Die Aussprache

DIE ENTBEHRLICHKEIT DER MÄNNER

6/10


womentalking© 2022 Orion Releasing LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: SARAH POLLEY

BUCH: SARAH POLLEY, NACH DEM ROMAN VON MIRIAM TOEWS

CAST: ROONEY MARA, CLAIRE FOY, JESSIE BUCKLEY, BEN WISHAW, FRANCES MCDORMAND, JUDITH IVEY, SHEILA MCCARTHY, KATE HALLETT, LIV MCNEIL, EMILY MICTHELL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Alle Männer sind böse. Zumindest hat das Jessie Buckley zuletzt in Alex Garlands surrealem Kunsthorror Men so erlebt. Jeder Mann, dem Buckley da begegnet war, hat das selbe Gesicht getragen. Wie gruselig. Und beklemmend obendrein. Jetzt ist Jessie Buckley wieder dieser Testosteron-Hydra ausgesetzt. In Sarah Polleys Regiestück Die Aussprache (im Original: Women Talking) ist aber dann doch nicht jeder einzelne innerhalb dieses genitalgesteuerten Patriarchats so richtig schlecht. Ben Wishaw zumindest nicht. Doch der ist aus seiner Sicht ein Verlierer, ein ehemaliger Verstoßener, der nur deswegen zu seiner mennonitischen Gemeinde irgendwo in Bolivien zurückkehren durfte, weil er für jene als Lehrkraft von Nutzen sein kann. Er ist es auch, der Protokoll führt, sitzend auf einem Ballen Stroh, das Notizbuch vor sich liegend und als einziger des Alphabets mächtig. Die Frauen sind das nicht, aber zumindest dem Willen Gottes unterworfen oder besser gesagt jenem Willen, denn die evangelische Freikirche den Männern zugestanden hat. Man sieht wieder: Religion und Gleichheit vertragen sich nicht. Und haben es niemals getan. 

Und eines Nachts ist es dann passiert: Einer der Männer aus der Gemeinde wird während eines sexuellen Übergriffs ertappt – um sich aus der Sache rauszuwinden, verpfeift er alle anderen, die dasselbe getan haben – jahraus, jahrein. Der Glaube sagt: duldet nur, dafür kommt ihr ins Himmelreich. Die Frauen meinen: Mumpitz, so geht das natürlich nicht weiter. Also werden all die Männer angeklagt, die übrigen versuchen, eine Kaution für all die Verbrecher zusammenzubekommen, also bleiben nur die Frauen in der Gemeinde zurück, um zu beraten, was sie nun tun sollen. Da gibt es drei Möglichkeiten: Alles so belassen wie es war und den Männern vergeben (was die Freikirche auch verlangt), zu bleiben und zu kämpfen oder alles Notwendige zusammenzupacken und wegzuziehen. Irgendwohin, wo keine Männer sind, denn die sind ohnehin entbehrlich. Über das Für und Wider zur kommenden Entscheidung wird diskutiert, geredet und geweint, geschrien und gelacht. Dann wieder vorgeworfen und um Verzeihung gebeten. Am Ende wird der Schlussstrich in welcher Form auch immer gezogen werden. Hoffentlich aber im Sinne der Menschlichkeit, der Gleichheit und der Freiheit für das weibliche Geschlecht.

Woher die Kraft beziehen, um die Konventionen zu brechen? Woher den Mut zur Selbstbestimmung? Sarah Polley (u. a. Take this Waltz) will Antworten und hat sich dem auf Tatsachen beruhenden Roman von Miriam Toews angenommen, der sich aber weniger nach Prosa sondern vielmehr nach Bühne anfühlt. Kann sein, dass im Roman die Vorgeschichten der dargestellten Frauen ebenfalls geschildert werden, doch man kann sich insofern glücklich schätzen, in Polleys Film fast keinen Gewaltdarstellungen ausgesetzt zu sein. Auf Vergewaltigung, Missbrauch von Minderjährigen und Schlägen ist man ohnehin nicht neugierig. Es ist mehr als genug, zu sehen, welche Narben und Wunden all die Frauen zu ihrer Aussprache mitbringen. Das reicht von der ungewollten Schwangerschaft bis zum womöglich aus Inzest entstandenen, missgestalteten Kind. Dazwischen Blessuren und blutende Unterleiber. Die wenigen Momente, in denen wir Zeuge von solchem Gräuel werden, reichen, um sowieso einen Hass auf alles Männliche (mit Ausnahme von Ben Wishaw) zu entwickeln, umso mehr auch deswegen, weil Männer ansonsten in diesem Film gesichtslos bleiben und auch keine Chance bekommen, sich zu äußern. Ist das aber nicht eine viel zu einseitige Darstellung? Könnte man meinen – doch kein einziges Wort würde solche Gewalt rechtfertigen. Missstände wie diese lassen sich in einer erzkonservativen Männerwelt leicht für möglich halten. Demnach hätte dem Film auch daran gelegen sein müssen, mit den erstarrenden Dogmen einer Freikirche aufzuräumen, von denen es viele gibt in den Vereinigten Staaten, und die reaktionärer nicht sein könnten. Doch Gott weist hier immer noch den Weg, die Frauen wollen ihm näher sein, hinterfragen aber viel zu wenig ihre eigene Position innerhalb ihres Glaubens. Was sie bewegt, ist die Frage des Befreiens, weg vom Mann. Die Abstimmung um die Ausgliederung aus einer Paargesellschaft gestaltet sich in entsättigten, dunklen Bildern und mutet an wie das Dialogdrama der Zwölf Geschworenen von Reginald Rose – nur im #MeToo-Kontext. Bis alle einer Meinung sind, vergehen Stunden des Diskurses, doch vieles dreht sich auch im Kreis. Wirklich in die Tiefe gehen die Gespräche nicht.

Doch was zählt, ist das aufgebrochene, verkrustete Machtsystem. Polley hilft ihren gezeichneten Gestalten behutsam aus dem Sumpf des Leidens und sucht den Neuanfang; mal panisch, mal resignierend, mal zuversichtlich. Die Aussprache scheint vieles, was zur #MeToo-Thematik filmisch bereits dargestellt wurde, zusammenzuzählen und auf gleichen Nenner zu bringen. Die Konsequenz daraus mag vielleicht nicht unbedingt die richtige Lösung sein. Aber zumindest eine, die auf idealistische Weise etwas verändern kann.

Die Aussprache

Macbeth (2021)

DIE PARANOIA EINES THRONRÄUBERS

7/10


macbeth© 2021 Apple+ 


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JOEL COEN

CAST: DENZEL WASHINGTON, FRANCES MCDORMAND, BRENDAN GLEESON, HARRY MELLING, COREY HAWKINS, RALPH INESON, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Sind die Werke von William Shakespeare tatsächlich immer noch zeitlos? Oder hat die Bühnensprache aus dem frühen 17. Jahrhundert nicht auch irgendwann ein Ablaufdatum? Wie ist es wohl passiert, dass Shakespeare als das Non plus Ultra rezitierter Textgröße einem witterungsbeständigen Monument gleich allen Jahrhunderten trotzt und ein jeder, der auch nur irgendwas mit Schauspiel oder Theater zu tun hat, sich zumindest einmal an dem Engländer mit der Halskrause ausprobieren will? Jetzt gehört auch noch Joel Coen (und zwar ohne Bruder Ethan) zu denen, die vor den sperrigen Königsdramen einen Hofknicks machen. Und dreimal darf geraten werden, welches Drama wohl zum Zug kommt. Ganz klar, Macbeth – der schottische Königsmörder und der Wahnsinn. Wenn man den mal ordentlich adaptiert, kann man so gut wie alles inszenieren. Sogar Theater.

Dabei ist Macbeth irgendein schottischer König aus dem ganz finsteren 11. Jahrhundert, einer, der sich, angestachelt von seiner Gattin – der berühmt berüchtigten Lady Macbeth – hochgemordet und das Land aber für einige Zeit zumindest gar nicht mal so Caligula-like regiert hat. Es herrschte Frieden und Wohlstand – wer hätte das gedacht? Der Thronerbe des verblichenen Königs Duncan hat da aber außerhalb der Regimentsgrenzen bereits die Messer gewetzt, um sich seinen Anspruch zurückzuholen, war dieser doch wohlweislich vor den Häschern Macbeth’s geflohen. Er wird heimkehren, es wird Krieg gegeben haben – Macbeth wird bald Gespenster gesehen und sich in einen paranoiden Wahn hineingesteigert haben – während getötet wurde, wer ihn auch nur schief angesehen hat.

Es ist klar, wie es ausgehen wird, nicht umsonst ist das Stück eine Tragödie. Die Macbeths werden am Ende ihrer blutigen Karriere wohl nicht mehr atmen. Dabei lässt sich die Handlung ja, wenn man sich genug konzentriert, aus den hochgestochen arrangierten Textbrocken, die so schönmalerisch und in bildhafter Umschreibung Gemütszustände mit allem möglichen vergleichen, dann doch extrahieren. Das bedarf aber – bei Shakespeare eben einmal mehr, einmal weniger – ganz schön viel Aufmerksamkeit, was letzten Endes weniger Genuss als Erarbeitung darstellt. Dem lässt sich allerdings aus dem Weg gehen. Vor allem dann, wenn Macbeth schon aus Theater und Kino zur Genüge bekannt ist. Viel anders als in den letzten 400 Jahren wird’s nicht mehr. Die Verpackung drumherum allerdings schon. Coens Film ist einer, der schließlich visuell funktioniert – der altbekannte Klassiker ist dabei nur der librettoartige Unterbau, um sich an den darstellenden Künsten zu probieren. 

Und so hat Joel Coen das ganze geblümt-schwere Szenario als expressionistisches Schattentheater auf eine grenzenlos scheinende, gleichermaßen aber hermetisch abgeriegelte Bühne gesetzt. Noch mehr von der Realität entfremdet wird das Ganze durch manchmal kontrastreiches, manchmal weichgezeichnetes Schwarzweiß. Nichts, gar nichts dringt von außen, von einer pandemiegequälten Jetztzeit, in die archaische Psychopolitik eines schottischen Wüterichs, der in einer nebelverhangenen Traumwelt sein Schicksal sucht. Wenn die drei Schicksalskrähen auf dem Schlachtfeld erscheinen, erinnert dies frappant an die Werke Ingmar Bergmans (u. a. Das siebente Siegel). Hätte dieser Shakespeare inszeniert, wäre sein Film Coens Interpretation vermutlich recht ähnlich.

Dass hier Reminiszenzen zu finden sind, liegt somit auf der Hand: Die Liebe zum alten, klassischen Studiofilm lässt geometrische Kulissen, wie wir sie aus den Theatern dieser Welt kennen, Licht durch finstere Torbögen gleißen, manches erscheint wie mit Tinte gezeichnet, manches ist selbstbewusstes Retrokino aus der Hochzeit skandinavisch-deutscher Schauer- und Stummfilmdramen, die auch Dave Eggers in Der Leuchtturm freudvoll angehimmelt hat. Auf ähnliche Weise bringt die lettische Mystery November das Metaphysische in eine von Mythen überforderte Welt. Damals allerdings hätte es unter Bergmans Regie wohl kaum einen schwarzen Macbeth gegeben.

Mit dieser Art und Weise des Inszenierens flackert die Erinnerung daran, dass es sowas wie eine Filmhistorie gibt, auch wieder auf. Das symbolistische Bedeutungskino, von der Bühne auf den Screen und wieder zurück, strengt zwar mitunter an, trifft aber mit seinen akkuraten, expressionistischen Bildarrangements durchaus den Schöngeist. 

Macbeth (2021)

The French Dispatch

DAS KLEINGEDRUCKTE IM FILM

5/10


frenchdispatch© The Walt Disney Company Germany


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, USA, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: WES ANDERSON

CAST: BILL MURRAY, OWEN WILSON, BENICIO DEL TORO, LEA SEYDOUX, ADRIEN BRODY, FRANCES MCDORMAND, TILDA SWINTON, TIMOTHÉE CHALAMET, MATHIEU AMALRIC, EDWARD NORTON, WILLEM DAFOE, SAOIRSE RONAN, CHRISTOPH WALTZ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Die Gefahr, Wes Andersons Filme mit anderen zu verwechseln, geht gegen null. Werke wie diese nachzudrehen, erfordern außerdem viel zu viel Kleinarbeit. Der Einzige, der an diese Art des Filmemachens noch rankommt, ist der zumindest phonetisch namensgleiche Schwede Roy Andersson (zuletzt mit Über die Unendlichkeit im Kino). Beide verbindet die Liebe zum Tableau, zum akkuraten Arrangement, und zum genau kalkulierten, punktgenauen Auftreten der Figuren, die dann genauso punktgenau wieder die Bühne verlassen. Doch um ehrlich zu sein, findet im Gegensatz zu Wes Anderson Namensvetter Roy den richtigen Ausgleich zur visuellen Exzentrik – er reduziert das gesprochene Wort und lässt stattdessen seine Arrangements sprechen. Der andere Anderson hingegen tut das nicht, oder sagen wir: immer weniger. Sein neuestes Werk The French Dispatch begeht überdies den Fehler, keine durchgängige Geschichte zu erzählen, sondern in sich abgeschlossene Miniaturen zu errichten, die das Kleinteilige nochmal zerkleinern und sich als vollgestopfte Setzkästen in dafür vorgesehene Setzkästen sortieren. Eine Fülle, in der sich Menschen mit Sammlerwut vielleicht zurechtfinden können – alle anderen, die gerne sammeln, das aber nicht exzessiv betreiben, sind versucht, manches in diesem Film gar nicht mehr wahrnehmen zu wollen.

Die Handlung eines solchen Streifens lässt sich auch kaum in ein paar Sätze packen. Einerseits tut sich auffallend viel, andererseits sind das Ereignisse, die aufgrund ihrer durchaus eitlen, artifiziellen Darstellung auf der Stelle treten. Die Basis dieser Episodensammlung bildet das Verlagshaus der Zeitschrift The French Dispatch in der fiktiven französischen Stadt Ennui-sur-Blasé. Chefredakteur und Gründer Arthur Howitzer (gespielt von Bill Murray) ist eben verschieden. Seinem letzten Willen nach soll es der Verlag seinem Gründer gleichtun. Für eine letzte Ausgabe finden sich eine Handvoll Journalisten ein, die für Howitzer geschrieben haben – vom radfahrenden Reporter bis zum Schreiberling für kulinarische Kostbarkeiten. Bevor diese allerdings einen Nachruf formulieren können, zeigt uns Wes Anderson, wer von diesen Leuten genau was zu Papier gebracht hat, jeweils anhand eines Artikels. Der Film „liest“ sich dann auch dementsprechend, hat insgesamt 75 Seiten und behält seine vage rote Linie dadurch, dass zwischendurch immer wieder Szenen aus dem Verlagshaus durchsickern, die Howitzer beim Lesen des eben inszenierten Geschriebenen zeigen.

Wie schon im Film Grand Budapest Hotel, der zumindest eine stringente Geschichte erzählt und dadurch auch deutlich griffiger erscheint, stehen auch hier namhafte Stars allein schon für einen Cameoauftritt Schlange. Die Liste ist lang, und leicht lässt sich der eine oder die andere übersehen, weil der andauernde Kommentar aus dem Off niemals Ruhe gibt. Das sind gewaltig viele Worte, und gleichzeitig aber gewaltig viele detailreiche Bilder, die auch noch beachtet werden wollen. Kaum glaubt man, mit all dem Input à jour zu sein, bröckeln die Episoden ins Tausendste. The French Dispatch ist ein Film, der dazu verleitet, einiges, nach eigenem Ermessen für nicht sonderlich relevant Befundenes in Klammer zu setzen. Anderson treibt es auf die Spitze, denn sein exzentrisches Herumblättern ist nicht nur ein verfilmtes Magazin mit all seinen Beiträgen, sondern auch mitsamt des Glossars, den Fußnoten und dem Quellennachweis, den das Publikum auch noch lesen muss.

The French Dispatch

Nomadland

HEIMKEHREN NACH IRGENDWO

7,5/10


nomadland© 2020 20th Century Fox Studios


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: CHLOÉ ZHAO

CAST: FRANCES MCDORMAND, DAVID STRATHAIRN, LINDA MAY, CHARLENE SWANKEY, BOB WELLS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Nomadland ist ein Western. Vielleicht ein Neo-Western, oder ein Spätwestern oder überhaupt ein Post-Millennial-Western. Aber ein Western. Dieses Bild des einsamen Cowboys oder Pistoleros oder Pioniers, der gegen den Sonnenuntergang reitet, immer weiter Richtung Pazifik. Der das ganze Land, all diese Wildnis dort in Nordamerika, sein Zuhause nennt. Umgeben von den Geräuschen der Natur und seinen Launen. Was für ein Mythos. Was für eine Romantik. Chloé Zhao gefällt das. Aber nicht dieses offensichtliche Bild, das ich hier  beschrieben habe. Sondern das Bewusstsein einer Nation dahinter, diese seit den alten Zeiten recht erfolgreich archivierte Gesinnung, die so oft mit Freiheit und allen möglichen Möglichkeiten verbunden wird. Dieses damit einhergehende, stereotype Bild der Männer und Frauen. Doch Chloé Zhao liebt ihr Land, in das sie emigriert ist; will das Nest, in dem sie selbst lebt, nicht beschmutzen; will auch niemanden, der scheinbar falsche Richtungen anpeilt, an den Haaren zurückhalten. Chloé Zhao will etwas nachspüren. Sie ist neugierig, wissbegierig. Will herausfinden, was diese Menschen antreibt, was sie straucheln lässt, wovon sie träumen, wohl wissend, diesen Traum niemals realisieren zu können.

Es ist zwar nichts faul, in diesem Staatenbund, zumindest aus Zhaos Sicht – aber nicht alles läuft nach Plan. Als Hemmschuh gilt der Mythos. Das war schon in ihrem beachtlichen, semidokumentarischen Spielfilm The Rider so. Das Draufgängertum des Rodeos; das toughe, unkaputtbare Männerbild des Westens. Nicht Indianer kennen keinen Schmerz, sondern der junge weiße Mann mit Hut und Halstuch. Ihr Blick darauf ist keiner des Mitleids, sondern des Mitgefühls. Zhao hält sich zurück, will beobachten, besetzt ihre Filme gerne mit Laiendarstellern oder mit genau den Darstellern, die diese ihre Geschichten tatsächlich erlebt haben. Viel Regie bedarf es dabei nicht – diese Menschen müssen nur sein, wie sie sind. Und Zhao bettet all das in eine Geschichte – die allerdings keinen Anfang und kein Ende hat, sondern Momentaufnahmen sind, mit ungewisser Zukunft.

In Nomadland hat Fern alias Francis McDormand (ausgezeichnet mit dem Oscar) ebenfalls einen Traum zu Grabe getragen, im Zuge ihrer existenziellen Not aber einen neuen ausgemacht – einen, der sich möglich und nicht verkehrt anfühlt, weil er dem Nationalbewusstsein entspricht. Sich dem Stolz der Pioniere bedient. So hat Fern also ihren Van, den sie sich recht kommod eingerichtet hat und mit welchem sie von einem saisonalen Job zum nächsten tingelt, quer durchs Land, durch die Prärie und durch die atemberaubend pittoreske Landschaft eines so reichen Kontinents. Sie trifft auf die Kommune der Nichtsesshaften, freundet sich mit urigen Originalen an, findet sogar etwas fürs Herz. Wir sehen den Alltag eines Lebensstils, der schon vor tausenden von Jahren als abgelegt gilt, den die Tuaregs noch praktizieren oder die Hirten der mongolischen Steppe. Nomadland ist ein in sich ruhender, unaufgeregter, sehr präziser Film, der völlig wertfrei einen Zustand widerspiegelt, der weder als trostloses Sozialdrama steht noch als idealisierte Aussteigerromantik. Von beidem hat McDormand etwas, unter beidem leidet und frohlockt sie gleichermaßen. Ihr Spiel ist ungekünstelt und zurücknehmend, direkt beiläufig – und ohne Scham vor kompromittierenden Alltagsszenen. Vielleicht hat ihr eben diese ungeschminkte, lockere Natürlichkeit den dritten Goldjungen eingebracht. Herausragend ist ihre Darstellung nicht, ungewöhnlich auch nicht. Dafür aber so angenehm normal. Diese Normalität sucht man im Kino fast schon vergeblich. Sowas kann McDormand. Und es könnte auch sein, dass sie und Zhao zu einem neuen Dreamteam werden, obwohl ich die Filmemacherin eher als jemanden einschätze, der viel lieber zu neuen Ufern aufbrechen möchte. Wie eben für den neuen Marvel-Film Eternals, der zu Weihnachten in die Kinos kommen soll. Auf ihren Filmstil, verbunden mit dem Disney-Franchise, kann man gespannt sein.

Nomadland ist vor allem auch in seiner Machart bemerkenswert. Zhao begleitet ihre Reisende rund ein Jahr lang, von Winter bis Winter. Und zeigt dabei sehr viel in sehr kurzen Szenen und Sequenzen, die aber, trotz des akkuraten Schnittstils, in ihrer Gesamtheit eine elegische, dahingleitende Ruhe ausstrahlen. Trotz der Umtriebigkeit, trotz der Rastlosigkeit ihrer Protagonistin. Mit Michael Glawogger hat Zhao einiges gemeinsam – vor allem wenn ich mir seinen letzten Film, Untitled, ins Gedächtnis rufe. Beide haben diese Kunstfertigkeit, über das Reale zu erzählen und sich dabei eines prosaischen Alphabets zu bedienen. Das gereicht zu einem geduldigen, wohlwollenden Beitrag für ein neues, altes Hollywood.

Nomadland

Three Billboards outside Ebbing, Missouri

DEN TEUFEL AN DIE PLAKATWAND MALEN

7/10

 

threebillboards© 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

BUCH & REGIE: MARTIN MCDONAGH

MIT FRANCES MCDORMAND, SAM ROCKWELL, WOODY HARRELSON, ABBIE CORNISH, PETER DINKLAGE U. A.

 

Das erste Mal, als ich mit dem Dramatiker Martin McDonagh in Berührung kam, war die Aufführung seines Theaterstücks Der Leutnant von Inishmore im Wiener Akademietheater. Raues, blutiges Theater aus der irischen Unterwelt. Kein angenehmes Stück Bühnenspiel. Aber intensiv und einprägsam. Aber das ist schon Jahre her. Dass McDonagh auch auf Kino macht, bewies er dann mit Brügge sehen…und sterben?. Ein schwarzhumoriger Krachten-Thriller vor malerischen Fachwerkbauten. Sehenswert ja, aber nicht weltbewegend. Mit dem im Vorfeld hochgelobten Oscar-Kandidaten Three Billboards outside Ebbing, Missouri hat der Ire wohl sein inhaltlich komplexestes und vielschichtigstes Werk auf die Leinwand gewuchtet. Doch wie viel davon ist wirklich von Martin McDonagh? Viel eher lässt sich dieses Werk als Teil der Arbeiten seines älteren Bruders John Michael McDonagh sehen. Der hat sich im Gegensatz zu Martin immer wieder mal mit weitaus schwierigeren, vor allem ethischen Themen auseinandergesetzt. Ganz besonders in seinem letzten Film Calvary – Am Sonntag bist du tot. Ein Film um Glaube und Kirche, Vergebung und Verantwortung. Beeindruckend, bleischwer und metaphorisch. Three Billboards outside Ebbing, Missouri kippt in ein ähnliches Fahrwasser. Kann sein, dass das Kleinstadtdrama durchaus von John Michael´s Herangehensweise an gesellschaftskritische Stoffe beeinflusst worden ist. Wenn ja, war das mit Sicherheit kein Fehler.


Three Billboards otside Ebbing, Missouri könnte an einem Ort spielen, den sich Stephen King ausgedacht hat. Dieses fiktive Ebbing ist eine bigotte, spießige Kleinstadt – erzkonservativ und hinterwäldlerisch. Eine Keimzelle für Mord und Totschlag, für Rassenhass und sozialem Mobbing. Nichts für ungut, aber in Ebbing ist so ziemlich alles irgendwie mit Vorsicht zu genießen. Und dann ist da ein Mord passiert, die Vergewaltigung und Verbrennung eines Mädchens, direkt unter den Billboards, welche die Abzweigung nach Ebbing säumen – und zum Streitfall werden. Denn die trauernde Mutter des Teenies, die verschafft sich mit diesen drei Plakatwänden sowohl mediales Gehör als auch genug Feinde. Und entfacht eine Spirale der Gewalt und der Gegengewalt, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.

McDonagh der Jüngere liefert eine fulminante Geschichte, das Zerrbild eines schwelenden Mikrokosmos aus Hass und Wut, aus Genugtuung und Trauer. Und sie klingt so bizarr, dass es tatsächlich so passieren hätte können, was ich anfangs sogar noch gedacht habe. Doch 
Three Billboards otside Ebbing, Missouri ist eine fiktive, rabenschwarze Farce, die vor allem darstellerisch in noch tiefere Schwärze trifft als es die Story ohnehin schon tut. Und damit meine ich in erster Linie nicht mal Frances McDormand, von der man sowieso keine schlechte Arbeit erwartet. Nein – es ist das Schauspiel des Sam Rockwell, die nachhaltig beeindruckt und im Gedächtnis bleibt. Seine Wandlung vom niederträchtigen, hasserfüllten Saulus zum Paulus ist ein grandioser künstlerischer Kraftakt. Die veranschaulichte Kleinkariertheit, Impulshaftigkeit und Verletzlichkeit des latent rassistischen Polizisten Dixon und seine stete Metamorphose erinnert flüchtig an die Paraderolle Harvey Keitel´s in Bad Lieutenant. Ihm zur Seite natürlich der von mir sehr geschätzte Woody Harrelson als Mentor und Dixon´s Vaterersatz. All diese Figuren geben McDonagh´s Parabel der Vergebung eine raue, derbe, knochenharte Intensität, die den Wunsch nach dem inneren Frieden eines jeden einzelnen oder jeder einzelne zu einem zynischen Kreuzweg werden lässt. Das abrupte Ende aber wird den gierenden Gerechtigkeitssinn des Publikums erstmal wenig befriedigen. Später jedoch entfalten die letzten Worte seinen ganzen entlarvenden Zweck. Fast schon als Selbsttest für das Publikum, wie bei Helmut Qualtinger´s Die Hinrichtung.

Die Spirale der Gewalt zu durchbrechen verlangt unendliche, fast schon übermenschliche Größe. Im Angesicht emotionaler Belastung einen Schritt zurück zu treten, damit die Faust ins Leere fährt. Nur, um zu einer für alle erträglichen Ordnung zurückzufinden – das ist die Essenz dieser kraftvollen Ballade, die sich manchmal so traurig anfühlt wie Manchester by the Sea, und manchmal so absichtlich dick aufträgt wie ein Film der Coen´s. Selbstjustiz ist auch keine Lösung, die Hilfe des Feindes vielleicht. Ein Impuls, der neu ist – und Three Billboards outside Ebbing, Missouri zu einer faszinierend trotzigen Odyssee ins Innere verschütterter Menschlichkeit werden lässt.

Three Billboards outside Ebbing, Missouri