Abel von drei Buben zusehends und immer heftiger gemobbt wird, findet sie sich in einer Zwangslage wieder: Soll sie nun, gegen den Willen von Abel, angesichts dieser psychischen und physischen Gewalt intervenieren und ihre Beliebtheit aufs Spiel setzen? Oder das Drama zu eigenen Gunsten ignorieren?

Wandel rückt keinen Millimeter von ihrer Kinderdarstellerin Maya Vanderbeque ab. Sie ist das Zentrum des Films, alles dreht sich um sie, all der Lärm vieler Stimmen, all die Gemeinheiten und all der Spott, auf dem die lern(un)willige Klassengesellschaft errichtet wird. Vanderbeques natürliches Spiel ist großartig und es ist wieder mal verblüffend anzusehen, was Filmemacher aus solchen Jungdarstellern herausholen können. Das erinnert mich an Jeremy Milikers Performance in Die beste aller Welten, einem der stärksten österreichischen Filme der letzten Jahre.

Es ist auch verblüffend, wie sehr das Verhalten von Kindern dem von Erwachsenen gleicht, nur lässt sich hier, in diesem schmerzlichen Kammerspiel, die ganze Dynamik ungefiltert beobachten. Geschickt setzt Wandel aber Wendepunkte in diesem Geschehen, bei welchen den Erwachsenen mehr oder weniger die Hände gebunden sind, und folgt dem steinigen Weg kindlicher Selbstfindung auf erzählerisch wuchtige, hochdramatische Weise.

Playground

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

DER FLUCH DES ANSTANDS

7/10


ahero© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: ASGHAR FARHADI

CAST: AMIR JADIDI, MOHSEN TANABANDEH, SAHAR GOLDUST, FERESHTEH SADRE ORAFAIY, MARYAM SHAHDAEI, ALIREZA JAHANDIDEH U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Viel zu oft kommt alles zusammen. Das neue Startup, der Verrat am Geschäftspartner und die Trennung von der Mutter des gemeinsamen Kindes. Und als ob das nicht schon genug Zores im Leben des Iraners Rahim wäre – es kommt noch dicker. Und zwar in Form von Schulden. Der Geldgeber ist unglücklicherweise mit dessen Ex familiär verbunden und auf den Verschuldeten nicht wirklich gut zu sprechen. Also wandert dieser ins Gefängnis – bis irgendwann Licht am Ende des Tunnels aufflackert und das Geld zurückgezahlt werden kann. Normalerweise wüsste man nicht wie, doch in Asghar Farhadis Filmen ist niemals alles normal – der Skandal und die Versuchung hängen kitschigen Sonnenuntergängen gleich am Horizont und keiner kann wegsehen. Auch hier ist die Gelegenheit eine, die Diebe macht, und Rahim Soltanis neue und vor allem inoffizielle Geliebte (eine wilde Ehe ist nichts, was man vom Minarett posaunt) findet per Zufall eine herrenlose Damenhandtasche, die Güldenes in sich birgt. Mit diesem kleinen Schatz lässt sich ihr Geliebter aus dem Knast holen – doch der zögert. Warum nur? Währt nicht ehrlich am längsten? Und wäre es überhaupt moralisch vertretbar, das verlorene Geld anderer Leute für den eigenen Vorteil zu missbrauchen? Nein, sagt sich Rahim – lieber Anstand dort, wo Anstand möglich ist. Schließlich möchte sich der junge Mann auch später noch in den Spiegel schauen können. Viel mehr noch – er tut alles, um die Besitzerin der Tasche aufzuspüren. Das gelingt auch, das Gold kehrt dorthin zurück, wo es herkam – und Rahim ist in den Medien ganz plötzlich der honore Held kommender Tage.

Wäre ja alles gar nicht so schlecht. Lieber ehrlich, integer und aufrecht, als ein falscher Hund, der es sich auf Kosten anderer richtet. Da kann man sich selbst nichts vorwerfen. A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani wäre bis zu diesem Punkt sogar ein Feel-Good-Movie über den Wert der guten Tat, gleich einem idealistisch angehauchten Selbsthilfefilm, den sich hoffnungslose Misanthropen zu Herzen nehmen könnten. Nicht so bei Asghar Farhadi. Da hängt bereits von Anfang an ein Mief aus Missgunst und Selbstgerechtigkeit in der Luft. In einer Welt wie dieser ist der Pranger nicht weit entfernt von jener Stelle, an welcher Gutmenschen von ihren Taten berichten. Doch heißt es nicht in der Bibel: lass die eine Hand nicht wissen, was die andere tut? Das wäre ja prinzipiell so gekommen, doch wo Rauch ist, lodert bald ein Feuer und die Chronologie des Zufalls wird von jenen erzählt, die am wenigsten darüber wissen.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani ist die händeringende, betont nüchterne Passionsgeschichte eines Pechvogels, an welchem wohl kaum einer seine Schadenfreude hat. Gut gemeint ist hier teuer bezahlt und Ehrlichkeit der Traum, in welchem man plötzlich nackt mit der U-Bahn fährt. So steht er da, Rahim, eine moralisch-liberale Instanz, ein umgekehrter Hauff ’scher Peter Munk, im übertragenen Sinn gänzlich textilfrei und ohne jegliche Mittel, um sich selbst zu verteidigen. Die Ehrlichkeit, so seziert Farhadi, ist die harmlose Sackgasse, in die derjenige läuft, der sie verbreitet, verfolgt von einem schwurbelnden Mob, der den Hang zur Lüge als den stärksten Trieb verdächtigt – und sich selbst dort aufhält, wo sie am meisten verbreitet wird: In den Sozialen Medien. Die sind das wahre Damoklesschwert für Herrn Soltani, der vor lauter Stolpern über fallende Dominosteine mehr und mehr den Überblick und darüber hinaus den Halt verliert. Doch Farhadi lässt seinen Hiob nicht ganz so abstürzen wie es vielleicht Andrei Swiaginzew (Leviathan) getan hätte. Farhadi glaubt genauso wie Rahim an den Anstand, und hält es bis zuletzt für sinnvoll, diesen zu verteidigen.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

Joe Bell

ZU FUSS IN EINE BESSERE WELT

6/10


joebell© 2021 Leonine Distribution


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: REINALDO MARCUS GREEN

CAST: MARK WAHLBERG, REID MILLER, CONNIE BRITTON, MAXWELL JENKINS, MORGAN LILY, GARY SINISE U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Nicht lange suchen, einfach buchen: Mark Wahlberg ist die Universalbesetzung für so ziemlich alles – ob Action, Familienkomödie, Science-Fiction oder Tatsachendrama. Der durchtrainierte Muskelmann setzt weniger auf seine körperlichen Schauwerte, sondern auf professionelle Routine. Und das ist es auch, mehr wird’s nicht. Wahlberg ist gut, aufgeräumt und im Teamwork mit der Filmcrew womöglich erstaunlich integer. Sonst würde man ihn nicht für alle erdenklichen Projekte besetzen. Einziger Wermutstropfen: Wahlberg entwickelt keine Leidenschaft. Seine Rollen sind Tagesgeschäft, mehr lässt sich dabei kaum erspüren. Wir werden sehen: selbst im kürzlich anlaufenden Uncharted wird Wahlberg wieder waschecht Wahlberg sein, neben einem Tom Holland, der hoffentlich nicht nur den Spider-Man gibt. Aber ich lass mich überraschen. Und übrigens: Die Goldene Himbeere könnte dieses Jahr seine Regale zieren, sofern er sich diese abholen will: In Infinite war ihm der Alltag seiner Arbeit in fast jeder Szene abzulesen.

Wahlbergs Agent hat dem Profi zwischenzeitlich auch noch diese Rolle verschafft: die des zweifachen US-amerikanischen Familienvaters Joe Bell, der die Homosexualität seines Sohnes nur mit Mühe akzeptiert und der dann auch nicht ausreichend hinhört, als dieser von massivem Mobbing an seiner Schule berichtet. Die grausamen Sticheleien intoleranter Altersgenossen führen zur unvermeidlichen Katastrophe: Sohnemann Jadin begeht Selbstmord. Daraufhin beschließt Joe Bell, seine Defizite als Vaterfigur, posthum für seinen Sohn, wiedergutzumachen und zieht als Referent gegen Mobbing quer durch die USA. Es ist der Weg eines trauernden, traumatisierten, in eine notwendige Katharsis getriebenen Menschen, den das Schicksal seines Sohnes für den Rest seines Lebens begleiten wird. Und auch dieses muss nicht zwingend lange dauern.

Ein Trauermarsch für eine bessere Welt, das Gedenk-Roadmovie eines reumütigen Egoisten, der mit Eifer seinem Sohn gerecht werden will: Oft geht Joe Bell nicht allein – es begleitet ihn sein verstorbener Sohn als Projektion einer Sehnsucht. Jungschauspieler Reid Miller ist dabei faszinierend gefühlvoll und scheut nicht davor zurück, zärtlich und verletzbar zu sein. Der Film selbst, inszeniert von Reinaldo Marcus Green, dessen Oscar-Favorit King Richard demnächst ins Kino kommt, hat berührende Momente, vor allem dann, wenn Wahlberg posthume Gespräche mit seinem Sohn führt. Da wünscht man sich sehnlichst, es wäre nie so weit gekommen, und man könnte das Rad zurückdrehen. Geht durchaus nah. Sonst aber mag sich Green mit dem Thema Mobbing nicht so recht auseinandersetzen zu wollen und verlässt sich auf Wahlberg, der dem Thema entsprechen muss: Routine also auf einem gewissen Level, in vertrautem Rhythmus einer True Story aus der amerikanischen Gesellschaftschronik, betroffenheitsfördernd und sich ganz auf das Schicksal einer aufs Tragischste gebeutelten Familie verlassend, leidgeprüft wie Hiob.

Joe Bell

Wunder

MIT CHEWIE IN DIE SCHULE

5/10

 

wunder© 2017 Constantin Film

 

LAND: USA 2017

REGIE: STEPHEN CHBOSKY

MIT JACOB TREMBLAY, JULIA ROBERTS, OWEN WILSON, MANDY PATINKIN U. A.

 

Als Kind braucht man schon sehr viel Selbstbewusstsein und Mut, als einziger Neuzugang in einer bereits bestehenden Klassengemeinschaft nicht die Nerven zu verlieren und blindlings wegzulaufen. Da muss man sich schon sehr zusammenreißen. Noch dazu, wenn man keinen kennt und nicht weiß, wo es am Klügsten ist, anzuknüpfen. Zusätzlich erschwerend wird es, wenn der Neuzugang nicht den Schönheitsidealen entspricht, die wir Menschen gewohnt sind, anzunehmen.

In Wunder ist der Neuzugang ein 10jähriger Junge namens August, genannt Auggie. Ein blitzgescheiter, aufgeweckter Knabe mit ordentlich Know-How in Sachen Naturwissenschaften und einer Vorliebe für Star Wars. Nur – Auggie hat ein physikalisches Problem. Das hat ihn schon mehrere Dutzend Operationen gekostet. Dementsprechend vernarbt ist sein Gesicht. In einer an Äußerlichkeiten orientierten Gesellschaft kommt sowas erstmal gar nicht so gut an. Der kleine Junge von allen Seiten beäugt und quer durch die Bank abgelehnt – bis einer der Mitschüler die eigentliche Person hinter dem entstellten Gesicht wahrnimmt.

Auch dazu gehört Mut. Mut, sich nicht so zu verhalten wie alle anderen. Mut, den ersten Schritt zu tun in eine andere, bessere Richtung. Auch dieser Mitschüler namens Jack wird beäugt, Aber das schert ihn nicht. Und bald schert es Auggie auch nicht mehr, denn es sieht so aus, als hätte dieser einen Freund gewonnen. Zum Glück allerdings wird unser Nachwuchs meist auf eine Weise erzogen, die Toleranz und Solidarität hochhält. Auf eine Weise, die auch lehrt, den Menschen hinter all dem Äußeren wahrzunehmen, sich so wenig wie möglich Vorurteile zu bilden und zweimal hinzusehen. Es ist – vor allem für die gegenwärtige Generation an Schülern – eine Zeit der bewusst gelebten Ethik, des Verstandes und der Bildung. Doch so wie wir Erwachsenen selbst manchmal erzogen worden sind, so können wir es manchmal auch nicht besser wissen für unsere Folgegeneration. Und dann entsteht sowas wie Mobbing. Aus Unsicherheit, Minderwertigkeitskomplexen und Geltungsdrang heraus. Solche erniedrigenden Auswüchse wird es immer geben. Das bekommt auch Auggie zu spüren. Der sich mehr als jemals zuvor treu bleiben muss und nicht verzweifeln darf.

Owen Wilson und Julia Robert, die ich, je länger sie im Filmbiz arbeitet, immer mehr zu schätzen weiß und richtiggehend gerne sehe, erfüllen die Rolle als Supporting Actor auf den Buchstaben genau. Die beiden Stars räumen so gut es geht das Feld für das begnadete Kinowunderkind Jacob Tremblay (Raum, The Book of Henry), der mit seinen Jung-Co-Stars den Film fast schon im Alleingang stemmt. Und ja, Wunder ist ein Jugendfilm. Pädagogisch wertvoll, mit allerlei (be)merkenswerten Zitaten und hilfreichem Wertebewusstsein. Und irgendwann erreicht Wunder einen Moment, in dem alles vollkommen wirkt. Ind welchem Auggie zu sich selbst und den anderen gefunden hat. Ein Moment, der sich mehr mit Gesten und Blicken erklärt als mit Worten. Doch dann kommt es, wie es kommen muss – und der Film erliegt einem völlig redundanten Nachspann, der sich rund eine halbe Stunde lang dahinzieht und Begebenheiten erklärt, die im Kopf des gewieften Zusehers ohnehin schon Gestalt angenommen haben. Dinge, die sich jeder denken kann. Oder niemand so genau vorgekaut haben möchte. Das tut Stephen Chbosky allerdings leider. Er kaut uns vor, wie wir die nahe, übertrieben triumphale Zukunft von Auggie zu sehen haben. Zuletzt hatte ich bei The Green Mile derart leiden müssen. Auch in diesem Film hat Frank Darabont nicht gewusst, wann Schluss ist. Wunder weiß das leider auch nicht. Und platziert glatt gebügelten Zuckerguss, wo keiner hinsoll.

Wunder

Three Billboards outside Ebbing, Missouri

DEN TEUFEL AN DIE PLAKATWAND MALEN

7/10

 

threebillboards© 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

BUCH & REGIE: MARTIN MCDONAGH

MIT FRANCES MCDORMAND, SAM ROCKWELL, WOODY HARRELSON, ABBIE CORNISH, PETER DINKLAGE U. A.

 

Das erste Mal, als ich mit dem Dramatiker Martin McDonagh in Berührung kam, war die Aufführung seines Theaterstücks Der Leutnant von Inishmore im Wiener Akademietheater. Raues, blutiges Theater aus der irischen Unterwelt. Kein angenehmes Stück Bühnenspiel. Aber intensiv und einprägsam. Aber das ist schon Jahre her. Dass McDonagh auch auf Kino macht, bewies er dann mit Brügge sehen…und sterben?. Ein schwarzhumoriger Krachten-Thriller vor malerischen Fachwerkbauten. Sehenswert ja, aber nicht weltbewegend. Mit dem im Vorfeld hochgelobten Oscar-Kandidaten Three Billboards outside Ebbing, Missouri hat der Ire wohl sein inhaltlich komplexestes und vielschichtigstes Werk auf die Leinwand gewuchtet. Doch wie viel davon ist wirklich von Martin McDonagh? Viel eher lässt sich dieses Werk als Teil der Arbeiten seines älteren Bruders John Michael McDonagh sehen. Der hat sich im Gegensatz zu Martin immer wieder mal mit weitaus schwierigeren, vor allem ethischen Themen auseinandergesetzt. Ganz besonders in seinem letzten Film Calvary – Am Sonntag bist du tot. Ein Film um Glaube und Kirche, Vergebung und Verantwortung. Beeindruckend, bleischwer und metaphorisch. Three Billboards outside Ebbing, Missouri kippt in ein ähnliches Fahrwasser. Kann sein, dass das Kleinstadtdrama durchaus von John Michael´s Herangehensweise an gesellschaftskritische Stoffe beeinflusst worden ist. Wenn ja, war das mit Sicherheit kein Fehler.


Three Billboards otside Ebbing, Missouri könnte an einem Ort spielen, den sich Stephen King ausgedacht hat. Dieses fiktive Ebbing ist eine bigotte, spießige Kleinstadt – erzkonservativ und hinterwäldlerisch. Eine Keimzelle für Mord und Totschlag, für Rassenhass und sozialem Mobbing. Nichts für ungut, aber in Ebbing ist so ziemlich alles irgendwie mit Vorsicht zu genießen. Und dann ist da ein Mord passiert, die Vergewaltigung und Verbrennung eines Mädchens, direkt unter den Billboards, welche die Abzweigung nach Ebbing säumen – und zum Streitfall werden. Denn die trauernde Mutter des Teenies, die verschafft sich mit diesen drei Plakatwänden sowohl mediales Gehör als auch genug Feinde. Und entfacht eine Spirale der Gewalt und der Gegengewalt, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.

McDonagh der Jüngere liefert eine fulminante Geschichte, das Zerrbild eines schwelenden Mikrokosmos aus Hass und Wut, aus Genugtuung und Trauer. Und sie klingt so bizarr, dass es tatsächlich so passieren hätte können, was ich anfangs sogar noch gedacht habe. Doch 
Three Billboards otside Ebbing, Missouri ist eine fiktive, rabenschwarze Farce, die vor allem darstellerisch in noch tiefere Schwärze trifft als es die Story ohnehin schon tut. Und damit meine ich in erster Linie nicht mal Frances McDormand, von der man sowieso keine schlechte Arbeit erwartet. Nein – es ist das Schauspiel des Sam Rockwell, die nachhaltig beeindruckt und im Gedächtnis bleibt. Seine Wandlung vom niederträchtigen, hasserfüllten Saulus zum Paulus ist ein grandioser künstlerischer Kraftakt. Die veranschaulichte Kleinkariertheit, Impulshaftigkeit und Verletzlichkeit des latent rassistischen Polizisten Dixon und seine stete Metamorphose erinnert flüchtig an die Paraderolle Harvey Keitel´s in Bad Lieutenant. Ihm zur Seite natürlich der von mir sehr geschätzte Woody Harrelson als Mentor und Dixon´s Vaterersatz. All diese Figuren geben McDonagh´s Parabel der Vergebung eine raue, derbe, knochenharte Intensität, die den Wunsch nach dem inneren Frieden eines jeden einzelnen oder jeder einzelne zu einem zynischen Kreuzweg werden lässt. Das abrupte Ende aber wird den gierenden Gerechtigkeitssinn des Publikums erstmal wenig befriedigen. Später jedoch entfalten die letzten Worte seinen ganzen entlarvenden Zweck. Fast schon als Selbsttest für das Publikum, wie bei Helmut Qualtinger´s Die Hinrichtung.

Die Spirale der Gewalt zu durchbrechen verlangt unendliche, fast schon übermenschliche Größe. Im Angesicht emotionaler Belastung einen Schritt zurück zu treten, damit die Faust ins Leere fährt. Nur, um zu einer für alle erträglichen Ordnung zurückzufinden – das ist die Essenz dieser kraftvollen Ballade, die sich manchmal so traurig anfühlt wie Manchester by the Sea, und manchmal so absichtlich dick aufträgt wie ein Film der Coen´s. Selbstjustiz ist auch keine Lösung, die Hilfe des Feindes vielleicht. Ein Impuls, der neu ist – und Three Billboards outside Ebbing, Missouri zu einer faszinierend trotzigen Odyssee ins Innere verschütterter Menschlichkeit werden lässt.

Three Billboards outside Ebbing, Missouri