Paradise (2023)

DIE PFÄNDUNG VON LEBENSZEIT

5/10


paradise© 2023 Netflix Österreich


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE: BORIS KUNZ

DREHBUCH: PETER KOCYLA, BORIS KUNZ, SIMON AMBERGER

CAST: KOSTJA ULLMANN, CORINNA KIRCHHOFF, MARLENE TANCZIK, IRIS BERBEN, ALINA LEVSHIN, LISA-MARIE KOROLL, LORNA ISHEMA, NUMAN ACAR, LISA LOVEN KONGSLI U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Oft kommt es einem vor, dass das Leben wie im Flug vergeht. Deutlich wird’s bei den eigenen Kindern, denn die wachsen schnell heran, und während sie älter werden, in die Pubertät kommen und dann ihren Abschluss machen, ist diese Zeitspanne zum Erwachsenwerden an einem selbst nicht spurlos vorübergegangen. Ganz im Gegenteil: Erst jetzt wird deutlich, dass alles ein Ablaufdatum hat, dass uns jene, denen wir ins Leben geholfen haben, ersetzen werden. Und so wechselt Generation mit Generation, während das Streben nach dem ewigen Leben in Film und Fernsehen seine Gestaltungsformen und Interpretationen sucht. Gerade das erschreckende Bewusstsein, dass die Jahre wie im Schnelldurchlauf vergehen, ohne dass sie wahrgenommen wurden, dient gerne als dystopisches Szenario in Near-Future-Filmen und wird zum körperlosen Antagonisten, zur erbarmungslosen Entität. Zu einem tyrannischen Zustand, den sich manche der wenigen milliardenschweren Gewinner eines dahinsiechenden Systems zu eigen machen – um noch mehr zu lukrieren. Und das ganze Drumherum als kaufbares Elysium präsentieren.

Die Rede ist dabei von Paradise, einem deutschen und auf Netflix gerade sehr erfolgreichen Science-Fiction-Thriller, der die Zukunft als ausweglose Konsequenz gegenwärtiger Zustände weitertreibt. In dieser Vision von Morgen ist es der Wissenschaft gelungen, durch exzessive Genforschung Lebensjahre zu transplantieren. Es gibt also nicht nur Organspender wie schon seit jeher, sondern auch die Möglichkeit, aufgrund der Abgabe von Lebenszeit finanziell fein raus zu sein, sofern man in Geldnöten steckt. Alles ist plötzlich möglich, und ein paar Jährchen mehr oder weniger werden schließlich nicht ins Gewicht fallen, sind die doch ordentlich Kapital wert. Das Establishment profitiert – es verjüngt sich, lebt länger bis fast ewig. Die Welt, die Boris Kunz hier beschreibt, ist das Paradies einzig und allein für die Reichen. Ist das Ideal für den Kapitalismus, der sich am Diesseits vergreift wie ein Parasit. Und Max Toma (Kostja Ullmann), glücklich verheiratet mit Gattin Elena, ist einer derjenigen, die im Außendienst potenziellen Kunden ihre Lebensjahre im wahrsten Sinne des Wortes von den Rippen leiert. Ein Gevatter Tod für den Zwischenstand, ein profitbringendes Geschäft aus dem Jenseits. Selbst dort denkt man nur noch an den Mammon.

Da passiert es eines Tages, und das glückliche Paar steht nach einem Wohnungsbrand plötzlich auf der Straße. Selbstverschulden, heißt es von Seiten der Versicherung, die keinen Cent bereit ist zu zahlen. Was Max aber nicht wusste: Elena hat als Sicherheit ihre Jahre gepfändet – sage und schreibe fast vierzig davon. Der Horror wird Realität und die junge Ehefrau muss unters Messer. Der körperliche Verfall passiert zwar nicht im Zeitraffer, aber von heute auf morgen. Sophie Theissen, der CEO von Aeon, dem einzigen offiziellen Monopol in Sachen Lebenszeit, sichert Max ihre Hilfe zu – doch das bleibt ein Lippenbekenntnis. Als plötzlich klar wird, dass die Grand Dame Elenas entzogene Lebenszeit für sich selbst gepachtet hat, ist die Wahl der Waffen zur Rückholung des gemeinsamen Glücks eine, die man gut und gerne als schmutzig bezeichnen kann. Aus dem vorbildlichen Mitarbeiter des Konzerns wird ein Rebell. Und nicht nur Max, auch die nun ältere Elena (Theater- und auch Burgschauspielerin Corinna Kirchhoff) radikalisiert sich im Bestreben für Gerechtigkeit zusehends.

Das futuristische Drama erinnert unweigerlich an den von Andrew Niccol geschriebenen und inszenierten Thriller In Time – Deine Zeit läuft ab mit Amanda Seyfried und Justin Timberlake. Auch dort wird Lebenszeit zur Weltwährung – mit fatalen Folgen, aber letztlich doch ganz anders konzipiert, vielleicht auch weit unrealistischer als in vorliegendem Streifen. In In Time ist bei jeder Person die Lebenszeit auf 25 Jahre reduziert, natürlich aufgrund des akuten Problems des Überbevölkerung. Eine implantierte Uhr zeigt das letzte Lebensjahr, welches allerdings immer wieder verlängert werden kann, wenn man das nötige Kleingeld hat. In Paradise lebt der Mensch in bewährter Weise vor sich hin, so, wie wir es kennen. Es sei denn, er braucht Geld – oder Leben.

Die Idee ist interessant und auch ganz gut durchdacht. Mit Iris Berben als undurchsichtige und über allen Dingen stehende Ikone einer wirtschaftlichen Weltmacht lässt sich die Unbarmherzigkeit des Kapitalismus in einer fast schon bis ins Abstrakte überhöhten Figur bannen. Auch Marlene Tanczik und Corinna Kirchhoff als ein und dieselbe, aber jüngere wie ältere Person ergänzen sich prächtig und lassen ihre Altersrollen zu einem einzigen, stringenten Charakter verschmelzen. Abgesehen davon aber erreicht Paradise niemals so richtig die Wucht und Wirkung eines großen Kinofilms. Es liegt nicht nur an Kostja Ullmann, keine Frage. Vielleicht aber vielmehr daran, dass Boris Kunz vom Fernsehen kommt und es ihm schließlich schwerfällt, die epische Tragweite dieser verkorksten Zukunft entsprechend zu vermitteln. Trotz seiner Akkuratesse und sozialphilosophischen Dringlichkeit arbeitet sich das Thema, eingeschläfert durch unzählige Nacht- und Nebelszenen, nur zaghaft voran. Relativ banal handelt Paradise überdies den Rechtsstaat ab, der angesichts dieser tragischen Ausgangssituation überhaupt nicht existiert, der aber mit Sicherheit ein Wörtchen mitzureden hätte. Die obligate Rebellengruppe, die es als Kontrapunkt natürlich geben muss, entzieht sich selbst aufgrund ihres plakativen Idealismus ihre eigene Existenzberechtigung. Sie wird zum Dekorationselement – wie so einiges in einem Film, der mit mehr Budget und der richtigen Person im Regiestuhl ordentlich Zündstoff für Diskussionen mitgebracht hätte. Mit dem Eindruck aber, den Paradise hinterlässt, denkt man maximal an den eigenen nächsten Geburtstag.

Paradise (2023)

Aus dem Nichts

DER MENSCH ALS DES MENSCHEN WOLF

7/10

 

ausdemnichts© 2017 Warner Bros. GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND 2017

REGIE: FATIH AKIN

CAST: DIANE KRUGER, NUMAN ACAR, SIIR ELOGLU, JESSICA MCINTYRE, ULRICH TUKUR, JOHANNES KRISCH U. A. 

 

Ich will mir das einfach nicht vorstellen müssen: eines Tages nach Hause zu kommen und die Familie ist nicht mehr da. In Fatih Akins Terrordrama passiert genau das. Erleben muss das Undenkbare Mutter Katja, intensiv dargeboten von Diane Kruger. Als sie nämlich ihren Sohn vom Büro seines Vaters abholen will, ist das Büro auch nicht mehr da. Restlos zerstört durch eine Nagelbombe, die vor dem Laden deponiert war. Keiner hat’s bemerkt, niemand hat so etwas kommen sehen, schon gar nicht in einem Viertel Berlins, in welchem ohnehin nur fast ausschließlich Immigranten wohnen und arbeiten. Oder vielleicht genau deswegen. Katja kann das alles natürlich nicht fassen. Kein Boden mehr unter den Füßen. Eine Katastrophe, in die ich mich als Vater garantiert nicht schrankenlos hineindenken möchte – und auch nicht werde, selbst wenn ich vorhabe, dem Geschehen bis zum Ende zu folgen. Hinwegkommen lässt sich über einen solchen Verlust die Zeit eines ganzen Lebens nicht. Ob es sich überhaupt lohnt, weiterzuleben, ist eine andere Frage, die von vielen anderen Faktoren abhängt. Zum Beispiel davon, ob die Tat, begangen aus dem rechtsextremen Milieu, gesühnt werden kann – und die Schuldigen vor Gericht gestellt werden. Das passiert auch, tatsächlich. Und Diane Kruger alias Katja ist sich sicher, dass das junge Nazi-Paar nicht davonkommen wird. Aber wie sicher kann man sein, bei einem Justizsystem, das auf die Eloquenz und taktische Ausgeschlafenheit der Verteidiger und Ankläger setzt, auch wenn die Sache noch so auf der Hand liegt.

Fatih Akin, selbst Staatsbürger türkischer Herkunft, hat sich anhand des unübersehbar schwelenden Rechtsaktivismus in Deutschland so seine Gedanken gemacht. Allerdings nicht im Sinne eines gesellschaftspolitischen Reports. Viel kraftvoller, intensiver und klarer erkennbar ließe sich anhand eines Einzelschicksals Stellung beziehen. Anhand eines Opfers unter den Lebenden, das das eigene Fleisch und Blut zu Grabe tragen muss. Das ist fürchterlich unbequem, schmerzhaft, und eigentlich nichts, was man sich als Zuseher länger antun will. Warum Aus dem Nichts aber dennoch auszuhalten ist, liegt daran, dass Fatih Akin sich nicht damit begnügt, den enormen Verlust bis zur letzten Filmminute anzuweinen. Irgendwann, und das zur rechten Zeit, ist damit Schluss. Dann geht es nicht mehr nur zwingend um die Toten, dann geht es um die, die zurück bleiben – und dem latenten Hass weiter ausgesetzt sind. Die ihre Genugtuung nicht bekommen, die den Staat in diesem Punkt schwächeln sehen und selbst zu radikalen Mitteln greifen.

So ein Szenario kennen wir aus dem Selbstjustiz-Actionkino zu Genüge. Aber das wäre zu platt für einen Film wie diesen. Aus dem Nichts wechselt keineswegs ins Actionfach. Will auch kein Thriller sein. Fokussiert sich rechtzeitig sehr aufmerksam auf Diane Kruger und ihre Figur, die sich als gebrochenes menschliches Wesen klar werden muss, ob es eine Zukunft geben kann und wenn ja, welche. Akin beobachtet genau, lässt sich Zeit. Tritt in der zweiten Hälfte des Films deutlich vom Gaspedal runter, wird weniger schwermütig, dafür aber realistisch – und sogar etwas zynisch. Vom Trauer-, Justiz- und Bewältigungsdrama wird ein im wahrsten Sinne des Wortes bombenfestes Statement über die Sinnlosigkeit von Terror und den destruktiven Mechanismen, die er auslöst, und das innerhalb des kleinsten sozialen Gefüges. Dabei aber distanziert sich der Film immer weiter von seiner Leidensfigur, verklärt nicht, was sie tun muss und verurteilt auch nicht. Bewahrt eine geradezu objektive, fast schon nüchterne Sicht auf das große Ganze. Täter und Opfer sind bald auf einer Ebene, und wir erleben aus der Distanz, wie das Perpetuum Mobile der wechselseitigen Gewalt beginnt – und nicht mehr aufzuhalten sein wird. Dieses Gleichnis lässt sich auf nationale Größe aufblasen, und es ist immer noch dieselbe Dynamik – ob im Irak, in Israel oder eben in Deutschland, völlig egal, wer hier die Zündschnur entfacht. Somit ist aus dem Nichts kein politisches, sondern viel eher ein analytisches Werk zu einer uralten dunklen Seite des Menschseins geworden.

Aus dem Nichts

Aladdin (2019)

EIN BLAUES WUNDER ERLEBEN

7/10

 

aladdin2019© 2019 Disney Germany GmbH

 

LAND: USA 2019

REGIE: GUY RITCHIE

CAST: MENA MASSOUD, NAOMI SCOTT, WILL SMITH, MARWAN KENZARI, NASIM PEDRAD U. A.

 

Was bin ich froh, dass unser Auge elektromagnetische Strahlung von einer Wellenlänge zwischen 380 und 760 Nanometer wahrnehmen kann. Es ist das reflektierte Licht, das es sieht. Und zwar in von uns unterscheidbaren rund 20 Millionen Nuancen. Ein Wunder, um es salopp auszudrücken. Gut, dass das Kino schon in den frühen 30ern begonnen hat, Farbe zu bekennen. Und sich anfangs dieser üppigen Strahlkraft in reinstem Technicolor bedient hat. Mit Aladdin hat Disney tatsächlich gefühlt alle 20 Millionen Schattierungen aus dem Malkasten gekippt, direkt in die fiktive, an historisch ähnlichen Begebenheiten angelehnte, frei erfundene Welt von Scheherezade hinein. Und das Volk, es strahlt. Ein Pomp ist das, ein Fest verliebter Details, die da auf das altersdurchmischte Publikum einprasselt. Da wünscht man sich, im Kino auf die Pausetaste drücken zu können, um wirklich jeden Winkel im Breitbild entdecken zu können. So aber bleibt der Blick nur an einigen wenigen Szenen hängen, aber die sind schon perfekt genug platziert, um den Eindruck einer Märchenwelt zu erlangen, die das wahre Bagdad eines Harun Al Raschid, unter dessen tatsächlicher Regentschaft die Sammlung der Märchen aus tausendundeiner Nacht erst entstanden sind, in den spärlichen Schatten einzelner Dattelpalmen stellt. Der Palast, er funkelt und schillert, ihm zu Füßen ein turbulenter Alltag zwischen Tuchverkäufern, Fladenbrotbäckern und Tagedieben, wie unser Held Aladdin einer ist. Der gerät wie durch Zufall an die traumhaft schöne Tochter des Sultans, Prinzessin Jasmin, die in Allerweltskleidung (immer noch von großem Stil) einen auf gewöhnlich macht und hungernden Kindern Brote klaut. Aladdin rettet sie natürlich von der Stadtwache und fällt dabei dem Großwesir Dschafar ins Auge, der in ihm den richtigen Kandidaten zur Beschaffung einer ominösen Lampe sieht. Der Rest ist natürlich eine bekannte Geschichte, sofern entweder das originäre Märchen oder der Zeichentrickfilm von Disney aus dem Jahr 1995 geläufig ist. Der war damals eine Sensation: Mit Witz, sympathischen Figuren, von aufgeweckt abenteuerlichem Reiz und mit dem Herz am rechten Fleck. Die Stimme des blauen Dschinni: Robin Williams.

In Guy Ritchies Neuverfilmung dirigiert Will Smith das Wunschkonzert, mit blassblauem Teint (eigentlich ist er Navyblau), gewinnendem Schmunzeln und einnehmendem Talent zum Showmaster. Die Wahl des ehemaligen Prinz von Bel Air war eine gute – Smith ist nach einigen schwächeren Ausflügen ins ernstere Fach wieder dort gelandet, wo er sein Charisma aus der Lampe lassen kann: in einer komödiantischen, aber niemals albernen Rolle voller gutherziger Untertöne und der bescheidenen Sehnsucht nach Freiheit. Das nimmt man dem Flaschengeist, ohne lange zu überlegen, locker ab. So wie Aladdins Schwärmerei für die schöne Unbekannte. Das alles liegt natürlich an einem Ensemble, welches vor lauter Spielfreude gar nicht mehr weiß wohin damit. Einziges Ventil: lasset uns singen! Und auch das gelingt, obwohl ich Musicals nicht sonderlich mag. Warum mich die melodiösen Monologe dennoch überzeugt haben? Nun, weil der lässige Guy Ritchie die Nummernrevue so lückenlos in die Handlung verwebt wie die Knoten bei einem Perserteppich. Mit dem Ergebnis, dass besungene Actionsequenzen a la Indiana Jones neuerdings die Schule machen und ohne die in die Suqs der Altstadt geschmetterten Zwei- und Mehrzeiler das ganze Brimborium nur mehr der halbe Spaß sein könnte. Also lauschen wir den arabischen Rhythmen, verlieben uns in hüftschwingende Exotik und bemerken bald, dass das passive Lümmeln im Kinositz einem zaghaften Schultershake gewichen ist. Das geht ins Ohr, was Aladdin und Co hier zum Besten geben, und nimmt auch nicht überhand, sodass man es leid wäre, in ein reines Musical gegangen zu sein. Ganz Musiktheater ist es nämlich auch nicht, und das ist richtig so. Viel wichtiger scheint die Opulenz des Zauberspiels zu sein, an dem Ferdinand Raimund seine ganze Freude gehabt hätte und sowieso schon üppigst ausgestattete Filme wie Hook plötzlich entsättigter wirken. Farbe ist in Aladdin das neue Schwarz, Prunk das neue Feng Shui und die alte Tradition des Geschichtenerzählens gerade wieder innovativ. Guy Ritchie, der natürlich gerne Legenden konterkariert, weiß, dass Aladdin so was nicht verlangt. Natürlich auch, weil Disney das nicht will. Und Familienfilme wie dieser mit bewährtem Storytelling am besten funktionieren.

Der charmante Witz, der kommt allerdings trotzdem nicht zu kurz, ganz im Gegenteil. Zu lachen, schmunzeln und träumen gibt es viel. Und selbst Ritchies Vorliebe für Slow-Motion inmitten rasanter Parcours finden ihren Platz. Natürlich ist es Kinokitsch, natürlich auch vorhersehbar. Aber wie Kinder, die Märchen immer und immer wieder hören wollen, und sich in der unverrückbaren Ordnung von Gut, Böse, Gerechtigkeit und Liebe immer und immer wieder festigen wollen, sind auch wir Erwachsenen davon nicht ausgenommen. Das ist schon eine eigene realitätsvergessene Magie, die tröstend erscheint und glücklich macht. Eine Art Fluchtkino, das gut tut.

Aladdin (2019)