Das Tagebuch der Anne Frank

UMS LEBEN GEBRACHT

7,5/10

 

annefrank„Das Tagebuch der Anne Frank“ auf Blu-ray & DVD erhältlich (Universal Pictures)

 

LAND: DEUTSCHLAND 2016

REGIE: HANS STEINBICHLER

MIT LEA VAN ACKEN, ULRICH NOETHEN, MARTINA GEDECK, STELLA KUNKAT, GERTI DRASSL U. A.

 

Es heißt ja immer: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wenn aber auch noch die Hoffnung stirbt, bleibt gar nichts mehr. Nur Dunkelheit, Vernichtung, Resignation. Die Niederschrift des gerade mal 15 Jahre alt gewordenen Mädchens Anne Frank zählt zu den wohl erschütterndsten Dokumenten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und das nicht, weil Anne Frank das Grauen in all ihren Details beschrieben hat. Solche Berichte sind in ihrem Tagebuch nicht zu finden. Es ist so erschütternd, weil die kindlich formulierte Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit ungehört bleibt. Das unendlich Traurige ist nicht das, was in dem Tagebuch geschrieben steht. Das unendlich Traurige stützt sich auf dem Wissen, das all das Wünschen, Träumen und Hoffen so kurz vor der Erfüllung letzten Endes umsonst gewesen war. Dass nach den letzten Zeilen in diesem Buch nichts mehr war. Nur Leere und Vernichtung.

Es beweist, dass die wichtigsten sozialen Strukturen einer Kernfamilie gegenüber einer zerstörerischen Macht wie dem Nationalsozialismus unweigerlich zerbrechen müssen. Eine heile Familie – die hat so etwas Unbesiegbares. Da wohnt ein Funken inne, der besagt, dass alles gut werden muss. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. So betroffen wie dieses Bewusstsein der Verletzbarkeit vom Wunsch nach Normalität macht auch der Film von Hans Steinbichler. Seine Neuverfilmung des in die Ewigkeit eingegangenen persönlichen Berichts einer Verfolgten hat seine Besetzung mit Bedacht gewählt. Das Ensemble, allen voran Ulrich Noethen als Otto Frank, lässt das Ausharren und Bangen der versteckten Familie lebendig werden. Lea van Acken lässt ihre Anne Frank der enormen Rollenanforderung zum Trotz das aufgewühlte Emotionsspektrum eines Teenagers empfinden – von Zerbrechlichkeit über Selbstzweifel bis hin zu unerschütterlichem Trotz. Die Schwierigkeit, auch unter so extremen Bedingungen wie der selbst auferlegten Isolation vom Kind zur Erwachsenen zu reifen und ihre eigene unverwechselbare Persönlichkeit herauszubilden, wird zur Gratwanderung zwischen Aufbegehren und dem Suchen nach Nähe. Dazwischen träumt sie. Sieht sich auf sonnenwarmen Wiesen, im Wald, an der Luft.

Kaum eine andere Verfilmung nach Tatsachen endet so vernichtend wie Das Tagebuch der Anne Frank. Und dabei war die Erlösung so zum Greifen nah. Dann der abgrundtief höhnische Zynismus einer unbarmherzigen Realität. Das geht dann gar nicht anders, da läuft es einem kalt über den Rücken. Vor allem dann, wenn man beginnt, sich mit den Rollen zu identifizieren. Und das passiert, sofern man selbst Familie hat. Bei den wortlosen Szenen aus dem KZ am Ende des Films fehlen dann auch noch die Worte, wenn sie nicht schon zuvor ihre Stimme verlieren. Nämlich dann, wenn die Eingesperrten voller Zuversicht an das bevorstehende Ende des Krieges glauben – um kurz darauf entdeckt zu werden.

Das Tagebuch der Anne Frank ist ein handwerklich solider, aber inhaltlich so beeindruckender wie erschütternder Film geworden. Eine immens wichtige Neuverfilmung, die durch das Dokudrama Meine Tochter Anne Frank von Richard Ley ergänzt werden kann, welches das Schicksal der Familie aus der Sicht des Vaters Otto Frank erzählt. Des einzigen Überlebenden.

Das Tagebuch der Anne Frank

Power Rangers

DER STOFF, AUS DEM DIE SPIELZEUGHELDEN SIND

4/10

 

powerrangers

REGIE: DEAN ISRAELITE
MIT ELIZABETH BANKS, BRYAN CRANSTON, BECKY G, NAOMI SCOTT, DACRE MONTGOMERY

 

„Bis zur Unendlichkeit, und noch viel weiter!“ Das Leitmotiv kennen wir doch, oder? Niemand geringerer als der legendäre Buzz Lightyear, Beschützer des Universums, hat dieses motivierende Credo drauf. Dabei ist der grünweiß gepanzerte Knilch eine Spielfigur aus Toy Story, die auf Knopfdruck die Arme heben, Heckspoiler aufklappen und einige blecherne Onliner von sich geben kann. Da sind die Power Rangers nicht viel anders. Auch sie beschützen das Universum, und auch sie sind nur Spielzeug. Dass man Spielzeug zu einer Bedrohung werden lassen kann, wissen wir spätestens seit Transformers. Und frühestens seit Masters of the Universe. Es ist Zeit, es zuzugeben – ja, auch ich habe diese Fantasygurke mit Dolph Lundgren als Halbwüchsiger genossen, ungeachtet aller haarsträubenden Logiklöcher. Mittlerweile ist in Sachen Spielzeugverfilmungen einiges weitergegangen – doch weiter als bis zur Wiederbelebung totgeglaubter Actionfiguren dann doch auch wieder nicht. Dabei fängt der zu erwartende infantile Science-Fiction-Spaß sogar ganz vielversprechend an.

5 Teenager, allesamt Außenseiter, die an die Nachsitzrunde des Breakfast Clubs erinnern, geraten zufällig und sogar erst ungewollt aneinander, um dann gemeinsam auf ein seit prähistorischen Zeiten dahinsiechendes, eingegrabenes Raumschiff zu stoßen, dass als mobile Zentrale der ersten Power Rangers reaktiviert wird. Natürlich sind die fünf Freunde die Auserwählten, keine Frage. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Da ist es scheinbar egal, ob der Retter der Welt ein Charakterschwein ist oder ein Intellektueller mit sozialer Ader. Welch ein Zufall, dass genau die richtigen das Schiff betreten haben. Richtig zumindest im Sinne des Castings. Alle 5 sind neue, motivierte Gesichter, und könnten bald in kommenden Serienformaten wiederentdeckt werden. Im Bordcomputer der entdeckten Basis steckt „Walter White“ Bryan Cranston, der wie durch ein Wunder amerikanisches Englisch spricht. Wenn er doch zumindest so herumstottern würde wie Max Headroom. Ihm zur Seite ein seltsam aufgeweckter Roboter mit ALF-Attitüden. Der Film hat seine besten Momente, als jeder einzelne der Kandidaten oder Kandidatinnen seine bzw. ihre Superkräfte entdeckt. Ein bisschen Mystery, ein bisschen Chronicle. Dieser lockere Independentanspruch verblasst dann, wenn Elizabeth Banks als üble Antagonistin die Bühne betritt.

Was passiert hier? Zuerst als Mumie wiedererweckt, mutiert der Tribute von Panem-Star zu einer Trash-Ikone Marke Xenia. In ihrem relativ textilfreien Hartschalen-Kampfbikini und dem goldenen Zepter ist Bösewicht Rita Repulsa ungefähr so ernstzunehmend wie Dolph Lundgren mit blonder Föhnfrisur. Eine zum Fremdschämen lächerliche Figur, was aber nicht an den schauspielerischen Ambitionen von Elizabeth Banks liegt, sondern an der Figur an sich. Und dann der Supergau: Blecherne Dinos und Riesenkäfer ackern sich durch eine Kleinstadt und beeindrucken mit der Beschaffenheit aufgeblasenen Plastikspielzeugs. Dagegen wirken Michael Bay´s Transformers-Kreaturen wie ernstznehmende Bedrohungen. Der Anspruch, martialischen High-Tech anders zu gewanden als Optimus Prime & Co, geht nach hinten los. Power Rangers verspricht anfänglich ein vergnügliches, erfrischendes Aha-Erlebnis, um dann auf ganzer Linie zu enttäuschen. Tatsächlich ist die lebendig gewordene Spielzeugwelt mehr Schein als Sein. Trivialer Kinderkram, hinter dem sich leider kein lohnenswertes Cinematic Universe verbirgt.

Power Rangers

Happy Family

FAMILIE ALS FREAKSHOW

5/10

 

happyfamily

REGIE: HOLGER TAPPE
MIT DEN STIMMEN VON MAXIMILIAN EHRENREICH, ULRIKE STÜRZBECHER, HAPE KERKELING

 

Dadadadam – Schnipp Schnipp! – Wir alle kennen mit Sicherheit die unverwechselbare Titelmelodie der Schwarzweiß-Sitcom Die Addams Family, die in den 90ern zwei Kinofilme mit dem Dream-Team Raul Julia und Anjelica Huston nach sich zog. Und die nicht minder skurrile OmU-Serie The Munsters, die später dann nachkoloriert und synchronisiert wurde. Ein Leckerbissen der frühen Vorabendserie – meist aber, zumindest im österreichischen Rundfunk, spätabends ausgestrahlt. Mit kindlicher Lust am Parodieren hatten beide Fernsehformate den sozialen Mikrokosmos Familie am Kieker. Familie – das ist medial gesehen in den meisten Fällen so etwas Ähnliches wie eine Freakshow. Nirgendwo sonst bringt das Zusammenleben unterschiedlicher Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Eigenheiten so viel Wahres über das Verhalten des Menschen in der Gemeinschaft ans Tageslicht wie in einer Familie. Da geht’s nicht nur um Liebe, Vertrauen, Respekt, Ordnung und Aufgabenteilung. Da geht’s auch, überspitzt gesagt, um das ganz persönliche Über-Leben als Individuum. In heilloser Überzeichnung wird jede oder jeder Einzelne zum unverwechselbaren Freak mit ganz eigenen Vorzügen oder Schwachpunkten. Genauso – ob mit Handpuppen beim Psychotherapeuten oder als Gruselikone in Film und Fernsehen – lässt sich in der Familienaufstellung optisch klar abgegrenzt am Leichtesten Stellung beziehen.

Der deutsche Schriftsteller David Safier hat in seiner Fantasysatire Happy Family die Alltagsleiden und Defizite einer Durchschnittsfamilie namens Normalverbraucher mit Addams Family und The Munsters auf einen Nenner gebracht. Gelesen habe ich das Buch selbst nicht – der Film, so dachte ich mir, muss reichen. die Entscheidung war richtig. Die etwas an den Haaren herbeigezogene Mär von Dracula, der unter Zuhilfenahme einer rumänischen Hexe Hausfrau und Mutter Wünschmann zum Vampir mit Seele mutiert sehen will, um nicht allein zu sein, ist entweder als Film oder als Buch so ziemlich auserzählt. Urmel-Regisseur Holger Tappe hat die turbulente, aber enorm konfuse Komödie abgedroschenen Familienklischees unterworfen, die maximal Erkennungs – und Übertragungswert auf das eigene Vater-Mutter-Kind-Gefüge haben, jedoch nicht wirklich das Zwerchfell erschüttern.

Happy Family fehlt Bodenhaftung, eine gewisse ernsthafte Ruhe zwischendurch, die das Thema abverlangen würde, und eine Grenze fürs wilde Fabulieren nach oben hin. Tappes Verfilmung ufert aus bis zur Belanglosigkeit und schafft es nicht, einen eigenen Stil zu finden. Happy Family will so sein wie Ich – Einfach unverbesserlich. Will so sein wie Illumination. Das erkennt man an der Gestaltung der Figuren. Kantig und spitznasig. Glasig-große Augen und spindeldürre Körper. Merkmale von Gru und Co. Auch die hysterische Art des Erzählens, des Slapsticks und der Kalauer hart an der Schmerzgrenze lassen vermuten, dass die Welt der Minions und die Welt der Wünschmanns ein und dieselbe ist. Ob das beabsichtigt war, wage ich zu bezweifeln.

Happy Family

Spider-Man: Homecoming

DEADPOOL FÜR TEENIES

7,5/10

 

spiderman

Der Spinnenmann kehrt zurück, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Frage ist nur, ob wir uns darauf freuen sollen oder nicht. In erster Linie aber flüchtet der ungewöhnlich schlagkräftige Teenie in die mütterlichen Arme der Marvel Studios. Homecoming – das verlorene Schaf ist zur Herde heimgekehrt, rein in den Kosmos der Avengers, da wo er eigentlich hingehört. Angebahnt hat sich das Ganze schon in The First Avenger – Civil War. Die Marvel Studios sind mit grundlegend neuem Konzept die Sache von der Maschekseite angegangen. Ihr Spider-Man präsentiert sich mit Tom Holland als unerwartet unspektakulärer, burschikoser Nerd, der auf Star Wars und Mädchen steht und sich von Superhelden sehr leicht beeindrucken lässt. Holland ist ein Bursche, der unaufgeregt normal daherkommt und das verschmitzte gewisse Etwas besitzt, das erst durch sein Tun und Handeln so richtig zutage tritt. In Civil War war ich schon mal positiv überrascht. Wie wird wohl Homecoming sein, allen bisherigen Fehlzündungen zum Trotz?

Zugegeben, Spider-Man ist wohl jener Superhelden-Charakter, der bislang mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Und damit meine ich nicht abgrundtief fiese Superschurken, sondern Sam Raimi und Marc Webb, die beide versucht haben, Spiderman auf die Leinwand zu bannen. Beide sind an diesem Unterfangen ziemlich gescheitert. Das lag zum einen am Cast. Weder Toby Maguire als manisch-romantischer Jungspund noch Andrew Garfield als Gentlemen mit allzu gewollt lockerer Note haben die Figur so interpretiert, als dass sie interessant geworden wäre. Weder Sally Field als Aunt May und die verkitschte Teenie-Romanze, sei es mit Kirsten Dunst oder Emma Stone, haben zur Qualität beigetragen. Und am Wenigsten die seifenopernhaften Superschurken, die so plakativ und unbeholfen dem Spinnenmann kontra gegeben haben, dass niemand auch nur jemals daran gezweifelt hätte, dass Spider-Man alles zum Guten wenden wird. Bei dieser Vorhersehbarkeit bleibt die Spannung auf der Strecke. All diese fünf vorangegangenen Filme haben immer mehr und mehr versucht, ihre dramaturgischen Mängel mit Bombast zu kompensieren. Höhepunkt des Untergangs war The Amazing Spider-Man – Rise of Electro. Elendslang, überladen und auf seine Effekte reduziert, blieb uns auch nicht erspart, Spider-Man aus allen erdenklichen Perspektiven von Haus zu Haus springen zu sehen. Das Publikum war somit übersättigt. Bitte keinen Spiderman mehr.

Es sei denn, Sony schickt den Burschen wieder heim. Und Marvel integrierte Spider-Man in sein Cinematic Universe, als wäre er nie weg gewesen. Es gelingt somit ein kleines Wunder. Spider-Man: Homecoming ist die bisher beste Verfilmung des Strumpfhosenteenies. Warum?

Weil Marvel mit der Zeit geht. Und – anders als Kollegen wie Michael Bay – weil Marvel bemerkt hat, dass das Effektkino seinen Zenit erreicht hat. Das Superheldenkino schafft es kaum mehr, mit visueller Raffinesse das Genre-Publikum zu überzeugen. Das spezialeffektverwöhnte Auge aller Geeks und Nerds hat im Grunde alles schon gesehen, was CGI zu bieten hat. Was bleibt also übrig als vom Gipfel des Klotzens wieder herabzusteigen, Drehbücher vom Reißbrett zur Seite zu legen und sich wieder vermehrt auf die Geschichten zu konzentrieren. Vielleicht sogar vermehrt auf schräge Charaktere, die seit dem Erfolg der Big Bang Theory salonfähig geworden sind. Bei Spider-Man Homecoming haben die Macher nicht das Tempo, aber Action und Effekte bewusst runtergeschraubt. Und vermehrt ihren Star Tom Holland freie Bühne gelassen. Der sympathische Junge verhält sich wie Deadpool für Teenies. Klug, wortgewandt, mit Hang zum Sarkasmus und mit ganz viel Anfängerglück. Überfordert mit seinen Fähigkeiten und dem Gadget-Anzug von Tony Stark, strudelt er mehr recht als schlecht durch die Nachbarschaft, um Waffenschiebern das Handwerk zu legen. Leider zum Missfallen des arroganten Schnösels und Möchtegern-Mentors Iron Man (strotzend vor Überheblichkeit: Robert Downey), der Peter Parker unter Kuratell stellen will. Spider-Man hilft sich also selbst – und beweist, dass weniger manchmal mehr oder zumindest gleich viel sein kann. Und Michael Keaton gibt den Waffenbauer angenehm pragmatisch und nicht hochgekünstelt wie die sinistren Wirrköpfe, die wir mittlerweile schon leid sind. Gemeinsam erreicht das freche Ensemble aus Nerds, Ganoven und bekannten Avengers-Ikonen die Qualität eines pfiffigen Comicabenteuers zwischen McGyver, Malcolm mittendrin und Kick-Ass. Zwar eindeutig fürs jüngere High School-Publikum gemacht, fügt sich der Film aber nahtlos in den humoristischen Infinity-Kosmos ein und bleibt dankenswerterweise am Boden.

Die Spinne hat sich nach Spider-Man: Homecoming eindeutig rehabilitiert. Und den Gadget-Anzug letztens Endes ehrlich verdient.

Spider-Man: Homecoming

Verstehen Sie die Béliers?

WER NICHT HÖREN KANN MUSS FÜHLEN

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beliers

Was für ein Lebenszeichen des französischen Filmes – obwohl es die meisten der in dieser herrlichen Familienkomödie agierenden Charaktere nicht hören können. Seit Sophie Marceau in den 80er Jahren in La Boum das Leben ihrer Familie und ihrer Mitschüler gehörig auf den Kopf stellen durfte, hat es kaum mehr Kinogeschichten gegeben, die in ihrer Natürlichkeit und ihrem Charme das Erwachsenwerden dermaßen einfühlsam erzählen konnten. Die Ausgangssituation in diesem Film ist alleine schon ungewöhnlich – als einzig hörende Tochter einer vierköpfigen, sonst gehörlosen Familie, versucht das 16jährige Mädchen Paula, aus der zwangsläufigen Abhängigkeit vor allem ihrer Eltern auszubrechen und ihre eigene Identität zu finden. Und wann bitteschön ist die Definition der eigenen Person notwendiger als auf dem Weg ins Erwachsenenleben?

Die Schauspielerin Louane Emera legt ihre Rolle der Paula dermaßen ungekünstelt und bodenständig an, dass man sie einfach lieb gewinnen muss. Die junge Schauspielerin ist wahrlich eine Entdeckung und steht Konkurrentinnen wie Sophie Marceau aus La Boum um nichts nach. Im Gegensatz zu dem Teenagerklassiker von damals dringt Verstehen Sie die Béliers  noch tiefer in das Seelenleben des Teenagers vor, ohne dieses jedoch krampfhaft zu sezieren. Das gelingt vor allem aufgrund der Tatsache, dass die besonderen Bedürfnisse ihrer Familie den Kontrast zwischen Individualität und familiärer Verpflichtung noch verstärken.

Den wahren Knalleffekt in der locker flockigen, angenehm humorvollen Geschichte gibt es aber dann, als das junge Mädchen sich entschließt, Gesangsunterricht zu nehmen. Einfach großartig, wie Regisseur Eric Lartigau das Loslösen aus dem gemachten Nest namens Familie darzustellen weiß. Ist es in Ordnung, dass sich das eigene Kind im Zuge seines Älterwerdens dazu entschließt, etwas zu tun, wovon die eigenen Eltern nicht profitieren können? Ist man seinen Erzeugern Rechenschaft schuldig für das, was man tun oder sein möchte. Laut der Familie Béliers, und auch meiner Meinung nach, ist man das nicht. Dieser Anspruch kann die Familie bei ihrem Nachwuchs leider nicht geltend machen. Bedingungen, die vielleicht früher einmal, allerdings vor gar nicht allzu langer Zeit, eine gesellschaftliche, selbstverständliche Bürde waren. Lartigaus Film ist ein Loblied an die Selbstbestimmung und die jugendliche Freiheit. An die Leidenschaft des Lebens, des Loslassens und an die bedingungslose Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Dabei schildert Verstehen Sie die Béliers seine berührende Story mit einer sommerlichen Leichtigkeit, wie es nur französische Filme können.

Nach wie vor kann Frankreich die besten Komödien erzählen. Vor allem welche mit Weisheit, jeder Menge kluger Gedanken und niveauvollen Anekdoten, ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren. Und die Musik, hier in akustischer Gestalt typisch französischer Chansons, macht das kleine Meisterwerk noch erlesener.

 

Verstehen Sie die Béliers?