Nocebo (2022)

BLUTSAUGER MAL ANDERS

6,5/10


nocebo© 2022 The Jokers Films


LAND / JAHR: IRLAND, PHILIPPINEN 2022

REGIE: LORCAN FINNEGAN

BUCH: GARRET SHANLEY

CAST: EVA GREEN, CHAI FONACIER, MARK STRONG, BILLIE GADSDON, CATHY BELTON, ANTHONY FALCON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Es gibt den Placebo-Effekt, den kennen wir alle: Ganz und gar davon überzeugt zu sein, einen positiven Effekt zu erwarten, auch wenn das Mittel zum Zweck keinerlei Skills besitzt. Umgekehrt gibt es Nocebo: Das Erwarten einer negativen Reaktion auf die Gesundheit, auch wenn nichts wirklich dazu beiträgt. Dabei gibt es zwischen Himmel und Erde und auch zwischen den Dimensionen (Achtung, jetzt wird’s esoterisch) so einiges, was wir nicht wissen, woran wir nicht glauben und was wissenschaftlich längst nicht bewiesen ist. Von Geisterwelten und vom Überqueren der Schwelle ins Totenreich haben die Schamanen des Ostens längst einiges zu berichten – je weiter es in diese Himmelsrichtung geht, desto transzendenter wird unsere Existenz. Im Film Eine größere Welt erfährt Cécile De France aus erster Hand ein bisschen mehr vom großen Ganzen. Bei Apichatpong Weerasethakul sind Geister und Wesenheiten unserer Realität inhärent. In der irisch-philippinischen Koproduktion Nocebo tritt ein, was gerne als Scharlatanerie oder Humbug bezeichnet und natürlich nicht ernst genommen wird, weil es dafür keine Evidenz gibt. Ein großer Fehler, wenn nach westlichen Parametern erzogene Wohlstandsbürger alles, was sie nicht kennen, skeptisch verlachen. Mark Strong wird in diesem Film sein blaues Wunder erleben. Aber erst, nachdem Eva Green durch die Hölle hat gehen müssen, um an den Auslöser ihres Unglücks zu gelangen. Um herauszufinden, was mit ihr verdammt nochmal nicht stimmt.

Und zugegeben – rational lässt sich ihr Befinden kaum erklären. Als erfolgreiche Designerin für Kindermoden steht sie kurz davor, mit einer neuen Kollektion durchzustarten. Während einer Modenschau erhält sie jedoch einen mysteriösen Anruf, auf welchem wir uns als Zuseher noch keinen Reim machen können. Auch nicht, als plötzlich ein schwarzer, blinder, von vollgesogenen Zecken befallener Hund vor ihr auftaucht, der sich schüttelt, bis es Parasiten regnet. Wer ab dieser Szene noch keinen Ekelanfall bekommt, könnte den Rest des Films ganz gut durchstehen. Denn es kommt noch dicker – und größer. Aber der Reihe nach: Christine, so Eva Greens Filmfigur, plagen von da an seltsame Spasmen, ein Zittern und undefinierbare Angstzustände, mitunter Visionen der schrecklichen Art. Das Publikum weiß immer noch nicht mehr, kann aber ganz gut nachvollziehen, warum sich die Mutter einer Tochter gar nicht mehr daran erinnern kann, eine Nanny und Haushälterin engagiert zu haben, die plötzlich auf der Matte steht: Es ist die jung Philippinin Diana, die Christines Familie jeden Wunsch von den Augen abliest, herrliches Essen kocht und auch mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn die Frau des Hauses unter Krämpfen zusammenbricht. Was da helfen kann, sind fernöstliche Heilmittel, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Während Dianas Omnipräsenz dem Ehemann ziemlich seltsam und gar bedrohlich vorkommt, geben Rückblenden die Vorgeschichte einer etwas anderen Mary Poppins preis, die aus gutem Grund für Christine so ziemlich alles tut, was in ihrer Macht steht. Welche Macht das ist – nun, das sei an dieser Stelle nicht verraten.

Das arrogante Unterschätzen jedweder Metaphysik rächt sich in diesem perfiden kleinen Albtraum von Lorcan Finnegan (Vivarium mit Jesse Eisenberg und Imogen Poots), der vermehrt auf Spinnenhorror sowie auf die Wirkung psychedelischer Retro-Effekte setzt, die mit Licht und Schatten, schnellen Schnitten und Überblendungen einen phantasmagorischen Schrecken herbeizaubern, der aber recht punktgenau und ohne, dass er den Film überlädt, Akzente setzt. Dabei beweist Eva Green – James Bonds große Liebe, Artemisia aus 300 oder demnächst als Lady de Winter – ordentlich Mut zur Hässlichkeit, wenn sie ihr von Krankheit geeinigtes Antlitz in die Kamera hält.

Nocebo ist ein gewiefter Psychothriller, der mit fernöstlichen Mythen spielt und Mächte ins Spiel bringt, die sich damit tarnen, dass sie unterschätzt werden. Der mangelnde Respekt für andere Kulturen ist aber nur einer der tadelnden Finger, die der Film hochhält – ein anderer warnt vor Blutsaugern der anderen Art, vor kettenrasselnder Globalisierung und Wirtschaftsbrutalität, die sich irgendwann rächen wird. Und zwar so, dass es keiner kommen sieht. Wie eine Zecke, die unter’s T-Shirt krabbelt.

Nocebo (2022)

Do Revenge (2022)

WIE DU MIR, SO ICH DIR

5/10


DO REVENGE© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JENNIFER KAYTIN ROBINSON

BUCH: JENNIFER KAYTIN ROBINSON, CELESTE BALLARD

CAST: CAMILA MENDES, MAYA HAWKE, RISH SHAH, SOPHIE TURNER, AUSTIN ABRAMS, ELIZA BENNETT, ALISHA BOE, TALIA RYDER, SARAH MICHELLE GELLAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Sind die Eltern mal berühmte Schauspieler, werden es deren Kinder oft ebenso. Da bräuchte man nur Uma Thurman und Ethan Hawke als Beispiel nehmen, aus dessen Ehe Stranger Things-Star Maya Hawke hervorgegangen war. Da staunt man wieder, wie lange Andrew Niccols SciFi-Streifen Gattaca zurückliegt, denn am Set dieses Films haben sich die beiden kennengelernt. Maya Hawke ist mittlerweile 24 Jahre alt und schon dick im Geschäft. Dank ihres erfrischenden Spiels im Netflix-Knüller rund um düstere Parallelwelten steht ihr eine schillernde Karriere bevor, und der Weg dorthin wird mit mittelprächtigen Werken gepflastert, in welchen sie wie gewohnt ihr strahlendes Lächeln verbreitet, dieses aber nicht die Handlung ganzer Filme pushen kann. Da braucht es schon noch ein knackiges Drehbuch und eine schlüssige Story, die vor allem im Thriller-Genre eine plausible Basis schaffen muss, auf der dann, aufbauend, eine Wendung die andere bedingt.

Die Programm-Virtuosen bei Netflix denken womöglich nicht zweimal nach, wenn ihnen ein Film ins Haus steht, der einen Star aus Stranger Things im Cast hat. Da scheint ganz egal, worum dieser wirklich handelt. Wichtig ist, Publikumslieblingen präsent zu halten. Und ja, natürlich, Maya Hawke zählt zu den Lieblingen der Serie, vor allem auch, weil sie eine queere Funktion übernimmt, und zwar auf eine Weise, die sich nachvollziehen lässt. Auch in Do Revenge ist Hawkes Rolle ähnlich ausgestaltet – sie gibt Eleanor, eine High School-Schülerin, die nicht gerade die Beliebtheitsskala anführt, sondern eher als duckmäuserische Außenseiterin am besten nicht auffallen will. Krasser Gegenpol zu diesem Charakter ist Drea Torres (Camila Mendes) – ein Social Media-Star und It Girl, überall beliebt und bewundert und so authentisch wie billige Weihnachtsbeleuchtung. So ist das, wenn man nur nach außen hin funktioniert – man vergisst zusehends, wer man wirklich ist und welche Werte man vertritt. Jedenfalls sind es unmöglich die, für die man auf sämtlichen Kanälen Werbung macht. Wie auch immer – eines Tages enthüllt ihr Liebhaber ein Sex Tape. Im prüden Amerika ist sowas natürlich Grund genug, die Blamierte schief anzusehen oder ihr die Freundschaft zu kündigen. Geht ja gar nicht. In dieser Not tun sich Eleanor und besagte Drea zusammen, um Rache zu üben. Allerdings auf eine Art, wie wir es in seinen Grundzügen aus dem Hitchcock-Werk Der Fremde im Zug gewohnt sind. Um ungewünschte Emotionen beim Racheschmieden außen vor zu lassen, soll die jeweils andere dem Subjekt des Hasses eines auswischen. Eleanor Dreas Ex-Freund, und Drea jener Kommilitonin, die Eleanor seinerzeit auf einem Feriencamp grausam erniedrigt hat.

In Anbetracht von wohlgesetzter Rache stellt sich mir die Frage: Sollten die zur Rechenschaft Gezogenen nicht wissen, wer ihnen die Suppe versalzt? Normalerweise funktioniert das so: Wenn man Rache übt, denn es geht ja in erster Linie darum, als Absender unübersehbar zu sein, damit der oder die Vorgeführte den Zusammenhang auch überzuckert und die Chance bekommt, sein oder ihr damaliges Verhalten zu reflektieren. In Do Revenge ist schon mal die Ausgangssituation eine, die über sich selbst stolpert, solange kein letales Kapitalverbrechen mit im Spiel ist, denn da muss der Absender niemandem mehr übermittelt werden. Im Laufe des Films aber werden wir sehen, wohin das führt. Und dennoch: das ganze Konstrukt einer Intrigenkomödie kommt nicht aus seiner selbstgefälligen Convenience-Blase heraus. Mit Hitchcock hat das ganze Hin und Her nichts zu tun, viel mehr mit dem zynischen Young Adult-Thrillern Eiskalte Engel von Roger Kumble oder Heathers von Michael Lehmann, mit Winona Ryder in der Hauptrolle.

In Eiskalte Engel gibt sich Sarah Michelle Gellar die Ehre – lustigerweise (oder vielleicht genau deshalb) darf die Ex-Buffy hier als Schuldirektorin die Next Generation des Intrigantenstadels, dem sie selbst mal angehört hat, an die Kandare nehmen. Das alles hilft aber dennoch nicht viel: Do Revenge fehlt der Biss, den die vorhin genannten garstigen High School-Filme einst hatten. Jennifer Kaytin Robinson, Co-Autorin von Thor: Love and Thunder, läutet scheinbar ein neues Zeitalter von viel zu bequemen Rachefeldzügen ein, die sich kaum mehr ins Zeug legen. Der Story-Twist gegen Ende wirkt aufgesetzt, das Vorführen an den Bildungsstätten oder House-Partys war schon mal zorniger, wenn nicht gar perfider in der Wahl der Mittel. Schwarze Komödie? Manchmal ja, meistens jedoch: nein. Bei Do Revenge ist Rache zwar ein süßes Wort, doch kurz danach hätte man gerne wieder etwas Salziges.

Do Revenge (2022)

Athena

DIE PLEBEJER PROBEN DEN AUFSTAND

6,5/10


athena© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: ROMAIN GAVRAS

BUCH: ROMAIN GAVRAS, LADJ LY

CAST: DALI BENSSALAH, SAMI SLIMANE, ANTHONY BAJON, ALEXIS MANENTI, OUASSINI EMBAREK U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Natürlich beginnt jede Revolution damit, dass einer, der sich vom System unverstanden und ausgenutzt fühlt, nicht auf stilles Kämmerlein macht, sondern diesen Missmut in die Welt hinausposaunt. Dazu braucht es Mumm und den notwendigen Groll. Dazu braucht es einen impulsgesteuerten Antrieb und auf gar keinen Fall Vernunftdenken. Denn würde man das tun, gäbe es Alternativen, die nicht sofort die Anarchie beschwören würden, sondern taktisch vorgehen ließen. Aber so gelingt keine Revolution. Ein Aufstand lässt sich nur mit unkontrollierten Emotionen vom Zaun brechen – der wiederum niederbricht, wenn die Exekutive versucht, dieser Wucht an Wut Herr zu werden, indem sie kühlen Kopf bewahrt. Hitzköpfe haben dabei weniger zu verlieren, geben aber lediglich dem Gefühl ihrer persönlichen Kränkung nach, ohne wirklich ein höheres Ziel zu verfolgen. Dass damit ein ganzes Viertel mit in den Untergang gerissen wird, nehmen Wutbürger in Kauf, die niemals gelernt haben, besonnen zu reagieren. So geht Revolution. Ob das als Auszeichnung für den denkenden Menschen zu werten ist?

Zumindest scheint es nicht so, als würde der halbwüchsige Rabauke Karim nach dem gewaltsamen Tod seines kleinen Bruders Idir durch angeblich zwei Polizisten seinen Denkapparat wirklich nutzen. Für ihn zählt Rache, Gewalt und Anarchie. Und die Befriedung der eigenen Befindlichkeit. Oder viel besser noch: Durch dessen Fähigkeit, das altersgenössische Volk als Anführer um sich zu scharen, wie ein mittelalterlicher Heerführer aus Zeiten, in denen Stärke das einzige Argument einer Gesellschaftspolitik war, fühlt sich Abdel trotz seiner Trauer als ein martialischer Heros, der politische Reformgedanken wie Katapulte vor sich herschiebt. Reform ist etwas, dass sich am einfachsten mit Schwert und Schild durchsetzen lässt. Führung mag zwar Karims Stärke sein, Erfahrung ist es nicht. Und somit haben wir den Salat: Der Mob besetzt die Barrikaden eines Wohnblocks und fordert die Herausgabe der Polizisten, die Idir auf dem Gewissen haben. Das aber wäre als Plot zu simpel: Es gibt da noch Bruder Abdel. Der aber arbeitet für die Polizei, findet sich also auf der anderen Seite wieder und setzt alles daran, Karim vom Weg des Hasses, der Gewalt und der Rache abzubringen. Doch wie verbohrt und stur so ein Junge sein kann, der die Jugend des Viertels um sich schart, zeigt Romain Gavras, Sohn von Constantin Costa-Gavras (Z, Vermisst), in einem postmodernen Schlachtenepos, das trotz seines gegenwärtigen Settings ein Flair wie aus dem Hundertjährigen Krieg vermittelt, fernab jeglichen Fortschritts und gefangen in einer granitharten Rechthaberei, die keiner der Parteien auch nur um Millimeter abrücken lässt.

Athena, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig gar eine Einladung zum Wettbewerb um den Goldenen Löwen erhalten hat, erinnert nicht von ungefähr an den Oscar-Anwärter Die Wütenden – Les Misérables von Ladj Ly. Dieser verfasste für Athena mit Romain Gavras gemeinsam das Skript, und diesmal haben seine kaum klar definierbaren Pro- und Antagonisten noch weniger zu verlieren als im Thrillerdrama aus dem Jahr 2019. Diesmal entfesselt Gavras ein in Rage geratene Menge in einem hitzigen Spektakel aus Nacht und Nebel; aus Tränengas, Feuerwerkskörpern und Projektilgeschoßen. Der Krieg in Athena fühlt sich echt an, rabiat und natürlich auch dumm. Wie jeder Krieg. Dabei gestaltet es sich äußerst schwierig, für die zentrale Figur des Karim, und dann später auch für Abdel, der im letzten Dritten des Films eine völlig radikale, aber wenig glaubwürdige Wandlung durchläuft, auch nur ansatzweise irgend so etwas wie Nähe, Sympathie oder Verständnis zu empfinden. Wer so vorgeht, zu dem hält man Distanz. Zumindest mir erging es so. Denn die Gewalt, die führt zu nichts, das sieht man als Zuseher von der ersten Minute an, als der Mob das Polizeirevier stürmt und den Waffenschrank plündert. Da sieht man schon, wie wenig vorausschauend das ist. Da wundert man sich nur, zu welchen Widersprüchen und zu welchem autoaggressiven Egoismus dieses Vorgehen führt. Denn: Auch wenn der Tod des jungen Bruders den Bürgerkrieg entfacht, ist das Unglück der Mutter keinen Cent wert.

Diese groteske Unlogik erschwert den Zugang zu einer ansonsten wuchtigen Tragödie, die, mit brachialen gewalttätigen Exzessen gespickt, den Menschen als ein Wesen erkennt, dass sich wohl bis auf ewig von seinen Impulsen wird steuern lassen.

Athena

Beast – Jäger ohne Gnade

AUF LEISEN PFOTEN KOMMT DER TOD

5/10


beastjaegerohnegnade© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, ISLAND 2022

REGIE: BALTASAR KORMÁKUR

CAST: IDRIS ELBA, SHARLTO COPLEY, IYANA HALLEY, LEAH JEFFRIES, MARTIN MUNRO, DANIEL HADEBE U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Können Tiere so etwas wie Rache empfinden? Den Elefanten sagt man ähnliches Verhalten schon die längste Zeit nach. Elefanten – die vergessen selten etwas (im Gegensatz zu mir), schon gar nicht Zweibeiner, die Ihnen im Laufe ihres Lebens Böses angetan haben. Menschenaffen sind da schon mehr auf unserer Seite, allerdings erfolgt diese Art der Vergeltung unmittelbar, ohne von langer Hand geplant worden zu sein. Über Großkatzen indes gibt es so manche mit Vorsicht zu genießende Legenden, die den Tieren mehr Vorsatz einräumen als anderen Lebewesen, die uns Zweibeinern am nächsten stehen. Deutlich plausibler sind da schon jene Prädatoren, die, gegen ihren natürlichen Speiseplan gerichtet, auf Menschen losgehen. Als die wohl bekanntesten Vertreter dieser Unart galten die Löwen aus dem Reservat von Tsavo, die um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert Kolonialisten wie Einheimische in Angst und Schrecken versetzten. Stephen Hopkins hat mit Der Geist und die Dunkelheit daraus einen Film gemacht und Michael Douglas sowie Val Kilmer zur Flinte greifen lassen. Und ja: Sogenannte Man-Eater gab’s und gibt’s nicht nur bei den Löwen – zum Ausgleich wütete in Asien auch so mancher Tiger.

Und jetzt – jetzt ist Südafrika dran. Baltasar Kormákur, Spezialist für Themen, in denen Homo sapiens schutzlos irgendwelchen Naturgewalten ausgeliefert ist und dabei vergeblich versucht, in kompromisslos konsequenten Ereignissen doch noch als Bewältiger hervorzugehen – dieser Baltasar Kormákur wandert nun von isländischen Meeren über den Himalaya immer weiter in südliche Gefilde, um endlich mal auf Safari gehen zu können. Das macht er nicht allein, sondern mit Superstar Idris Elba an seiner Seite. Und ja – Sharlto Copley, sowieso Südafrikaner, darf hier auch noch seinen Heimvorteil genießen. Zu den beiden gesellen sich zwei halbwüchsige Mädchen, Elbas Filmtöchter, die auf den Spuren ihrer verstorbenen Mutter unterwegs sind, und einfach nicht verstehen können, warum sich Papa von ihr noch zu Lebzeiten getrennt hat. Klar braucht es diesen familiendramatischen Unterbau, denn irgendwo muss der Haussegen ja schief hängen, um im Angesicht einer blanken Katastrophe wieder geradegebogen zu werden. Und diese Katastrophe kommt dann auch, während einer Wildlifetour durch ein inoffizielles Reservat, auf vier samtleisen Pfoten angepirscht. Ein Löwe hat es auf Menschen aller Art abgesehen. Ein Löwe macht eine ganze Spezies verantwortlich dafür, dass Wilderer sein Rudel getötet, in alle vier Winde verstreut und eingefangen haben. Ein Löwe schwört jetzt Rache. Und dabei ist egal, wie sehr zum Handkuss Idris Elba unschuldigerweise kommen mag. Mensch ist Mensch, und Tier ist Tier.

Beast – Jäger ohne Gnade orientiert sich stark an einem ganz bestimmten Meisterwerk der Survival-Suspense, nämlich an Jurassic Park. Statt eines T-Rex lässt nun ein Panthera leo sein Gebrüll los, und Erwachsene wie Kinder sind in ihrem fahrbaren Untersatz, der knapp am Abgrund hängt, schutzlos ausgeliefert. Da wir ungefähr wissen, welche Schrecken uns da erwarten, mag der Faktor der Unvorhersehbarkeit ein bisschen schwinden – um dem entgegenzuwirken, lässt Kormákur seine Protagonisten Dinge tun, die bar jeder Vernunft sind. Mutig – ja – aber auch äußerst doof. Doch wie gesagt: Mensch ist Mensch, und Tier ist Tier. Dass dem Löwen dabei menschliche Emotionen angedichtet werden, mag bei Disney gang und gäbe sein – bei Kormakur hätte ich mir da schon etwas mehr Respekt vor den Tatsachen erwartet. Doch andererseits: Im Kino dürfen Legenden gerne als Tatsachen betrachtet werden, also warum sich nicht ein spielfilmlanges Duell mit wilden Mähnen liefern?

Tatsächlich macht Idris Elba seine Sache wieder mal gut, obwohl man ihm ansieht, dass Beast – Jäger ohne Gnade jetzt nicht unbedingt zu seinen Herzensprojekten zählt. Das schöne Südafrika wird es ihm wohl angetan haben – wer würde denn nicht gern dort drehen wollen und dabei alles bezahlt bekommen? Viel Geld hat man auch für die Animation des Untiers ausgegeben. Es ist nicht zu erkennen, wann der Löwe echt ist und wann er aus dem Rechner kommt. Oder ist dieser überhaupt nur animiert? Von diesen Machern hätte sich zum Beispiel Prey einige Ezzes holen können – denn der wilde Bär im Predator-Sequel lässt bewegungstechnisch zu wünschen übrig.

Was mich dann doch überrascht, ist das von manchen Kritikern als hanebüchen bezeichnete Finale im Steppensand: Um dafür wirklich aufstöhnend mit den Augen zu rollen, würde ich mich vorher lieber genau in die Verhaltensforschung von Großkatzen einlesen. So allerdings kann ich das, was da abgeht, gar nicht so ganz als Schwachsinn abtun. Beast – Jäger ohne Gnade ist somit besser als befürchtet, wenngleich gemalt nach Zahlen und die Wucht einer erbarmungslosen Natur mag diesmal an den hochgekurbelten Fenstern eines geländegängigen, aber verkehrsuntüchtigen Fahrzeugs abprallen wie die blutigen Tatzen eines amoklaufenden Simba.

Beast – Jäger ohne Gnade

The Northman

DAS LIED VON BLUT UND FEUER

7/10


northman© 2022 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA 2022

BUCH / REGIE: ROBERT EGGERS

CAST: ALEXANDER SKARSGÅRD, ANYA TAYLOR-JOY, CLAES BANG, NICOLE KIDMAN, ETHAN HAWKE, GUSTAV LINDH, WILLEM DAFOE, RALPH INESON, BJÖRK, KATE DICKIE, INGVAR SIGURDSSON U. A.

LÄNGE: 2 STD 17 MIN


Ob Meerjungfrauen, Hexen oder die illustre Welt nordischer Gottheiten: Robert Eggers ist der neue Mythen-Mentor unter den Filmemachern, und ich bin wahnsinnig gespannt darauf, was als nächstes kommen wird. Obwohl ich diesen seinen brandneuen Testosteron-Burner erst noch verdauen muss. Nicht falsch verstehen, das meine ich nicht in negativem Sinne, dafür bietet The Northman einfach zu viele Komponente, um das Werk über einen Kamm zu scheren. Wenn ich mich hier im Kinosaal umsehe, würde ich wohl kaum auf jemanden stoßen, der die Erfolgsserie Vikings noch nicht gesehen hat. Ich werde mitunter auf LARPer und Fans mittelalterlicher Feierlichkeiten treffen, oder einfach auf jene, die Anya Taylor-Joy zu faszinierend finden, um einen Film mit ihr auszulassen. Das findet Robert Eggers auch, seit er sie in The Witch mit uralter Waldesmagie in Berührung gebracht hat. Hier, im neunten Jahrhundert nach Christi, spielt die außergewöhnliche junge Dame eine slawische Sklavin aus dem Gebiet der Rus, entführt von einer Horde Berserker, die fix davon überzeugt sind, als wilde Bären die Palisaden zu erstürmen. Es schillern die regennassen, nackten Oberkörper wie den Witterungen ausgesetzte Schüttbilder von Hermann Nitsch – erd- und blutbesudelt, breitschultrig und immer wieder mal den rasenden Sohlengänger imitierend. Unter ihnen: Skarsgård-Spross Alexander, dereinst als Tarzan mit den Affen schwingend, gibt er sich jetzt das Wikingerschwert. Dabei vergisst er völlig, was er eigentlich längst hätte tun sollen: Rache nehmen. Nämlich so, wie es einige Jahrhunderte später Prinz Hamlet aus der Feder William Shakespeares tun wird. Denn auf diese altdänische Sage geht der Bühnenklassiker schließlich zurück. Und dort, unter wolkenverhangenem Himmel und am Fuße spuckender Vulkane Islands, treffen sich der Filmemacher und der halskrausige Vielschreiber, um sich auf ein paar inhaltliche Fixpunkte zu einigen, die beide Geschichten verbindet. Und natürlich: Skarsgårds Figur nennt sich Amleth. Kenner wissen, was folgt.

Die, dies nicht mehr so genau wissen – darunter ich selbst: Fjölnir, der Bruder von Aurvandil, König von Jütland, tötet diesen und setzt sich selbst und Witwe Gudrun die Krone auf. Sohnemann Amleth muss untertauchen – über Jahrzehnte hinweg. Findet sich als Krieger unter Kriegern wieder und bekommt dank Björk in Gestalt einer augenlosen Seherin (augenlos sind sie anscheinend immer, auch in Vikings) den Reminder, endlich die Sache mit der Rache anzugehen. Fast hätte Amleth es vergessen – er muss nach Island, dort hat sich Fjölnir samt Hofstaat zurückgezogen, da Jütland wieder jemand anders eingenommen hat. Egal, die Rache gilt dem Onkel, also tut Amleth so, als wäre er ein Sklave und schifft sich auf die Insel aus, mitsamt der gachblonden Taylor-Joy, die bald zu Amleths Vertrauter wird. Die Götter sind mit ihm, die Walküren reiten gen Himmel und wieder zurück, und selbst der Narr des ermordeten Königs meldet sich aus dem Jenseits. Magie ist dort, wo der Glaube an Odin und Konsorten erblüht wie nie zuvor.

Was den Leuten aber auf Island blühen wird – da können sich zartbesaitete schon prophylaktisch die Hand vorhalten: Robert Eggers hat nämlich die Bühne frei für eine Wagnerianische Oper Deluxe, einem mit Blut- und Beuschel garnierten Männerdrama um niedere Instinkte und maskuline Eitelkeiten, die sich dann Bahn brechen, wenn muskelgestählte Kriegsmaschinen um die Wette brüllen, dabei geifern und mit dem Schwert wütend aufs Schild klopfen. Ein feuchter Männertraum wird wahr, in The Northman. Da freut sich das wilde Kind in uns Y-Chromosomträgern, wenn einer, der Conan den Met halten lässt, seinen inneren Bären entfesselt. Um dieses profane Brusttrommeln errichtet Eggers aber das, wofür man ihn bewundern kann: ein mythisches Universum aus verregneten Wikingergehöften und lodernden Flammen vor entsättigtem, beinahe schwarzweiß gehaltenem Dämmerlicht. Es schneit, es donnert, es ist ringsherum finster, wenn das magische Schwert seinen Bluthunger stillt. Klar erinnert The Northman an die unkonventionellsten Momente in Vikings, doch Eggers setzt noch eins drauf und scheint dabei manchmal zu viel zu wollen. Die epische Wucht, die einen förmlich niederdrückt, ist aber genau das, was der Visionär aber nicht unbedingt am besten kann. Womit er brilliert, sind die Szenen, die weder real noch Imagination sind, sondern irgendwo dazwischen. Ikonische Gestalten, die scheinbar wirres Zeug faseln, im höhlenartigen Halbdunkel einer Psyche, die es zerreißt zwischen Pflichterfüllung und Friedenfindung.

The Northman ist Naturalismus pur, ein wilder Ritt und eine Sensation fürs unempfindliche Auge. Wenngleich der Überschuss an Raserei manchmal in selbiges geht.

The Northman

Viking Vengeance

OH HAUPT VOLL BLUT UND WUNDEN

6,5/10


vikingvengeance© 2018 Indeed Film


LAND / JAHR: USA 2018

BUCH / REGIE: JORDAN DOWNEY

CAST: CHRISTOPHER RYGH, CORA KAUFMAN

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Lass den Kopf nicht hängen! – ein Imperativ, den man gestandenen Monsterjägern mit auf den Weg geben sollte. Doch jeder macht es, wie er möchte. Manche nehmen sich nur den stattliche Eckzahn aus der Kauleiste ihrer erlegten Kreatur, manche legen gleich den ganzen Kadaver vor die Füße ihres gerade regierenden Königs. Dieser Berserker hier hängt sich die Schädel all seiner Auftragsopfer fein säuberlich an die Wand seiner Hütte mitten im Wald, jeweils aufgespießt auf einen Pflock. Dann legt er seine formschöne Rüstung ab und heilt seine Wunden mit einer magischen Mixtur aus Erde, Wurzeln und sonstigem Gemansche. Und wartet. Auf das nächste tönende Halali, wenn es wieder heißt, in den Wald zu gehen und wütenden Besten zu zeigen, wo der Kriegshammer hängt. Nur eine Kreatur ist da nicht darunter: jene, die seine Tochter auf dem Gewissen hat. Also schwört der namenlose Eremit auf ewig Rache. Die er auch bekommt. Dumm nur, dass der Kopf dieses Wesens mit des Wikingers heilender Tinktur in Berührung kommt – und wieder zum Leben erwacht.

Was für eine krude Story. Aber zugegeben: nach dem letzten Met am Ende eines Ritterfests in irgendeiner pittoresken Burg, begleitet von den Klängen der Laute, entstehen angedudelte Ideen, die man nüchtern vielleicht gar nicht in den Kopf bekommt. Aber bitte, ich will hier niemanden der Schnapsidee verdächtigen, wenngleich sich Viking Vengeance so anfühlt. Und das wiederum ist gut so. Es gibt viel zu wenig verrückte Ideen im Kosmos des phantastischen Films, und da freut man sich tatsächlich, einem Kopf-an-Kopf-Rennen wie diesem in einer Mischung aus Neugier und selbst auferlegter Kriegsstimmung, wie sie LARPer allzu gerne aus dem Filzhut zaubern, beizuwohnen. Und wenn sich der namenlose Rächer seinen bis ins kleinste Detail liebevoll in Form gebrachten Lederhelm überstülpt, dann ist ganz offensichtlich, dass die Macher dieses Dark Fantasy-Slashers zumindest beim Kostüm keine Kosten gescheut haben. Was bleibt vom Budget dann noch übrig? Womöglich nicht viel. Den Wald, die Burg aus der Ferne, die gibt’s womöglich kostenlos. Wie aber den übrigen Plot visualisieren, ohne sich selbst in die Trash-Ecke zu drängen? Denn genau das ist Viking Vengeance auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nämlich nicht: Trash. Das war auch Robert Rodriguez‘ El Mariachi nicht, der mit wenigen tausend Dollar inszeniert wurde und der den Mexikaner zur Berühmtheit machte. Das war auch Blair Witch Project nicht – ebenfalls wohlfeil umgesetzt, ohne Darlehen abbezahlen zu müssen. Der Künstler muss nur wissen, wie. Und improvisieren. Eine Challenge, die Jordan Downey auf professionelle Weise besteht.

Viking Vengeance (im Original: The Head Hunter) setzt auf Stimmung und Details – und natürlich auf das Outfit des Kopfjägers. Er setzt auf die bizarre Geschichte aus Horror und mittelalterlicher Phantastik. Er lässt sich von Andrzej Sapkowskis The Witcher genauso inspirieren wie von Prinzessin Fanthagiro – einem trickreichen Mehrteiler aus Italien. Nur hier ist Christopher Rygh allein auf weiter Flur unterwegs, ohne sonstigem höfischem Zinnober. Gut, man giert unweigerlich danach, dem Meister bei der Arbeit zuzusehen, doch außer Gebrüll und dem angestrengten Geächze von irgendwo außerhalb des Bildes bleibt die Action verborgen, und das mit Sicherheit aus Gründen mangelnder Ressourcen. Andererseits aber schafft der Film dadurch eine lakonische Mystery, die im Kopf passiert, und buttert seine Ideen geschickt in den großen Showdown, auf welchen das grimmige Solostück hinarbeitet. Downey macht das Beste draus – und befördert die erdige Groteske spätestens beim verblüffenden Schlusstwist weg von den ausgetretenen Pfaden herkömmlicher Heldenquests rein in den finsteren Forst garstiger Ironie.

Viking Vengeance

Ballade von der weißen Kuh

DER MENSCH DENKT, DOCH GOTT LENKT

7/10


balladevonderweissenkuh© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: BEHTASH SANAEEHA & MARYAM MOGHADDAM

CAST: MARYAM MOGHADDAM, ALIREZA SANIFAR, AVIN PURRAOUFI, POURYA RAHIMISAM U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Gottes Wege sind unergründlich – und manchmal tödlich. Ganz besonders im Iran, einem Land, in welchem sich die Todesstrafe einer gewissen politischen Beliebtheit erfreut. Wir wissen längst, dass die Justiz natürlich nicht die Weisheit mit dem Löffel gefressen hat – und nur darüber richten kann, was an Beweisen oder Nicht-Beweisen vorhanden ist. Da kann viel passieren. Manchmal ist der Schuldige dann wirklich schuldig, manchmal aber auch nicht. Und das ist dann schon relativ unfair, zumindest aus Sicht des Betroffenen. Wenn dann so einer auch noch sein Leben lassen muss für nichts und wieder nichts, könnte man überlegen, das Richtschwert doch lieber an den Haken über den Kamin zu hängen, als nostalgisches Mahnmal einer vergangenen, mittelalterlich agierenden Epoche. Die iranische Politik tut das nicht. Vergeltung ist Teil des Korans und Blutgeld gern gesehen. Die einigen wenigen, die sich darüber Gedanken machen, ob das wirklich Sinn macht, sind Filmemacher. Vor zwei Jahren hat der Episodenfilm Doch das Böse gibt es nicht bei den Filmfestspielen Berlin den goldenen Bären gewonnen. Das Kammerspiel Yalda erzählt das Schicksal einer zur Hinrichtung Verurteilten, der fahrlässige Tötung vorgeworfen wird, die aber dem Schicksal im Rahmen einer Fernsehshow entkommen könnte, würden ihr die Hinterbliebenen des Opfers vor laufender Kamera vergeben. Ballade von der Weißen Kuh ist der jüngste Beitrag zu diesem Thema, und man sieht – kalt lässt die Sache dort niemanden mehr.

Im Mittelpunkt steht Mina, Mutter einer gehörlosen Tochter, die ihren Ehemann an die Gerichtsbarkeit ihres Landes verliert. Verurteilt wegen Mordes, ist dieser plötzlich, nach dem Wissen der Tochter, plötzlich ganz weit weg und wird nicht mehr zurückkehren. Wie sich bald herausstellen wird: Papa war unschuldig, den Mord hat mittlerweile jemand anderer gestanden. Nur kommt die Amnesie ein bisschen zu spät, aus dem Jenseits lässt sich niemand mehr zurückholen. Mina fordert dennoch eine Entschuldigung der Justiz. Nebenbei fordert ihr Schwiegervater das Sorgerecht der Tochter, während wie aus dem Nichts ein Jugendfreund des Verstorbenen auftaucht und angebliche Schulden bezahlt, die er bei diesem gehabt haben soll. Mit dieser Begegnung ändert sich für Mina plötzlich alles. Denn dieser Reza zeigt sich in vielerlei Hinsicht plötzlich so hilfsbereit wie Mutter Teresa, was die traurige Restfamilie kaum glauben kann. Manchmal meint es Gott ja wirklich gut mit einem, trotz seines kruden Willens, den keiner versteht.

Wenn schon Filme aus dem Iran, dann über Schuld, Sühne und Vergebung. Vielleicht mitunter ein bisschen Rache, aber die unterwirft sich schnell einer gewissen Besonnenheit. Im Iran darf man das große Ganze nicht aus den Augen verlieren. Und natürlich die Folgen, die einem blühen könnten, würde man seinen Gefühlen nachgeben oder Dinge tun, die der gesellschaftlichen Norm ungern angehören. Ballade von der weißen Kuh, geschrieben und inszeniert von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam, hat seine Gefühle fest im Griff. Das Teheran ihres tragödienhaften Dramas erträgt in einer gewissen Lethargie einen fahlen, grauen, schmucklosen Winter. Die ganze Stadt fühlt sich an, als wäre sie der Innenhof eines Staatsgefängnisses, wo man zu bestimmten Zeiten seine Runden drehen kann. Manchmal steht dort auch eine Kuh herum, weiß wie die Unschuld. Diese Schwermut zieht sich durch den ganzen Film und findet überraschenderweise Abwechslung in Maryam Moghaddams einnehmenden Spiel zwischen Trauer, Pragmatismus und leiser Hoffnung. Moghaddam trägt den Film im Alleingang – eine stolze, toughe, zähe Persönlichkeit, die weiß, wo ihre Rechte liegen. Die weiß, dass sie das Zeug hat, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, auch für ihre Tochter. Ein kraftvolles Psychogramm, das im Rahmen einer schicksalhaften, an die Filme Ashgar Farhadis erinnernden Häufung von Zufällen und Bestimmungen mit langem Atem analysiert wird.

Ballade von der weißen Kuh

Home

DIE SCHANDE VON FRÜHER

5,5/10


Home© 2021 Weltkino


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2020

BUCH / REGIE: FRANKA POTENTE

CAST: JAKE MCLAUGHLIN, KATHY BATES, AISLING FRANCIOSI, DEREK RICHARDSON, JAMES JORDAN, LIL REL HOWERY, STEPHEN ROOT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Mit ihrer Rolle als rothaarige Lola im Duracell-Betrieb hat sie wohl den Sprung nach Übersee geschafft – Franka Potente war seitdem überall und nirgends, eine schwer zu verortende Schauspielerin, die sowohl an der Seite Matt Damons in Doug Limans Bourne Identität auf großer Leinwand als auch in fragwürdigen Produktionen wie Creep zu sehen war. Tom Tykwer hat sie ebenso besetzt wie Stefan Ruzowitzky oder Ridley Scott in der viktorianischen Düster-Thrillerserie Taboo mit Tom Hardy. Dann war wieder lange nichts, und jetzt plötzlich das! Franka Potente führt nun auch Regie, und zwar wieder in Übersee. Ob sie‘s dort nochmal probiert? Kann ja gut sein.

Jedenfalls nicht temporär, sondern dauerhaft kehrt im Familiendrama Home ein Ex-Knacki an den Ort seiner Jugend zurück, was ja weiter nicht so schlimm wäre, denn das alte zuhause gibt es noch, und die liebe Mama guckt auch noch aus dem Fenster. Nur die ist schon beträchtlich älter als zu dem Zeitpunkt, als Marvin hinter schwedischen Gardinen verschwand. Das Delikt: Mord. In einer Kleinstadt, wie sie in  Home als Location auszumachen ist, bleibt für so ein Vergehen Ächtung auf Lebenszeit, da ist es schließlich egal, ob dieser Jemand für seine Sünden gebüßt hat oder eben nicht. Einmal Mörder, immer Mörder. Dabei fällt mir ein – erst kürzlich gab’s auf Netflix etwas ähnliches, mit Sandra Bullock in der Hauptrolle und unter der Regie von Nora Fingscheidt (Systemsprenger). Bullock war in The Unforgivable ebenfalls eine, die nach rund zwanzig Jahren wieder das Licht der Alltagswelt hat erblicken dürfen. Bei so einem Mord bleiben dem Opfer immer noch genug Angehörige, die Rache schwören. So auch in Franka Potentes kleinstädtischem Reue- und Neuanfangsdrama. Der liebe Gott spielt da auch eine Rolle, und nichtsdestotrotz kann das Gebot der Vergebung plötzlich keiner mehr lesen.

Schön, die großartige Kathy Bates weitab von ihrer Paraderolle in Misery als pflegebedürftige Unterschicht-Raucherin zu sehen. Mit ihren langen grauen Haaren schlurft sie gottergeben und recht desillusioniert über die morsche Veranda des kleinen Eigenheims und weiß das Auftauchen ihres verlorenen Sohnes gar nicht mal richtig zu schätzen. Wohl auch, weil sie ahnt, dass seine Rückkehr unter keinem guten Stern steht. Franka Potente hat für ihr Regiedebüt gleich auch das Script mitgeliefert und sich dabei aber kaum bis gar nicht aus dem Erwartbaren rausgehalten. Über Trauma, Vergebung und Aufarbeitung weiß Potente so einiges zu berichten, und manche Szenen, die nicht nur beschämt die Missstände des White Trash aus den Augenwinkeln betrachten und sich dann weiterbegeben, suchen die Auseinandersetzung, wohlwissend, dass da durchaus Unschönes zum Abbild wird. Da ruht ihr Blick fast so gebannt auf das soziale Dilemma wie bei Nora Fingscheidt – nur tröstet sich Potente mit hollywood’scher Zuversicht über all die Probleme hinweg und überrascht auch keineswegs mit dem, was in diesem Melodrama letzten Endes seinen Weg geht. Ich will nicht sagen, dass es ausgetretene Pfade sind, die hier beschritten werden, und vielleicht bin ich auch in Sachen Menschliches Verhaltens zu zynisch geworden, aber dennoch: Home entwickelt seine Geschichte viel zu sortiert und artig nach moralischem Lehrbuch.

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Helden der Wahrscheinlichkeit

WIE ES DER ZUFALL WILL

7/10


heldenderwahrscheinlichkeit© 2021 Filmladen Filmverleih

LAND / JAHR: DÄNEMARK 2020

BUCH / REGIE: ANDERS THOMAS JENSEN

CAST: MADS MIKKELSEN, NIKOLAJ LIE KAAS, LARS BRYGMANN, NICOLAS BRO, ANDREA HEICK GADEBERG, ROLAND MØLLER, GUSTAV LINDH U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Was Männer wollen? Beileibe nicht nur Sex. Für Anders Thomas Jensen wäre diese Antwort auch viel zu banal. Männer bewegt schon viel mehr als nur die Libido. Es bewegt sie Wut, Gerechtigkeit, das eigene Ego. Mitunter auch Rache und das impulsgesteuerte Verlangen, Gewalt auszuüben. Wann ist ein Mann ein Mann, hat sich Herbert Grönemeyer schon längste Zeit gefragt. Helden der Wahrscheinlichkeit gibt darauf erfrischende Antworten, die im Zeitalter des Gender-Ausgleichs womöglich wunde Punkte treffen. Das Ziel ist es jedoch, dabei einer Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die erklärt, dass Männer seit jeher alles andere als das starke Geschlecht sind. Stark ist ein Mann dann, wenn er seine Defizite nicht mehr hinter Macht, Gewalt und Dominanz verbergen muss.

Anders Thomas Jensen ist, wie er längst bewiesen hat, der Spezialist dafür, Männern und ihren Bedürfnissen auf den Zahn zu fühlen und sie im Rahmen einer nicht klar deklarierten Gruppentherapie miteinander interagieren zu lassen. Männerfreundschaften könnte man dazu sagen, aber jene der zweckmäßigen Sorte, denn in Helden der Wahrscheinlichkeit verbindet ein heftiges Unglück die Schicksale von vier Kerlen, die erstens unterschiedlicher nicht sein könnten, und zweitens in einer gewissen sozialen Isolation ihre Ticks hegen und pflegen. Einer davon, der Statistiker Otto (Nikolaj Lie Kaas, Stammschauspieler Jensens und derzeit in der Serie Britannia als genial schräger Druide zu sehen) weiß, was sich gehört und bietet im Zug einer Frau den Sitzplatz an. Sekunden später geschieht das Undenkbare. Die Hälfte des Waggons detoniert, die Frau stirbt, deren Tochter überlebt. Witwer und Soldat Mads Mikkelsen kommt aus dem Nahen Osten retour, und es dauert auch nicht lange, da kreuzt Otto auf, um den grimmigen Brutalo die Theorie eines geplanten Anschlags zu unterbreiten. Nichts, so meint er, kann hier zufällig gewesen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei diesem Unfall um einen Anschlag gehandelt hat, sei auffallend hoch. Mit Otto tauchen dann noch zwei andere schräge Vögel auf – der eine ein Computernerd, der andere Ottos neurotischer Arbeitskollege. Gemeinsam wollen sie Rache nehmen.

Wir Menschen setzen das, was geschieht, stets in einen kausalen Zusammenhang. Sei es nun ein Schmetterling, ein Mehlsack oder ein blaues Fahrrad. Zufälle sind uns manchmal zu wenig. Die vier Helden, die dabei ins Feld ziehen, eignen sich bestens dafür, angesichts dieser Verhaltenstheorie die Probe aufs Exempel zu machen. Mit viel Sympathie für seine Figuren entsteht bei Jensen eine bitterkomische Tragikomödie, die diesem Genre seit langem wieder mal frisches Leben einhaucht. Stets begegnet Jensen seinen alles andere als perfekten Gestalten mit Respekt, zieht das Drama niemals ins Lächerliche und verortet Humor genau dort, wo er den Kloß im Hals lösen kann. Manchmal kurvt das skurrile Drama wenig zimperlich um die Ecke, und die Radikalität aus Adams Äpfel bricht durch. Manchmal scheint es auch, als wären die Zufälle in Jensens Film gar welche, die ihn selbst überrascht haben. Als wäre die Geschichte eine, die sich im Laufe des Drehs ihre eigenen unglaublichen Zufälle erst suchen musste.

Helden der Wahrscheinlichkeit

Sympathy for Mr. Vengeance

DAS ENDE DER RACHE

7/10


SympathyForMrVengeance© 2021 capelight pictures


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2002

BUCH / REGIE: PARK CHAN-WOOK

CAST: SONG KANG-HO, SHIN HA-KYUN, BAE DU-NA, LIM JI-EUN U. A. 

LÄNGE: 2 STD


Ein Blick in den Nahen Osten reicht, um zu sehen, wie es ist, wenn auf Rache Rache folgt. Israel und Palästina kommen aus diesem Drehkreuz der gegenseitigen Vergeltung nicht mehr heraus. Das kaum unterdrückbare Verlangen, in einer aus mehreren Standpunkten gerechten Sache das letzte Wort haben zu wollen, bringt den Gewaltkreislauf womöglich erst dann zum Stillstand, wenn eine der beiden Parteien keinen Mucks mehr macht. Wie verlässlich dieses Grundprinzip funktioniert, und welche bizarren Wege Rache nehmen kann, hat der Südkoreaner Park Chan-Wook in seiner Rachetrilogie veranschaulicht, seinem großen Opus Magnum, das ihm sozusagen Tür und Tor in der Filmbranche geöffnet hat. Aus dieser Trilogie ist Oldboy natürlich das schillernde Mittelstück – mittlerweile längst ein Klassiker. Flankiert wird dieser irre Knüller von Mr. und Lady Vengeance. Zwei völlig andere Ansätze zu selbem Thema, und es ist auch ganz egal, in welcher Reihenfolge man sich diese Werke zu Gemüte führt, eines ist bei Park Chan-Wook aber gewiss: In Sachen Gemüt muss man hierbei schon einiges vertragen können, vor allem die drastische Darstellung von Gewalt.

Den Anfang dieses Triptychons macht ein blauhaariger, gehörloser junger Mann, dessen schwerkranke Schwester ganz dringend eine neue Niere braucht. Die eigene kommt aufgrund falscher Blutgruppe nicht infrage, und die Warteliste für Organe wie diese ist lang. Also geht Ryu andere Wege und lässt sich mit einer illegalen Organhändlerin ein, die das geforderte Geld und Ryus eigene Niere kassiert, mit dem in spe erstandenen Körperteil aber nicht rausrückt. Plan C ist es also, die Tochter eines Geschäftsmannes (Song-Kang-Ho, zuletzt in Parasite zu sehen) zu kidnappen und Lösegeld zu erpressen. Es wäre nicht Park Chan- Wook, würde dieser Plan nicht ebenfalls schrecklich schieflaufen. Wichtige Figuren in diesem Spiel des Schicksals verlassen vorzeitig ihr irdisches Dasein – und das ist Grund genug für die Rache am Rächer, der sich am Rächenden rächt.

Von allen drei Werken ist Sympathy for Mr. Vengeance (vom Original übersetzt: Mein ist die Rache) der wohl nihilistischste. Allerdings auch der introvertierteste, bedächtigste, der anfangs lange Luft holt und sich einfach die Zeit nimmt, die er ungeachtet eines nervösen Publikums braucht, um seine Charaktere und ihr gesellschaftliches Umfeld näher zu betrachten. Park Chan-Wook verschwendet dabei aber keine Spielzeit – sein fast über die ganze erste Hälfte des Film dauerndes Vorspiel macht die zweite Hälfte dann umso intensiver. Und dort bleibt kein Stein auf dem anderen, denn es ist, wie eingangs erwähnt, diese niemals anhaltende Drehtür aus Vergeltung und Gegenvergeltung, die wie ein Körper, der ins Wasser fällt, seine Kreise zieht. Die Eigendynamik der Rache spielt sich dann auch längst nicht mehr linear ab, sondern verzweigt sich und findet auf mehreren Ebenen und an mehreren Orten gleichzeitig statt. Sympathy for Mr. Vengeance nimmt dem Thema Rache seine Banalität, die nur zu gut und gern im Actiongenre stereotype Verwendung findet. Park Chan-Wook macht aus dieser scheinbar simplen Emotion ein kunstvolles Spektakel, das allerdings nichts mehr hat, woran man sich noch festhalten könnte. Hier stürzt alles ins Chaos, lässt andererseits aber seine strauchelnden und hasserfüllten Figuren übertrieben rasch zu sehr hässlichen Mitteln greifen, die man in ihnen keinesfalls vermutet hätte. Das macht den Streifen weniger plausibel. Und da auch des Weiteren all der Jammer wie Abwaschwasser in eine Richtung abläuft, bleibt aufgrund seiner makellos glatten Konsequenz überraschend wenig narrative Haptik.  

Allerdings: Sympathy for Mr. Vengeance mag zwar der schwächste Film der Trilogie sein – Park Chan Wooks Sinn für penibel arrangierte Tableaus, unorthodoxe Blickwinkel und schräge Details findet auch in diesem tiefschwarzen und bizarr bebilderten Klagelied seine praktische Entfaltung.

Sympathy for Mr. Vengeance