Killers of the Flower Moon (2023)

DER NEID DES WEISSEN MANNES

8,5/10


killersoftheflowermoon© 2023 Apple Original Films


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: MARTIN SCORSESE

DREHBUCH: ERIC ROTH, MARTIN SCORSESE

CAST: LEONARDO DICAPRIO, ROBERT DE NIRO, LILY GLADSTONE, SCOTT SHEPHERD, JESSE PLEMONS, TANTOO CARDINAL, BRENDAN FRASER, JOHN LITHGOW, BARRY CORBIN, WILLIAM BELLEAU, LOUIS CANCELMI, JASON ISBELL, STURGILL SIMPSON U. A.

LÄNGE: 3 STD 26 MIN


Blättert man das Schwarzbuch der Menschheit durch, könnte man darin auf ein Kapitel stoßen, welches die unsagbare Gier des weißen Mannes im zwanzigsten Jahrhundert wohl nicht besser illustrieren könnte als anhand der Morde am indigenen Volk der Osage, die das Glück hatten, in ihrem zugewiesenen Reservat auf Öl zu stoßen. Die Folge: Reich werden mit Klasse. Wir würden also, wären wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort, keine traditionellen Siedlungen und Dörfer mehr vorfinden, sondern mondäne, dem kolonialen Zeitgeist entsprechend gekleidete und herausgeputzte Familien, die im urbanen, europäisch orientierten Umfeld und dessen Gesellschaft längst das Sagen haben, anschaffen können und sich gar von weißen Leuten bedienen lassen. Die Osage, die hatten den Spieß so richtig umgedreht. Ein Status Quo, der den Weißen sauer aufstieß, denn die verstehen sich seit jeher als die Herren und Damen der Schöpfung. Als das Mustervolk der ganzen Welt, als die eigentlichen Bestimmer, denn überall sonst hat sich diese eine Ordnung längst etabliert – warum dann nicht hier, in Oklahoma, weit weg von Washington, wo einer wie William Hale einen verborgenen Krieg führt gegen die indigene Elite, sich öffentlich aber als Gönner, Wohltäter und bester Freund der durchs schwarze Gold reich gewordenen Nicht-Weißen präsentiert. Dieser Hale, in charismatischer Routine dargeboten von Robert de Niro als eitler Viehbaron, der keinen Widerspruch duldet, wird zur ekelhaften Verkörperung von Gier, Neid und Niedertracht. Seine beiden Neffen dürfen sich die Finger schmutzig machen, um die systematische Aneignung der missgönnten Ressourcen durch den selbsternannten King auch auszuführen. Raub, Mord und Intrige stehen auf der Agenda. Der gerade aus dem Krieg zurückgekehrte Ernest Burkhart, nicht wirklich ein Geistesriese, steht von Anbeginn an unter dem Einfluss des manipulativen Onkels. Entziehen kann er sich ihm nicht, aus Angst, aus Bequemlichkeit, oder einfach aus der Lust am Gewinn. Natürlich kommt der weißen Sippschaft eine Heirat mit der wohlhabenden Osage Molly wie gerufen – durch dieses Bündnis sollen die Anteile an den Bodenschätzen in Hales Hände geraten. Nachhelfen muss schließlich trotzdem werden – und nach und nach stirbt Mollys ganze Familie unter ihren Fingern weg. Sie selbst, an Diabetes erkrankt, sieht alsbald auch ihr eigenes Leben in Gefahr. Doch nichts und niemand scheint gegen diese ethnische Säuberung aufbegehren zu können.

Mit Sicherheit wird Killers of the Flower Moon kein Gigant am Box Office. Kein Film, für den das Publikum die Türen der Kinos einrennt. Das war schon damals, Anfang der Achtziger Jahre mit Michael Ciminos Spätwestern Heaven’s Gate so. Der Film geriet zum Totalflop und hatte den Untergang von United Artists zur Folge. Warum wohl? Zumindest damals waren dunkle Kapitel aus der amerikanischen Geschichte wie zum Beispiel der ebendort thematisierte Johnson County War nicht gerade das, wofür man zur Zerstreuung ins Kino ging. War Ciminos Klassiker seiner Zeit voraus? Könnte sein. Oppenheimer bewies, dass heikle Themen und kritische Betrachtungen auf die eigene Vergangenheit längst auf mehr Interesse stossen. So ein verheerendes Schicksal wie Michael Cimino wird Scorsese aber nicht erleiden – der Mann zählt zur Elite der amerikanischen Filmschaffenden, und das aus gutem Grund, denn Scorsese, der kann so einiges und kann dieses Level auch über Jahrzehnte hinweg halten. Was mit Hexenkessel oder Taxi Driver begann, könnte nun, mit Killers of the Flower Moon, zu einem neuen Meilenstein gelangen. Das epische Thrillerdrama auf Tatsachen ist mindestens so gut wie das Mafiaepos GoodFellas, ist auf den Punkt genau inszeniert und trotz seiner enormen Laufzeit so atemlos erzählt, dass man als Zuseher gut und gerne die Zeit verliert.

Dabei ist gar nicht mal die schauspielerische Leistung in diesem Film primär verantwortlich dafür, dass Killers of the Flower Moon einen derartigen Eindruck hinterlässt. Fast ließe sich Leonardo DiCaprios Overacting, welches sich vor allem in seinen übertrieben der Schwerkraft unterlegenen Mundwinkeln manifestiert, wenn dessen Lage als Filmcharakter Ernest immer wieder mal prekär wird, als Manko betrachten. Doch nur auf den ersten Blick. Klar ist: die feine Klinge des Schauspiels beherrscht das ewige Babyface nicht wirklich. Und dennoch schafft Scorsese für diesen Ernest Burkhart eine hinter den plakativen Regungen befindliche Gefühlswelt zu errichten, die das schlichte Gemüt des zwischen Verantwortung, Reue, Gier und Furcht changierenden, willensschwachen Diener des Bösen erschreckend gut einfängt. Neben ihm gibt Lily Gladstone als immer mehr dahinsiechende Molly dem finsteren Drama eine fast schon biblische Leidensfigur, die in Hitchcock-Manier so manchen Verdacht hegt.

Wie Scorsese das bis in die kleinsten Nebenrollen erlesen besetzte Opus Magnum in Zaum hält, ohne ins Theatralische oder Pathetische abzurücken, ist genau seine Spezialität. Gerade diese konzentrierte Art und Weise, diese durchgetaktete Chronik der Ereignisse, die niemals nur Fakten liefert, sondern mit emotionaler Wucht dem schwelenden Grauen aus dem Hinterhalt begegnet, lässt diese uramerikanische Parabel auf kaltschnäuzigen Rassenhass so gut funktionieren.  Unterlegt mit einem hypnotischen Score des im August letzten Jahres verstorbenen Robbie Robertson, der Folklore-Klänge mit Blues-Rhythmen verbindet, lässt Killers of the Flower Moon niemanden kalt. Scorseses Film ist eine elektrisierende Tragödie – zynisch, bitter und die Boshaftigkeit unserer Gattung bis auf die Knochen sezierend.

Killers of the Flower Moon (2023)

Kubi (2023)

KOPFSALAT À LA JAPONAISE

6,5/10


kubi© 2023 KADOKAWA T.N Gon Co., Ltd.


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: TAKESHI KITANO

DREHBUCH: TAKESHI KITANO, NACH SEINEM EIGENEN ROMAN

CAST: TAKESHI KITANO, HIDETOSHI NISHIJIMA, RYO KASE, KENTA KIRITANI, NAKAMURA SHIDŌ II, TADANOBU ASANO, KENICHI ENDŌ, JUN SOEJIMA, KAORU KOBAYASHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Das kommt mir alles nicht nur spanisch, sondern auch japanisch vor. Hätte mich mein treuer Kino-Buddy, der, was die Geschichte Japans betrifft, so einiges am Kasten hat, nicht in groben Zügen über die Eckdaten der Geschehnisse unterrichtet, die sich im sechzehnten Jahrhundert so abgespielt haben, hätte ich mich noch weniger ausgekannt als ohnehin schon. Hätte nämlicher Kino-Buddy selbst mit einer geradezu jungfräulichen Ahnungslosigkeit geprahlt wie meinereiner, hätte es noch der ans Kinopublikum gewandte Erklärbär getan, der in ähnlichem Umfang über die Wirren zur Sengoku-Zeit so einige Klarheit schaffen konnte – die sich aber, nachdem dieser wieder Platz genommen hatte, schnell wieder eingetrübt hat.

Ich weiß nur: Kubi – was so viel heißt wie Genick, denn es fliegen die Häupter wie Schneebälle bei einer Schlacht gleichen Bezugs – setzt den Grandmaster Beat Takeshi Kitano (u. a. Hana-Bi) ins Zentrum des Geschehens, basierend auf seinem eigenen Roman. Er mimt dort den Samurai und Feldherrn – und jetzt kommt der erste von vielen, vielen teils unaussprechlichen Namen – Hashiba Hideyoshi, auch genannt der Affe, was wenig schmeichelhaft klingt, doch er nimmt es hin, wie alle anderen, die dem mächtigen Oda Nobunaga zu Diensten sein müssen und um die Gunst des Herrschers buhlen, da sie alle seine Nachfolge antreten wollen und dafür sogar Harakiri hinnehmen würden, was allerdings wenig bringt angesichts des letalen Ausgangs. Alles beginnt mit der gescheiterten Rebellion eines anderen Feldherrn, Araki Murashige (jetzt könnte man anfangen, die Namen zu notieren). Der hat eine Liaison mit noch einem anderen Feldherrn, nämlich Akechi Mitsuhide, was ihm zugutekommt, denn Murashige wird überall gesucht und findet bei seinem Liebhaber ein passendes Versteck. Dass alle gemeinsam auf irgendeine Weise diesen völlig durchgeknallten Nobunaga stürzen wollen, ist sowieso von vornherein klar. Am geschicktesten bekommt dies eben Hideyoshi hin, der all die Gemetzel, die plötzlich über einen hereinbrechen, aus sicherer Distanz vom Feldherrnhügel bewundert, während wieder einem anderem, nämlich Tokugawa Ieyasu, späterer Shōgun (der ist wichtig, unbedingt aufschreiben), langsam die Doppelgänger ausgehen, so sehr haben es andere auf dessen Leib und Leben abgesehen.

Gegen die Dramatis personae dieses ganzen Feudal- und Feldherrnspiel mutet Game of Thrones an wie ein Zwei-Personenstück. Wer da wem wie und warum ans Leder will, dafür reicht es wirklich nicht, nur rudimentär mit der japanischen Geschichte, insbesondere mit der Zeit der streitenden Reiche, vertraut zu sein. Hat man sie nicht selbst erlebt, bleibt vieles im Unklaren. Insbesondere die Frage, warum so mancher Feldherr handeln musste, wie er letztlich gehandelt hat, zog bereits rund 50 Theorien nach sich – Takeshi Kitano hat eine 51ste verfasst. Und aus der wird man letztendlich aber auch nicht klüger. Natürlich ist es beeindruckend, mitanzusehen, wie stattlich gerüstete Krieger die Schwerter und Lanzen schwingen, natürlich wird der abgetrennte Kopf bald schon zur inflationären Trophäe. Sowieso weiß niemand mehr, welches Haupt wohin gehört – wenn Takeshi Kitano auf süffisante Art, auf dem Stuhl kauernd und sich belustigt vorbeugend, im vor ihm abgelegten, deformierten Konterfei das Gesicht des gesuchten Nobunaga erkennen will (oder war es Mitsuhide?), dann ist das schwarzer Humor vom Feinsten.

Genauso selbstironisch geht Kitano in seiner Regiearbeit auch ans Werk. Die monumentale, granitharte Bitterkeit anderer Intrigen-Epen lässt Kubi im Grunde völlig vermissen. Es ist gar so, dass manche Szene an den respektlosen Humor der Monty Pythons heranreicht. Später lässt sich das geschäftige Theater kaum mehr ernst nehmen. Man wundert sich ob all der Namen und Personen. Man fühlt sich befremdet ob so mancher, an Moral verlustig gegangener Charaktere, die den Tod ihrer eigenen Familie als günstigen Umstand hinnehmen.

Im historischen Japan Takeshi Kitanos sind all die Mentalitäten der streitenden Parteien so fern wie Alpha Centauri. Wäre dieser garstige Zynismus nicht, wäre Kubi verwirrende Kost für ein spezialisiertes Publikum, bei dem jeder andere womöglich bald das Handtuch wirft. Der locker-flockige Stil allerdings macht es aus, dass diese zwei Geschichtsstunden stets frisches Blut vergießen. Langweilig wird’s somit nie. Und auch wenn so manches Detail im Nirvana des Kurzzeitgedächtnisses verschwindet und nicht immer alle Querverbindungen klar sind, bleibt immer noch die verblüffende Chronik eines leidenschaftlich ausgelebten Faustrechts.

Kubi (2023)

Mulan (2020)

STAND BY YOUR CHI

6/10

 

mulan© 2020 The Walt Disney Company

 

LAND: USA 2020

REGIE: NIKI CARO

CAST: LIU YIFEI, DONNIE YEN, GONG LI, JET LI, JASON SCOTT LEE, TZI MA, RON YUAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN

 

Die einen retten das Kino, die anderen machen es verzichtbar: Während Christopher Nolan mit seinem Zeitreiseknüller Tenet wieder leere Sitzreihen füllen will, kommt der Mauskonzern auf den Geschmack, seine Blockbuster streamen zu lassen, in der Hoffnung, den Home-Cinema-Erfolg von Trolls World Tour vielleicht zu toppen. Ins Kino trauen sich sowieso nur wenige, in den USA womöglich noch weniger als hierzulande. Also erscheint Mulan exklusiv auf Disney+, zu einem ordentlichen Preis wohlgemerkt – allerdings gilt der Preis für alle, die vor dem Bildschirm sitzen, und so gesehen fällt das Heimkino vermutlich günstiger aus als wenn man sich im Familien-Kontingent aufmacht ins nächstgelegene Multiplex.

Aber wie sieht es denn wirklich aus? Hätte Mulan lieber ins Kino kommen sollen? Oder ist der Release als Stream völlig ausreichend? Nun, wer bereits sämtliche Disney-Realverfilmungen gesehen hat, wird wissen, dass diese High-End-Produkte eindeutig etwas fürs Kino sind. Und er wird auch wissen, dass dort, wo Disney draufsteht, auch Disney drin ist. Kurz gesagt: Mulan hat als Zeichentrickversion womöglich mehr eigene Klasse, während sich die Realverfilmung nahtlos und unauffällig in all die anderen Realverfilmungen einreiht, die es bereits von Disney gibt. Da sticht vielleicht nur noch Der König der Löwen hervor, ansonsten aber haben alle Filme eines gemeinsam: sie folgen einer gewissen Faustformel, folgen durch Chefetagen gereichten Anforderungen und Geboten und hüten sich davor, aus der Reihe zu tanzen. Diese dogmatische Message Control, die Disney fein säuberlich durchdacht hat, sorgt für ein erwartbares und gleichsam konventionelles Filmerlebnis, das aber zweifelsohne und technisch gesehen auf der Höhe seiner Kunst ist, nichts anbrennen lässt und erfahrene Profis an den Regiestuhl lässt. Wie zum Beispiel Niki Caro, bekannt durch ihr wirklich bezauberndes Coming of Age-Mythendrama Whale Rider, die sich sicherlich nicht zweimal hat bitten lassen, für Disney die uralte chinesische Legende aus der zweiten Dimension zu holen.

Die Legende selbst ist nicht sonderlich komplex: im antiken China droht Gefahr von Seiten der Hunnen. Da springt ein burschikoses Mädchen für ihren Papa ein, ein Kriegsveteran, der kaum noch aufrecht gehen kann, der aber nochmals in die Armee hätte eingezogen werden müssen, da sein Nachwuchs nicht männlicher Natur ist. Damals war das so: Frauen bleiben daheim, Männer ziehen in den Krieg. Alles andere: ein bitterer Affront gegen Traditionen. Mulan allerdings macht einen auf Yentl und tarnt sich als Junge mit stark ausgeprägtem Chi, woraufhin bald alle ihre Kommilitonen staunen werden. Und nicht nur die: auch eine Hexe findet Gefallen an Mulans Mut, der folglich natürlich das Kaiserreich retten wird.

Wenn Mulan mit wallendem schwarzem Haar und in roter Gewandung samt Schwert im kargen Hochland Asiens Pirouetten und Salti schlägt, an den Wänden hochläuft und in Pose geht, dann ist das natürlich großes Kino. Auch die Meute der schwarzbekleideten Antagonisten, die zu Pferde allerhand Staub aufwirbeln, ermöglichen Szenen, bei denen nur noch die Kehlgesänge der Huun Huur Tu fehlen. Jede Menge fernöstlichen Glamour versprüht dieser gesangsbefreite Film, schöne Bilder der Kaiserstadt, ganz nette, natürlich unblutige Kampfszenen. Unterm Strich aber ist die Blutleere aus bereits erwähnten Gründen, nämlich, brav den Disney-Traditionen zu folgen, ebenso auf die angepasste Dramaturgie zu übertragen, die einen gewissen kecken Esprit und darüber hinaus auch Humor vermissen lässt und sich kaum mit dem wachen Geist solidarisch zeigt, den Mulan als erste Kriegerin eigentlich hat.

Mulan (2020)