Boston Strangler (2023)

EIN KILLER FÜR DIE ZEITUNG

5/10


BOSTON STRANGLER© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

BUCH / REGIE: MATT RUSKIN

CAST: KEIRA KNIGHTLEY, CARRIE COON, CHRIS COOPER, ALESSANDRO NIVOLA, RORY COCHRANE, DAVID DASTMALCHIAN, PETER GERETY, ROBERT JOHN BURKE, MORGAN SPECTOR U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


True Crime ist im Thrillergenre nicht immer besser, denn dabei müssen sich alle, die am Drehbuch beteiligt sind, an die Fakten halten. Sonst wäre es schließlich kein True Crime, sondern nur irgendeine Kriminalgeschichte, die sich ausgewählte authentische Aspekte zum Würzen der eigenen fiktiven Geschichte herauspickt. Boston Strangler von Matt Ruskin will nicht improvisieren oder dazuerfinden, sondern Fakten liefern. Um aber mehr als nur die Eckpunkte der Geschichte abzuhandeln, engagiert er Keira Knightley, eine wunderbare und hochbegabte Schauspielerin, die aber wider Erwarten selbst hier, in diesem trockenen Umfeld aus abgewohntem 60er-Jahre-Flair, Wählscheibentelefon und bekritzelten Notizblöcken nicht mehr in ihre Rolle investiert als Matt Ruskin selbst schon aus der Biografie von Reporterin Loretta McLaughlin extrahiert hat. Gemeinsam mit Kollegin Jean Cole ist sie dem vermeintlichen Serienkiller, der für die alle nach dem gleichen Schema abgelaufenen Frauenmorde verantwortlich gewesen sein muss, auf der Spur. Im Boston der damaligen Zeit haben diese Gräueltaten wohl keine weibliche Seele in Ruhe schlafen lassen – Mitschuld hatten da auch die Medien, die dieses Thema am liebsten täglich zur Schlagzeile machten. Maßgeblich daran beteiligt waren da auch die eben erwähnten Investigativ-Journalistinnen, von denen nur eine wirklich Praxis besaß, während die andere nur wirklich gut schreiben konnte. Diese andere, McLaughlin, packt der journalistische Ehrgeiz und sie entpuppt sich als Naturtalent. Nach und nach kommen – auch dank mitteilsamer Polizei – so einige obskure Gestalten in Frage. Manche haben ein Alibi, manche nicht. Und irgendwie laufen die Ermittlungen alle auf einen gemeinsamen Nenner zusammen, welcher in einer Nervenklinik zu finden ist, in der alle Verdächtigen zumindest für eine kurze Zeitspanne gemeinsam einsaßen.

Den Film The Boston Strangler gab’s schon einmal, nämlich 1968. Inszeniert wurde dieser von Vielfilmer Richard Fleischer, mit Tony Curtis als Killer, Henry Fonda und George Kennedy in weiteren Rollen. Das Thema ist das gleiche – Der Würger von Boston. Nur: Dieser Film stellt die Ermittlungen der Kriminalpolizei in den Vordergrund, nicht die unterstützende Arbeit der Zeitung. Bei Raskin ist es genau umgekehrt – und natürlich zeitgemäßer. Denn es sind nicht Männer, die die Sache aufklären, sondern eben Frauen mit Mut, Durchhaltevermögen und Selbstbewusstsein. Und dennoch springt der entscheidende Funke in diesem Film nicht über.

Wir haben das Problem, um jeden Preis True Crime sein zu wollen. Und so bewegt sich das Kriminal- und Reportage-Drama von einem Namen zum nächsten, es werden Schauplätze aufgesucht und Leute interviewt. Klar, das gehört alles zum Plot und auch zur Story, doch wäre ein Film wie dieser als Reportage in einem Fachjournal besser aufgehoben gewesen als bei Keira Knightley im zugeknöpften Sixties-Look, die ihre Rolle wie schon erwähnt nicht entwickeln kann. Ebenso setzt Boston Strangler weder auf eine spielerische Herangehensweise noch lockert er seine Aktenparade mit interessanten und von mir aus auch spekulativen psychologischen Interpretationen auf, die das lahmende Drama erfrischt hätten. Wäre es dann kein True Crime mehr? Dem Willen zu diesem Wagnis hatte ich nachgegeben, denn sonst bleibt angesichts dieser pragmatischen Nummer, angereichert mit halbherzigen Einblicken ins Privatleben der Protagonistin, das freie Spiel kreativer Kräfte bei einem Fall fiktiver Natur weitaus attraktiver.

Boston Strangler (2023)

Strange World (2022)

SELTSAM VERTRAUT UND DOCH VÖLLIG FREMD

5/10


STRANGE WORLD© 2022 Disney. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DON HALL

BUCH: QUI NGUYEN

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): JAKE GYLLENHAAL, DENNIS QUAID, JABOUKIE YOUNG-WHITE, GABRIELLE UNION, LUCY LIU, KARAN SONI, ALAN TUDYK U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Der gigantische Dachkonzern Disney mit all seinen eingegliederten Studios zu jedem seiner Themen sieht sich völlig nachvollziehbar in der Pflicht, der medienkonsumierenden Menschheit beizubringen, wie man achtsam durchs Leben geht. Wie man Minderheiten nicht mehr als minder ansieht, wie man sexuelle Diversität ganz einfach und ohne viel nachzudenken akzeptieren kann. Wie sich People of Color endlich auf Augenhöhe mit den amerikanischen Weißen begeben kann. Und wie man nicht zuletzt unsere Welt, oder eigentlich viel mehr uns selbst schützt, bevor es zu spät ist. Disney hat sich da viele Gedanken gemacht. Und nicht nur Disney. Auch Netflix und Amazon und alle Riesen, die sich in der moralischen Verantwortung befinden. Jeder Konzern hat da so seine Liste, auf welcher steht, wer aller und was alles in einem Mainstream-Film zu sein hat, welche Botschaften kommuniziert werden müssen und welche Moral vertreten. Sind diese Bedingungen erfüllt, kann es ja meinetwegen kreativ werden. Aber nicht vergessen: Die Message ist wichtig, die Agenda muss erfüllt sein, die Saat muss aufgehen.

Klar soll sie das. Alles andere ist Unsinn und lässt die Menschheit in seiner Entwicklung im Kreis laufen bzw. zurück, so lange Freiheiten, die niemanden sonst einschränken, nicht gelebt werden können. So lange Hautfarben soziale Unterschiede hervorrufen, es „Ungläubige“ gibt oder der Klimawandel geleugnet wird. Es liegt so viel im Argen. Und ja, man muss ein Bewusstsein schaffen, wenn man die Macht dazu hat. Die Frage ist nur: Wie? So wie Disney?

So viel Wokeness muss man auch erst mal in einen Film packen können. Der Mauskonzern schafft das mit links, und tatsächlich liegt es ihm fern, das Offensichtliche auch noch zusätzlich zu erwähnen. Hier ist die Diversität selbstverständlich, in dieser höchst eigenartigen Welt, umgeben von hohen Gebirgen, die überhaupt nicht so aussieht wie die unsere, in der Steampunk-Mechanik den Alltag prägt und die Menschheit in ihrer Akzeptanz schon sehr viel weiter scheint als unsere. Diese verbindende Vernunft hat dann auch Potenzial für Helden und Abenteurer, die unbedingt schon mal wissen wollten, was jenseits der Berge liegt. Also macht sich der gestandene Familienvater Jaeger Clade mit seinem Teenager-Filius eines Tages auf, um das Unbekannte zu erforschen, allerdings mehr für sich selbst als für die Allgemeinheit. Dem Sohnemann Searcher (was für seltsame Namen) wird das Unterfangen bald zu viel – er ist schon zufrieden damit, auf dem Weg durch die Wildnis auf eine außergewöhnliche Pflanze gestoßen zu sein, die Energie abgibt. Ach, was hätten wir die nicht gern angesichts der geschmalzenen Jahresabrechnungen zu Strom und Gas, die uns ins Haus flattern? Doch man muss neidlos zugestehen: Dieses Gewächs hat es in sich und wird die Autarkie des Landes retten, während der sture Übervater verschollen bleibt, hat der doch seinen Sohn damals einfach ziehen lassen. Eine ganze Generation später gibt’s mit diesen Energie-Trauben allerdings ein Problem – sie liefern nicht mehr so, wie sie sollen. Also startet eine Expedition ins Innere des Planeten, um den Ursprung allen Übels ausfindig zu machen – und stößt dabei auf eine höchst merkwürdige, surreale Welt aus grenzenloser Biomasse, die noch dazu seltsame Lebewesen beherbergt, die zu surreal erscheinen, um wahr zu sein. Eines dieser Geschöpfe ist aber allzu menschlich: es ist Jaeger Clade, der zwei Dekaden lang sein Dasein hier hat fristen müssen.

Natürlich ist die Optik wieder prachtvoll – die Figuren und ihre Mimik, all die Oberflächen und die geschmeidige Animation: einfach perfekt. Doch zu viel Perfektion bleibt seltsam seelenlos. Disney erlaubt sich mit Strange World, eine ideale Welt zu fordern, in der selbst das Imperfekte nur so weit auftritt, um moralisch noch integer zu bleiben. Konflikten geht Strange World aus dem Weg, die Vater-Sohn-Problematik reduziert sich auf die üblichen Stereotypien verlorener Väter, die gefunden werden wollen. Die Familie selbst ist das überfrachtete Produkt aus politischer Korrektheit, die so sehr das Ideal einer harmonischen Koexistenz einfordert, dass sie fast schon an Propaganda grenzt. Dabei wäre es gehaltvoll genug gewesen, einfach „nur“ die Umweltproblematik zu thematisieren, die uns sowieso gerade herumreißt. Dafür gibt’s auch einen netten Story-Twist am Ende, und der eigentliche Plot wird zur runden Sache. Doch der Hang zum Perfektionismus und die vehemente Agenda des Medienriesen gerät viel zu plakativ.

Strange World (2022)

The Guardians of the Galaxy Holiday Special

SCHENKEN IST WAS SCHÖNES

6,5/10


guardiansholiday© 2022 Marvel Studios / Disney+


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JAMES GUNN

CAST: DAVE BAUTISTA, POM KLEMENTIEFF, CHRIS PRATT, KEVIN BACON, SEAN GUNN, KAREN GILLAN, BRADLEY COOPER, VIN DIESEL, MICHAEL ROOKER U. A.

LÄNGE: 45 MIN


Sie sind zwar kein Must-See, aber das Guilty Pleasure für jedes Franchise: Holiday Specials. Dem Star Wars-Ableger aus den Siebzigern habe ich mir bis heute verkniffen, doch als leidenschaftlicher Fan sollte ich mich vor Fremdscham nicht fürchten. Kevin Feige hat da schon alle Peinlichkeiten umschifft, denn mit James Gunn auf dem Regiestuhl sind Albernheiten so salonfähig wie nie zuvor. Jener Künstler, der das DC-Universum mit The Suicide Squad aus der pathetischen Schwermut eines Zack Snyder erretten konnte und dort nun auch als kreatives Mastermind die neue Richtung vorgibt, will seine Guardians, die er von der ersten Stunde an mit der nötigen Umsichtigkeit durchs Universum gesteuert hat, natürlich nicht aus der Hand geben. Das Ende kommt früh genug, und es soll nächstes Jahr passieren, mit dem Abschluss einer Trilogie, die so formschön, bunt und praktisch daherkommt wie Weltraum-Fantasy eben auszusehen hat. Bevor wir aber alle eine Träne verdrücken ob des Nimmerwiedersehens mit dem schrägen Haufen an Menschen und Aliens, gibt es noch ein kleines Stelldichein exklusiv für Abonnenten der Disney+-Schiene. Wer Marvel-Fan sein will, darf an diesem Streamingdienst nicht vorbeisparen – es geht nicht anders. Viele zu viele Extras warten dort auf den Nerd, und will man Weihnachten mit Marvel verbinden, muss auch das Holiday Special der Guardians her.

Dort, in der Schädel-Zuflucht Nowhere irgendwo in den Weiten des Alls, sinnieren der drollige Drax und die süße Mantis darüber nach, wie sie Star Lord eine Freude bereiten können, trauert der doch seit Endgame seiner Geliebten Gamora nach. Da kommt ihnen das irdische Weihnachten in den Sinn, das anscheinend gerade vor der Tür steht. Dieses Fest dürfte in den Weiten des Alls ein Exklusivrecht haben oder gar schon zu den physikalischen Grundgesetzen zählen. Vielleicht sind es die Werte aus Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt, die universell erscheinen. Das erkennt sogar die zynische Nebula, einst Antagonistin unter dem Zepter des finsteren Thanos. Mantis und Drax planen also, dem guten Peter Quill ein Geschenk zu machen. Aber eines, das lange nachhält, das nicht ausgepackt und weggelegt wird. Wie wärs mit einer Ikone aus dessen Jugend? Wie hieß das Musical noch mal, von welchem der kleine Peter so ein Fan war? Footloose. Und sein Star? Kevin Bacon. Also nichts wie rüber nach Terra, den gut gealterten Schauspieler mitnehmen und bestenfalls gleich einpacken lassen. Klar, dass dieser so einiges dagegen hat und den beiden Gutmensch-Aliens sogar die Polizei auf den Hals hetzt.

Die ulkige Naivität des pink tätowierten Hünen, gespielt von Dave Bautista, sorgt immer noch für Schmunzeln – hinzu kommt das nicht weniger einfach gestrickte Gemüt der Halb-Celestial Mantis: Und schon haben wir sowas wie Dick und Doof des MCU, die in ihrem von Nächstenliebe motivierten Eifer für Slapstick, Chaos und skurrile Momente sorgen. James Gunn weiß, wo er ansetzen und wo er aufhören muss, damit das Ganze nicht lächerlich oder bemüht wirkt. Mit dem Faktor Kevin Bacon bewegt er sich dennoch manchmal aufs Glatteis und wirkt in seinen Bemühungen etwas einfältig, doch wir Zuseher sind die Charaktere schließlich alle schon gewohnt, und sowieso war es längst an der Zeit, bei Groot, Rocket und Co nochmal vorbeizuschauen, bevor das Jahr zu Ende geht. Dass Gunns liebevoll errichteter Punsch-Stand an kauzigen Details und musikaffinen Aliens ungefähr so viel Mehrwert hat wie ein Besuch am Adventmarkt, dürfte bei einem Holiday Special klar sein. Der Dreiviertelstünder fühlt sich an wie der kostspielige Pop-Up-Weihnachtsgruß vom Dienstleister, in schmucker CI und mit allerlei Branding. Damit man sich daran erinnert, dass das MCU noch vieles hat, was gerne gut verkauft werden will.

Vergnüglich bleibt das Special aufgrund rockig-smoother Weihnachtssongs, von denen sogar Bacon höchstselbst eines zum Besten gibt. Und aufgrund der kuriosen Details am Rande. Knuffig, wenn sich Drax einen aufblasbaren Elf wünscht. Oder die Guardians ihre Bescherung erleben. Das ist witzig, versöhnlich und irgendwie auch wehmütig, wenn man an den guten alten Yondu denkt.

The Guardians of the Galaxy Holiday Special

Werewolf By Night

ZU VIELE JÄGER SIND DES MONSTERS TOD

4,5/10


WEREWOLF BY NIGHT© 2022 Marvel Studios


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MICHAEL GIACCHINO

CAST: GAEL GARCÍA BERNAL, LAURA DONNELLY, HARRIET SANSOM HARRIS, KIRK R. THATCHER, EUGENIE BONDURANT, LEONARDO NAM, AL HAMACHER U. A.

LÄNGE: 55 MIN


Hier steht er nun, Mastermind Kevin Feige, auf einer Landstraße im Nirgendwo, so wie seinerzeit Tom Hanks in Castaway, der nach sieben Jahren Absenz wieder versucht, an ein normales Leben anzuknüpfen. Das Inselleben Kevin Feiges endete 2019 nach dem wuchtigen Finale Endgame, dem durchwachsenen zweiten Teil einer prinzipiell genialen Götterdämmerung. Nach dieser Phase folgte der freie Fall: Feige muss nach vor, nicht zurück. Ideen gibt es viele in seinem Kopf und in den Köpfen der Kreativabteilung, wenn die Beantwortung der Frage im Raum steht, wie es nun mit dem Franchise weitergehen soll. Drei Jahre später weiß das in den Marvel Studios immer noch niemand. Was nach Endgame alles an Serien und Filmen über die Fangemeinde hereinbrach, lässt sich schwer an einen roten Faden knüpfen, der so bezeichnend war für die letzte Phase des MCU. Zu sehen gab’s durchaus gelungene Standalones und Origin-Stories. Beeindruckende Gedankenspiele, erwachsenere Konzepte oder Möchtegern-Zaubertüten, die vom eigentlichen Ideenmangel ablenken sollten. Alles natürlich durchsetzt von gesellschaftspolitischen Agenden. Angeteasert wurden etliche Storylines, um die sich aber bis zum heutigen Tag niemand gekümmert hat. Somit ist offensichtlich: Keiner weiß, wohin.

Und dann das: Werewolf by Night. Als hätten wir nicht schon genug Figuren auf dem Spielfeld, die in ihrer Exaltiertheit eine ganze MCU-Phase tragen könnten. Natürlich erblickt passend zum Halloween-Monat des Horroktober eine Marvel-Figur das Licht der Bildschirme, die sich eigentlich Universal Pictures hätte krallen müssen, die aber den Geist der alten Horrorfilme rund um Tod Browning, James Whale, Bela Lugosi oder Boris Karloff wiederbeleben sollte. Das MCU bringt das kein Stück weiter. Es ist ein neues Experiment, das wie in einem Labor wieder mal Puff macht. Die Reste werden später fachgerecht entsorgt – so, als wäre nie etwas gewesen.

Disney+ bietet zumindest die Möglichkeit, an bestehenden Formaten herumzudoktern, Algorithmen umzuschreiben und Dinge zu wagen, die sich auf der großen Leinwand wohl nicht rechnen würden. Da wäre Werewolf by Night das nächste Häppchen, kaum eine Stunde lang und von der Laufzeit daher den alten Frankenstein– und Dracula-Filme nachempfunden. Der Trailer zu dieser „Special Presentation“, wie Marvel Studios es nennt, ist tatsächlich von einer grauenerregend guten Retro-Ästhetik, die mit angstverzerrten Visagen, Schattenspielen und einer verwaschenen Schwarzweiß-Optik Stimmung macht für ein klassisches Spukabenteuer. Mit diesem satten Announcement sind die Erwartungen natürlich hoch, und es wäre angesichts der schwächelnden Formate wie Ms. Marvel und She-Hulk direkt ein Wunder gewesen, mit einer Comicfigur, die stark an Wolverine erinnert, diese erfüllt zu sehen.

Was man serviert bekommt, ist ein bisschen Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, ein bisschen Frankenstein und irgendwas dazwischen. Ach ja, ein Labyrinth gibt es – und einen sogenannten Blutstein, den der eben verblichene Patriarch der Bloodstone-Dynastie, seines Zeichens Monsterjäger, weitergeben muss. Und zwar nicht an das schwarze Schaf der Familie, Tochter Elsa, sondern an den oder die beste aller Monsterjäger, die während einer nächtlichen Hetzjagd einem grauenvollen Ungetüm den Garaus machen sollen. Dieses Ungetüm entpuppt sich als das legendäre Man-Thing, eine Art Cthulhu für den Wanderrucksack, der mit Jäger Gael García Bernal gemeinsame Sache macht. Was dieser wiederum für ein Geheimnis in sich trägt, verrät der Titel. Und als das eigentliche Monster die Flucht ergreift, wird trotz fehlendem Vollmond ein anderes geweckt werden müssen. Das alles in einem Setting wie aus einem überkandidelten Edgar Wallace-Krimi, fein ausgestattet und sehr darauf bedacht, Manierismen und Versatzstücke aus den alten Klassikern laufend zu zitieren. Wenn man aber vermutet hätte, hier so etwas wie Sin City fürs MCU zu erleben, wird enttäuscht sein. Zu denen, die das dachten, habe ich mich wohl selbst gezählt. Werewolf by Night ist weder gruselig noch locken uns irgendwelche Mysterien in eine wohlig schaurige Dunkelheit. Warum man Komponist Michael Giacchino die Regie für diesen stilistischen Paradigmenwechsel übertragen hat, lässt sich nur auf ein gemeinsames Abendessen zurückführen. Unter seiner Hand gerät der kleine Reißer viel zu actionlastig und vorhersehbar. Die Plot ist einfallslos und nicht mal an den Haaren herbeigezogen, denn das könnte ja so bizarr anmuten, wie es bei Ed Woods Trashperlen der Fall war. Das wirklich erschreckende an Werewolf by Night ist der viel zu zögerliche Ausbruch aus einer erschöpften Routine, die das MCU wie ein Ringelspiel mit unterschiedlichen bunten Waggons auf der Stelle rotieren lässt. Dass hier nicht mal die irrlichternde Optik oder der Kniefall vor dem Schauerkino irgendetwas daran ändern können, liegt vielleicht auch an den austauschbaren Nebenfiguren.

Werewolf by Night hat massig Potenzial, Bernal fügt sich als einziger wirklich geschmeidig gut in das Franchise ein und die Details eignen sich als Deko-Set für die eigene Halloween-Party. Darüber hinaus aber zeugt verhaltener Applaus von einem zwar erwartbar geglückten, aber kaum nachhallenden Laborexperiment. Eine wandelnde Sensation wie Frankenstein’s Monster wird leider nicht daraus.

Werewolf By Night

Fresh

ROTKÄPPCHEN UND DAS WOLFSRUDEL

8/10


fresh© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MIMI CAVE

SCRIPT: LAURYN KAHN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, SEBASTIAN STAN, JONICA T. GIBBS, CHARLOTTE LE BON, ANDREA BANG, DAYO OKENIYI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Männer wollen doch immer nur das eine! Vermutlich schon, denn wären die Triebe nicht, gäbe es keine Beziehungen. Oder nur wenige, rein platonische. Die Lust am anderen (oder gleichen) Geschlecht ist stets der Anfang von viel mehr. Oder bleibt in den niederen Gefilden von Sex und körperlicher Liebe verhaftet, weil so manche Männer einfach nur genau das wollen und Frauen auf ihre äußerlichen Reize reduzieren. Gegen die aufblasbare Gummipuppe aus dem Beate Uhse-Versandkatalog scheinen „echte“ Frauen aber stets die Nase vorn zu haben, nichts kann die natürliche Physis ersetzen. Um das zu bekommen, was Mann will, gibt’s Dating-Apps wie Tinder. Passen die Matches, ist noch längst nicht gesagt, ob‘s Auge in Auge dann auch noch hinhaut. Meist nicht, meist ist es nach einem One-Night-Stand nicht nur beziehungstechnisch vorbei, sondern auch die Würde dahin. Doch Mann hat bekommen, was er wollte und zieht weiter. Wie ein Jäger auf der Pirsch nach Freiwild. Oder – wie wir seit EAV’s Märchenprinzen wissen: Zu viele Jäger sind der Hasen Tod.

Dazwischen jedoch, und um einiges weiter abseits, bleibt das Patriarchat nicht unkreativ, um mehr zu bekommen als möglich ist. Diese Erfahrung muss die junge Noa alsbald machen, als sie, entnervt und enttäuscht nach so einigen Blind Dates, im Supermarkt Bekanntschaft mit dem äußerst attraktiven Steve macht. Wen haben wir da vor uns: „Winter Soldier“ Sebastian Stan, sehr schick, sehr distinguiert und charmant. Ein Mann, den Frau sich nur erträumen kann, weil es diesen in natura einfach nicht gibt. Kurz danach folgt das Grand Opening einer leidenschaftlichen Liaison, wie wir sie schon aus diversen anderen RomComs oder erotischen Krimis kennen. Das dann alsbald ein unangenehmes Erwachen folgt, liegt auf der Hand. Der Punkt in dieser Sache ist nur: Welcher Art ist dieser Wermutstropfen auf die rosarote Glückseligkeit, der so bitter schmeckt wie ein roher Satanspilz?

Die Erkenntnis sickert wie der Schmerz beim Anstoßen der kleinen Zehe mit einiger Verzögerung sortenrein ins Hirn – und ist umso verstörender, je länger man darüber nachdenkt. Die Frau als Objekt der Begierde findet in Mimi Caves haarsträubender Groteske Fresh ihre destruktivste Bestimmung, der Horror macht sich in den Köpfen breit und in der sprachlosen Empörung, zu welchen niederträchtigen Marktlücken das starke Geschlecht sich hinzureißen gedenkt. Carey Mulligan aus Promising Young Woman, die mit der stumpfen Schwanzsteuerung von Männern Schlitten fährt, hätte selbst hier wohl einige Zeit gebraucht, um ihren vor Erstaunen geöffneten Mund zu schließen. Doch es ist, wie es hier ist, und bedurfte zumindest bei mir eines zweiten Anlaufs, nach so vielen Tabubrüchen dennoch dranzubleiben.

Fazit: Es lohnt sich. Denn das Ganze erzeugt einen Topspin, dem man sich ungern entziehen will. Fresh ist eine so abstoßende wie faszinierende, zutiefst makabre Satire auf Körperwahn und männliche Dominanz, Missbrauch und sexueller Versklavung. Themen, die in einem 70er Jahre Grindhouse-Slasher als billig-perverse Blutoper für Magenverstimmungen gesorgt hätten. Mimi Cave und Drehbuchautorin Lauryn Kahn sind dieser Phase aber erhaben. Ihr Film hat Stil und trotz all der Verrohung enormen Anstand. Bei wohl kaum einem anderen Film der letzten Zeit trifft die Bezeichnung fancy wohl am ehesten zu wie auf diesen: das Grauen ist schick gekleidet, die Ausstattung akkurat und so penibel wie in American Psycho. Das Intellektuelle bringt das aalglatte Böse erst hervor, dass in einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit agiert. Sebastian Stan ist dafür wie geschaffen – er übertreibt nicht, und er gibt sich keinem charakterlichen Wandel hin wie in so manchen Thrillern, die dadurch enorm viel Plausibilität einbüßen. Das Juwel des Films ist aber die wirklich bezaubernde Daisy Edgar-Jones (Krieg der Welten), die hier ihr Spielfilmdebüt hinlegt und dabei – einer jungen Sissy Spacek ähnlich – in einer Mischung aus Furcht, Trotz und Esprit Mulligans Femme Fatale den Rang abläuft und die Herzen ihres gesamten Publikums gewinnen wird.

Mit ihrer Performance – und der innovativen, filmischen Erzählweise, die mit symbolhaften, kurios geschnittenen Bildcollagen die kluge Metaebene offenbart, schafft es Fresh, die Grenze des guten Geschmacks zu verschieben und mit genug spottender Coolness beängstigende männliche Vorlieben so zu konterkarieren, dass sie einem nichts mehr anhaben können.

Fresh

No Exit

MITGEHANGEN, MITGEFANGEN

3,5/10


noexit© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DAMIEN POWER

CAST: HAVANA ROSE LIU, DANNY RAMIREZ, DAVID RYSDAHL, DENNIS HAYSBERT, DALE DICKEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Schneechaos ist das Beste, was einem Thriller passieren kann. Gut, manchmal reicht auch Regen und Gewitter, denn bei so mieser Witterung will keiner wirklich aus dem Trockenen. In Drew Goddards Bad Times at the El Royale hat’s zumindest geschüttet wie aus Schaffeln, was Chris Hemsworth mit seinen blanken Brustmuckis nicht sonderlich gestört hat. Denn das Wetter ist die Stimmungskanone schlechthin. Da rücken die verbliebenen Insassen zusammen, auch wenn sich diese untereinander fremd sind. Keine Ahnung, was der oder die Einzelne schließlich im Schilde führt oder welchen Rattenschwanz an Lebensbeichten herumgeschleppt werden muss. In Quentin Tarantinos Hateful Eight ist das Schneechaos, ähnlich wie in vorliegendem Film No Exit, der Schraubstock für eine angespannte Gesamtsituation, in der sich alle auf Augenhöhe begegnen müssen – das Katz- und Mausspiel, sofern es eines geben soll, kann beginnen. 

Und ja, auch bei diesem Direct-to-Disney+-Thriller stehen die Zeichen auf Sturm. Wir befinden uns irgendwo auf dem Weg nach Salt Lake City, das heißt: Ex-Junkie Darby tut das, sie ist mit dem Auto unterwegs und will zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Blöd nur, dass ein Blizzard die Straße unpassierbar macht. Zurück in die Reha will Darby auch nicht, also bleibt ihr nur die Touristeninfo am Rande eines Waldes, weitab jeglicher Kontrollinstanz. Natürlich ist sie in dieser wohlig eingerichteten, mit allerlei Nationalparkinfos ausgestatteten Zuflucht nicht allein. Vier weitere Individuen harren besseren Zeiten entgegen. Ein älteres Ehepaar und zwei Mittzwanziger, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine pennt, der andere blickt verstohlen um sich, wagt dabei aber nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen. Doch so Freaks gibt’s immer, was soll da schon groß passieren. Der Breakfast Club für die Durchreise ist angerichtet, am besten, man verbringt die Zeit mit Kartenspielen – was die Anwesenden dann auch tun. Der Film wäre nicht aufregender als das Wetterpanorama geworden, wäre Darby nicht durch Zufall auf das entführte und gefesselte Mädchen in einem weißen Van gestoßen. Einer oder eine aus der Gruppe muss also Dreck am Stecken haben. Nur wer?

Wenn Darby ihr Geheimnis noch für sich behält und gute Miene zu bösem Spiel macht; wenn alle fünf um den Tisch sitzen und das dubiose Kartenspiel Bullshit spielen, dann hat das latent bedrohliche Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Den es aber auch wieder schnell verliert, so nach dem Motto: wie gewonnen, so zerronnen. Denn sobald klar wird, wer hier nun perfide genug ist, um ein unschuldiges Mädchen zu entführen, sackt die Spannungskurve nach unten. Vielleicht aber helfen ein paar Story-Twists, denn viel mehr ist angesichts des begrenzten Settings ja vielleicht gar nicht möglich. Irrtum – gerade in solchen Situationen lässt sich die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens ausreizen. Da wären aufgesetzte Wendungen wie diese hier, die offensichtlich nur dazu da sind, um kreatives Defizit zu kompensieren, gar nicht mal nötig. Man hätte den Faktor X noch durchaus weiter in die Spieldauer hineinnehmen können, doch die Mystery weicht einem trivialen Duell Gut gegen Böse, wobei hier niemand Wert legt auf plausible Charaktere, mit Ausnahme vielleicht von Havana Rose Liu, die als moralisches Zentrum ihre sozialen Defizite durch ritterliche Verzweiflungstaten ausgleicht. 

No Exit überrascht nicht, sondern bestätigt immer wieder die Vermutungen des Zuschauers. Der würde sowieso anders agieren, und das gleich zu Beginn. Doch da wäre aus Damien Powers Romanverfilmung ein Kurzfilm geworden. Na und? Vielleicht wäre der aber knackiger.

No Exit

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

Encanto

DAS MÄDCHEN OHNE EIGENSCHAFTEN

6,5/10


encanto© 2021 Disney. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: BYRON HOWARD & JARED BUSH

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): STEPHANIE BEATRIZ, JOHN LEGUIZAMO, MARIA CECILIA BOTERO, DIANE GUERRERO, JESSICA DARROW, ANGIE CEPEDA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Blut ist bei Disney immer dicker als Wasser. Kein Film, der nicht die eingeschworene Glückseligkeit der Familie zum Ziel hat, und wäre sie auch nur zu zweit. Es geht immer und rund um die Uhr um Familie, um dessen Wert, dessen Bedeutung, dessen Herrlichkeit. Dafür ist Disney gemacht – für Familien und dem Wunsch der Kleinen, mit der Elternschaft bald wieder ins Kino zu hirschen. Seit es Disney+ gibt, braucht es aber nicht mal mehr einen gemeinsamen Ausflug. Es reicht die häusliche Couch und ein ausreichend großes Fernsehgerät, um keines der liebevoll arrangierten Details aus der Animationsschmiede Disney (nicht Pixar!) zu verpassen. Mit Encanto, dem richtigen Familienfilm zur richtigen Familienzeit, präsentiert der Mauskonzern wieder in aller Farbenpracht ein metaphysisches Abenteuer, dass sich aber viel stärker an psychosoziale Inhalte der Pixar-Macher orientiert. Diesmal ist es keine Reise, keine Queste, kein Bestehen von Gefahren, währenddessen man ganz fest an sich selber glauben muss und schon haut alles hin. Encanto ist ein Film, der inhaltlich mitunter schwer greifbar ist, und der die ganz jungen wohl nicht tangieren wird, hätten die doch lieber wieder so einen knuffigen Pelzdrachen, der coole Sprüche schiebt.

Das gibt es heuer nicht, stattdessen eine Villa Kunterbunt in Kolumbien, zwischen Dörfern und grünen Bergen. Dieser magische Ort verdankt seine Exklusivität einer wundersamen Kerze, die seinerzeit der auf der Flucht befindlichen Familie Madrigal von wem auch immer zum Geschenk gemacht wurde. Alle Nachkommen haben von nun an außergewöhnliche Gaben, ganz so wie Die Unglaublichen, nur lokal verortet und ohne Superheldendress. Das reicht von Bärenstarke bis zum Blumenregen, und jedes der Kinder hat ihr eigenes Reich, in dem es tun und lassen kann, was es will. Nur Mirabel nicht. Die hat kein paradiesisches Zimmer, und auch keine Fähigkeit. Niemand weiß warum. Man könnte meinen: das hässliche Entlein. Doch hässlich ist sie auch nicht, sondern recht knuffig und klug und etwas nerdig. Sympathisch, ganz einfach. Und mit Erschaffung dieser natürlichen, burschikosen Figur haben die Character-Designer wieder ganze Arbeit geleistet. Mirabel dämmert bald, dass diese Superfähigkeiten ihren Preis haben. Und dass der Haussegen eigentlich schiefer hängt als gedacht, wobei sie selbst, wie andere behaupten, nicht unbedingt schuld dran sein muss. Sie forscht also nach – und stößt auf beunruhigende Geheimnisse, deren Ursprünge zwei Generationen zurückliegt.

Ein Familienfilm? Wohl eher eine therapeutische Familienaufstellung. Da ist Oma, ihre Kinder (eines davon verstoßen) und die Enkelinnen. Gemäß der heutigen Zeit ist ein Kind wohl nichts, wenn es nicht in ihren Begabungen gefördert wird. Da wollen die Eltern nichts verpassen und dem Nachwuchs das ermöglichen, was sie womöglich selber nie hatten. Das ist ein Leistungsdruck, der nach hinten losgehen kann. Ungefähr so wie in Encanto. Magie hin oder her – diesmal können die Esel, Tapire und Capybaras noch so witzig dreinschauen; diesmal kann das kunterbunte Häuschen noch so mit den Kacheln klappern – was Encanto anstrebt, ist die Suche nach dem Besonderen im Charakter des einzelnen, und die Abkehr von dem, was man leisten muss, nur weil man es vielleicht gut kann. Ein Ansatz, der überraschend ernsthaft und ehrlich daherkommt, den die zum besten gegebenen Musiknummern auch gebührend unterstreichen, ohne zum Selbstzweck zu verkommen. Disney schaut also von Pixar ab? Natürlich, warum nicht. Ein bisschen mehr Konsequenz vor allem in der finalen Szene hätte aber nicht geschadet, doch da hat Disney dann doch nicht weniger als mehr gelten lassen. Die Magie hat wie immer das letzte Wort. Wäre das aber nicht passiert, hätten wir ein kleines Meisterwerk gehabt.

Encanto

Jungle Cruise

ALLES IM FLUSS

6/10


junglecruise© 2021 The Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JAUME COLLET-SERRA

CAST: EMILY BLUNT, DWAYNE JOHNSON, JESSE PLEMONS, JACK WHITEHALL, ÉDGAR RAMIREZ, PAUL GIAMATTI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Damals, am Amazonas – das war was. Ausgehend von Manaus, ging es vor einigen Jahren im Rahmen einer Fototour zu den rosa Flussdelphinen, die auch im Abenteuer Jungle Cruise aus dem Wasser hechten. Ein unvergessliches Erlebnis. Was man auch nicht vergisst, ist die sagenhafte Hitze, kombiniert mit extremer Luftfeuchtigkeit. Der Schweiß tritt aus allen Poren, schon bei der kleinsten Bewegung. Und ja, auch Emily Blunt und Konsorten müssen ab und an darunter leiden. Dwayne Johnson nicht so, der ist das gewöhnt, betreibt er doch schon seit geraumer Zeit Sightseeing mit Touristen. Doch diesmal soll alles ganz anders kommen, denn die Figur von Emily Blunt – ein gewisser weiblicher Indiana Jones in khakifarbenen „Buxen“ – ist auf der Suche nach einer extrem seltenen Blüte, die jede nur erdenkliche Krankheit, so sagt man, heilen kann (womöglich auch Covid-19). Sie ist aber nicht die einzige, der diese Entdeckung gelingen will. Auch ein Deutscher namens Prinz Joachim ist mit seinem U-Boot alsbald in Brasilien eingetroffen, um dem knorrigen Schifflein von Captain Frank hinterherzujagen.

Klingt tatsächlich nach Steven Spielbergs abenteuerliche Eskapaden mit Harrison Ford. War‘s dort die Bundeslade, der heilige Gral oder die Kristallschädel der Aliens, ist es diesmal der Benefit einer bescheidenen Natur, die glatt den Medicine Man auf den Plan gerufen hätte. Jungle Cruise schippert im gleichen Fahrwasser wie Indiana Jones, erreicht aber keineswegs die kultgewordene Klasse des schlapphuttragenden Archäologen. Da braucht es schon ganz andere Autoren, die sich nicht unbedingt auf eine legendäre Attraktion aus Disneyland beziehen müssen. Gut, dieses narrative Schicksal hatte Pirates of the Carribean ebenso zu verarbeiten, doch das Script war da deutlich besser – zumindest, was den ersten Teil anbelangt. Wir wissen, wohin das in den Sequels geführt hat. Jungle Cruise hinkt plotmäßig schon mit seinem Einstand hinterher. Da kann Dwayne Johnson noch so der knuffige Hüne sein und Emily Blunt noch so der Rolle von Catherine Hepburn aus African Queen nacheifern – beiden sieht man an, dass ihnen nicht viel freies Spiel bleibt. Sie sind Teil einer durchgetakteten Großproduktion, die artig ihre marketingrelevanten Hausaufgaben gemacht hat und nichts dem Zufall überlassen will.

Ich höre die Verantwortlichen für dieses Projekt bei Disney förmlich reden. Wie sie Bezug nehmen auf das Fluch der Karibik-Franchise, welches, von vorne bis hinten nachanalysiert, gerne als Schablone dienen darf für einen ganz anderen Publikums- und Besucherliebling – nämlich für die Kreuzfahrt durch den Dschungel. Und dabei passiert, was Filme wie diese so austauschbar macht: sie sind nach gewissen, immer gleichen Erfolgsformeln inszeniert, sind punktgenau auf Statistiken abgeschmeckt und fühlen sich in ihrer Kalkulation enorm sicher. Was dabei rauskommt, ist vorhersehbar. Was dabei entsteht, sind szenische Attraktionen, die eher holprig miteinander verknüpft sind. Es lässt sich sowohl Jack Sparrow als auch Humphrey Bogart in Dwayne Johnsons Figur wiedererkennen, es lassen sich gar einige wiederkehrende Motive aus der Karibik-Reihe entdecken, die etwas deplatziert wirken, aber was sich nicht entdecken lässt, ist ein Gefühl für Spontanität. Der Fluch des Amazonas sieht ja recht pittoresk aus, doch gleichermaßen wenig inspirierend. Manchmal ist es auch zu viel CGI, insbesondere das penetrante Geblühe am Rande des Dschungels. Das mag zwar für verwöhnte Park-Abenteurer eine gefällige Wildnis sein, doch kommt ihr der Ehrgeiz abhanden, rau, gefährlich und unberechenbar zu sein.

Der Durchbruch gelingt Jungle Cruise als atemberaubendes Sommer-Event nicht so wirklich. Für eine Schifferlfahrt durchs Disney-Bilderbuch mit grundlegend sympathischen Schauspielern kann man aber getrost mit an Bord gehen. Allerdings mit dem Gefühl, dass alles nur Programm ist.

Jungle Cruise

Luca

DIE FARBEN DES SOMMERS

7,5/10


luca© 2021 The Walt Disney Company / Pixar


LAND / JAHR: USA, ITALIEN 2021

REGIE: ENRICO CASAROSA

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): JACOB TREMBLAY, JACK DYLAN GRAZER, EMMA BERMAN, MAYA RUDOLPH, MARCO BARRICELLI, JIM GAFFIGAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Mit dem Licht kommen die Farben. Welche das sind, kommt nur auf die Brechung an. Geht die Sonne auf, wird’s so richtig bunt. Wenn der Helium-Wasserstoff-Ball vom fetzblauen Himmel strahlt, und sich nur weit am Horizont harmlose, weiße Wölkchen sammeln, lohnt es sich, ein Hawaiihemd überzuziehen, dazu knallige Badeshorts und grelle Flip-Flops. Es würde aber auch genügen, das brandneue Werk von Pixar zu streamen, das selbst dann für einen Farbenrausch sorgt, wenn sich draußen mal die Wolken ballen. Luca, so nennt sich der neue Saisonknüller, zelebriert nicht nur den Sommer, sondern auch und gerade den Urlaub am Meer. Vorzugsweise im von den Römern so treffend bezeichneten Mare Nostrum. Und welches Land darf wohl – nebst Griechenland – als Inbegriff des zweiwöchigen Familienurlaubs gelten, am Liebsten per Anreise mit dem hauseigenen Vehikel? Natürlich – Italien. Azurblaues Wasser, ein mildes Lüftchen, eine salzige Brise von weit draußen. Sonnenuntergänge und -aufgänge en masse. Vicco Torriani könnte da mit den Capri-Fischern auf den Lippen als animierter Revival-Star um die nächste Ecke biegen und den rustikalen Dorfplatz eines kleinen, beschaulichen Fischerstädtchens überqueren. Das alles fühlt sich nach leichtem Leben an, lockt zum Aussteigen, wie seinerzeit Erwin Steinhauer, Heinz Petters und Co, die mit adrettem Schinakel der Sonne entgegen plätscherten.

In dieser herrlich anmutenden, knallfarbigen Welt darf das Geheimnisvolle aber ebenfalls nicht fehlen. Der Knabe Luca, dessen Abenteuer wir hier sehen, ist schließlich kein gewöhnlicher Junge. Er ist ein Wasserwesen. Auch seine Eltern sind das, und natürlich die Omi. Als Fischhirte auf submarinen Wiesen träumt er allerdings, seiner Neugier nachzugeben und das mysteriöse Land jenseits des Meeresspiegels zu entern. Erlaubnis hat er dafür keine. Aber was soll’s – Kinder sind Entdeckernaturen. Unter dieser intrinsischen Motivation zufolge findet sich Luca plötzlich am Strand wieder – verliert seine fischige Physiognomie und sieht plötzlich aus wie ein ganz normaler Bursche. Dabei lernt er seinen besten Freund kennen – Alberto. Beide wiederum treffen auf Giulia, eine rothaarige Außenseiterin, die alles gibt, um beim diesjährigen lokalen Triathlon so richtig abzuräumen. Der besteht aus Schwimmen, Spaghetti futtern und radeln. Luca und Alberto sind mit dabei – wollen sie sich doch mit dem Preisgeld eine Vespa erstehen.

Enrico Casarosa, kreatives Mastermind hinter Filmen wie Robots, Ice Age oder Oben, verneigt sich bis zu den sandigen Zehenspitzen vor der Blütezeit des italienischen Kinos. Es sind Werke wie jene mit Marcello Mastroianni und Sophia Loren. Es sind die so tragikomischen wie üppigen Märchen eines Federico Fellini. Es ist das melancholische Lebensgefühl eines entschleunigten, analogen 20. Jahrhunderts, mitsamt aufbrausendem Temperament. Dabei sind all die Figuren und das Drumherum wiedermal, wie für Pixar üblich, in ihren Charakterzügen durchdefiniert und bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Die Rolle von Giulias Vater sticht dabei ganz besonders ins Auge – ein brummiger, aber gutherziger, einarmiger Fischer mit den dichtesten Augenbrauen der Filmgeschichte. Nicht zu übersehen auch die Figur des kecken Widersachers Visconti. Vom Scheitel bis zur Sohle, inklusive Gesten, Haltung und Mimik – so karikiert man auf augenzwinkernde Weise überhebliches Nationalgefühl.

Das ist aber längst nicht alles, was Casarosa mit seiner Gezeitenkomödie ausdrücken will. Hinter den „bedrohlichen“ Fremden, die aus dem Wasser kommen, lässt sich unschwer jene sozialpolitische Krise erkennen, die in den letzten Jahren unter anderem eben auch die Küsten und Inseln Italiens betroffen hat. Dabei wird der in Luca aus der Luft gegriffene Umstand der Xenophobie auf volkstümliche Weise hinterfragt und im Sinne eines gewaltfreien Miteinanders auf lässige Weise für nichtig erklärt. Das Andere kann bereichernd sein, verliert aber dadurch, dass es sich anpassen kann, nichts an seiner Identität. Luca entwickelt somit aus dem auch für heiße Kopfwehtage geeigneten, simplen Plot farbenfrohe, lebensbejahende Botschaften.

Luca