Köln 75 (2025)

DER PIANIST UND DAS MÄDCHEN

7/10


© 2025 Alamode Film / Wolfgang Ennebach

LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, POLEN, BELGIEN 2025

REGIE / DREHBUCH: IDO FLUK

CAST: MALA EMDE, JOHN MAGARO, MICHAEL CHERNUS, ALEXANDER SCHEER, ULRICH TUKUR, JÖRDIS TRIEBEL, LEO MEIER, SHIRIN LILLY EISSA, ENNO TREBS, LEON BLOHM, DANIEL BETTS, SUSANNE WOLFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Sei ruhig, Fließbandbaby – diesen im Sprechgesang vorgetragenen Song aus den späten Sechzigern legt Regisseur Ido Fluk gleich einer ganzen Gruppe junger Wilder buchstäblich in den Mund. Die Politrock-Band Floh de Cologne durfte damals ihrer Zeit weit voraus gewesen sein, denn die Neue Deutsche Welle etablierte sich erst mit Mitte der Siebziger. Diesen musikalischen Sonderling greife ich deshalb auf, weil er die eigentliche Prämisse dieses Films treffend intoniert, schließlich handelt das musikalische Werk von weiblicher Unterwürfigkeit, dem Patriarchat und der gesellschaftlichen, starren Ordnung, wonach die Frau hinter den Herd oder wenn nicht, dann zumindest etwas Gescheites lernen soll. Auch wenn es die Jungen nicht wollen: Als Fließbandbaby muss man still sein. Und tun, was sich gehört. Wäre das passiert, hätte sich Vera Brandes den starren Dogmen ihres Vaters unterworfen, wäre das Ereignis, welches unter Kennern gemeinhin als The Köln Concert bekannt ist, nie in die Musikgeschichte eingegangen.

Wer ist denn nun diese Dame, die von Mala Emde so emsig und mit Hummeln im Hintern verkörpert und in den späteren Jahren von Susanne Wolff gespielt wird, die ihrem Vater nichts mehr zu sagen hat, außer dass dieser ein Arsch gewesen sein mag? Vera Brandes dürfte wohl weniger ein Begriff sein als Frank Farian – letzterer war immerhin Musikproduzent und verantwortlich für das Milli Vanilli-Desaster. Brandes wiederum, mit blutjungen 18 Jahren, hat damals, Anfang der Siebziger, im Konzertmanagement Blut geleckt. Begonnen hat das Ganze mit dem Organisieren kleinerer Gigs irgendwelcher Jazzmusiker, die man heute kaum mehr kennt. Brandes durfte schnell gelernt haben, wie man andere Leute davon überzeugt, ihren Künstlern die Bühnen zu überlassen. Im Jänner 1975 dann die große Nummer: Der Jazzpianist Keith Jarrett hat vor, in Köln eines seiner ungewöhnlichen, einzigartigen Improvisationskonzerte zu geben. Was das heisst? Keiner weiß, nicht mal Jarrett selbst, was an diesen Abenden wirklich passieren wird. Der verschrobene Musiker, der sich vor dem ersten Tastenschlag mal minutenlang einkrampft, um die kreative Mitte zu finden, führt den Free Jazz bis zum Exzess, und zwar im Alleingang. So einen Typ muss man erst mal zufriedenstellen, und das beginnt bei dem richtigen Konzertflügel.

Köln 75 beweist wie Girl You Know It’s True, dass nicht allzu gegenwartsferne Entertainment-History ein Subgenre darstellt, welches das deutsche Kino etwas überspitzt gesagt gnadenlos gut beherrscht. Beide Filme sind auf ihre Weise mitreißend, bei Köln 75, welcher auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, ist der Charakter der Vera Brandes allerdings jemand, der sich eher austauschen ließe als ein Egomane wie Frank Farian. Brandes ebnet zwar den Weg für Jarretts großen Auftritt – dennoch ist es letzterer, der, dargestellt von John Magaro (zuletzt gesehen in September 5), das tiefgreifende Kernstück eines Musikfilms ausfüllt, der mehr sein darf als das. In dieser mittleren Sequenz, in der Mala Emde gar keinen Auftritt hat und die sich ausschließlich auf die Anreise Jarretts im klapprigen Automobil vom Lausanne nach Köln konzentriert, erfährt der Zuseher die mit starken Akzenten skizzierte Charakterstudie eines genialen Exzentrikers – oder exzentrischen Genies. Im Grunde hätte Köln 75 ein szenisches Biopic wie Like A Complete Unknown werden können, nur noch eng gefasster, fokussierter. Drumherum aber haben wir Mala Emdes immerhin hinreißende Performance, deren Figur aber oberflächlicher bleibt als womöglich vorgesehen. Doch ohne Brandes kein Köln-Konzert, und ohne Köln-Konzert kein Film. Am Ende wird der aufgeweckt erfrischende Streifen mit biografischer Tiefe zum hechelnden Thriller rund um egomanische Überheblichkeit, Flexibilität und Improvisation. Vor allem letzteres erfährt eine mehrheitliche Deutung und beweist wieder einmal, dass nur das Unvorhergesehene wirklich großes bringt. Und das Große niemals kalkulierbar sein kann.

Köln 75 (2025)

Hagen – Im Tal der Nibelungen (2024)

EIN HELDENMÖRDER ERHEBT DIE STIMME

7/10


hagen© 2024 Constantin Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2024

REGIE: CYRILL BOSS & PHILIPP STENNERT

DREHBUCH: CYRILL BOSS, PHILIPP STENNERT, DORON WISOTZKY

CAST: GIJS NABER, JANNIS NIEWÖHNER, DOMINIC MARCUS SINGER, LILJA VAN DER ZWAAG, ROSALINDE MYNSTER, ALESSANDRO SCHUSTER, JOHANNA KOLBERG, JÖRDIS TRIEBEL, JÖRG HARTMANN, BÉLA GABOR LENZ, EMMA LOUISE PREISENDANZ U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Was für Großbritannien die Artus-Sage, ist für Kontinentaleuropa wohl die Urmutter aller Königsdramen: Die Nibelungensage. Doch anders als in der griechischen Antike sind die nordischen Götter nicht ganz so präsent und lenken die Schicksale der Sterblichen, sondern schicken uralte Wesen in eine nicht näher verankerte historische Realität, die zwischen Attila dem Hunnenkönig und dem Niedergang der Burgunder angesiedelt ist. Es sind dies Drachen, Zwerge, Walküren. In diesem metaphysischen Dunst aus Legende und geschichtlichen Fun Facts streiten Siegfried, der Universalheld, später missbraucht durch den Nationalsozialismus als germanische Symbolfigur, und Hagen, der fiese Recke, angestachelt durch die betrogene Walküre Brunhild, um Gunst und Ansehen. Das Regieduo Cyrill Boss und Philipp Stennert, die sehr erfolgreich Julia Jentsch und Nicholas Ofczarek als ungleiches Ermittlerduo in Der Pass mit dem Grauen in den Alpen konfrontierten, wollen dem Parade-Antagonisten mit der Augenklappe nicht die Origin-Story eines Finsterlings angedeihen lassen. Hagen von Tronje soll rehabilitiert werden, soll sagen und zeigen können, was ihn letztlich bewegt haben soll zu dieser schrecklichen Tat, nämlich Siegfried den Speer in den Rücken zu rammen, genau dorthin, wo das Lindenblatt die sonst durch Drachenblut unverletzbar gewordene Haut undurchdringbar machte. Vielleicht aber war zwar nicht alles, aber vieles ganz anders?

Fantasy-Autor und Vielschreiber Wolfgang Hohlbein, der „Konsalik“ der fantastischen Literatur, hat mit Hagen von Tronje die Vorlage für einen Film geliefert, den kaum mehr etwas mit Richard Wagners getragenem Opern-Bombast oder Fritz Langs Stummfilmversion verbindet. So sehr die nihilistische Sage der Nibelungen die ganze dunkle, große Tragödie heraufbeschwört und im Grunde den gesamten Cast über die Klinge springen lässt, so leicht kann das Drama aus Intrige, Verrat und Rache im Zuckerwasser der Schwülstigkeit versinken, kann der wildromantisch-mittelalterliche Ritterfest-Kitsch sintflutartig über sein Publikum hereinbrechen. Vieles könnte schiefgehen bei einem relativ frei interpretierbaren Stoff wie diesem, der politisch längst instrumentalisiert wurde. Zum Glück haben Boss und Stennert genug Inspiration genau dort gesammelt, wo das magische Mittelalter, und sei es auch noch so sehr nicht von dieser Welt, erwachsen wurde: Game of Thrones. Der mehrstaffelige Straßenfeger wird zum Musterbeispiel, wie geerdet, straff und schnörkellos Königsdramen inszeniert werden können. Auch Vikings oder The Last Kingdom – Formate, die historisch nicht akkurat, aber dramaturgisch und visuell enorm innovativ vom frühen Mittelalter im Norden Europas berichten – beeinflussen nun auch das Kino Deutschlands. Hagen – Im Tal der Nibelungen gefällt sich in moderater Düsternis, erdigen Bildern und vor steingrauen Kulissen. Entschmückt, entkitscht und dem Fantastischen zugeneigt, findet das Regieduo im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte Bilder für diesen uralten Stoff, ihr Höhepunkt gipfelt in der Darstellung der isländischen Walküren und deren Festungen – internationalen Vorbildern steht die Bildwelt dieses Streifens um nichts nach.

Sind Setting und Ausstattung mal auf der Habenseite, gibt Hagen – Im Tal der Nibelungen den ikonischen Figuren stets die passenden Gesichter. Gijs Naber verkörpert das titelgebende Schwergewicht so selbstsicher, da kann kommen was will. Als Konterpart und Sparringpartner: Jannis Niewöhner als eine erfrischend unpathetische Interpretation eines ambivalenten Haudraufs, der durch Intuition seinen Status sichert. Das strahlende Licht, dass Siegfried im Laufe der Kulturgeschichte immer mit sich brachte, ist hier nun erloschen. Umgekehrt weicht die Finsternis allerdings auch von Hagen, beide Charaktere werden in ein graues, altes Licht getaucht, dass Zwerg Alberich als geheimnisvolle Spukgestalt zu erklären versucht. Kriemhild, Brunhild, selbst König Gunter: Auch da gelingt das Casting einwandfrei.

Kritik muss sich Hagen – Im Tal der Nibelungen vielleicht dahingehend gefallen lassen, dass der Film einige Zeit benötigt, um erst so richtig in die Gänge zu kommen. Verhalten und zaghaft öffnet sich die Büchse der Pandora der Burgunder, Längen schleichen sich ein. Man merkt auch eines: Hagen – Im Tal der Nibelungen will beides – als Serie und als Film funktionieren. Ein kniffliger Spagat, denn beide Medien verlangen unterschiedliche Konzepte. 2025 soll aus diesem Film hier eine sechsteilige Serie werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese noch besser funktionieren wird als auf der Leinwand. Denn ein Kinofilm ist das Sagen-Schmuckstück zumindest nicht in erster Linie, auch wenn es einen Bildersturm entfesselt, der für den Homescreen fast zu schade ist. Eine Sehnsucht, die auch Game of Thrones ertragen musste.

Hagen – Im Tal der Nibelungen (2024)

Blood & Gold (2023)

EIN WESTERN AUS DEM WELTKRIEG

5/10


BloodAndGold© 2023 Netflix Österreich / Reiner Bajo


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE: PETER THORWARTH

BUCH: STEFAN BARTH

CAST: ROBERT MAASER, MARIE HACKE, ALEXANDER SCHEER, SIMON RUPP, JÖRDIS TRIEBEL, CHRISTIAN KAHRMANN, STEPHAN GROSSMANN, JOCHEN NICKEL U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Schon die längste Zeit versteht Peter Thorwarth das Handwerk des Filmemachens, bereits 1999 entstand unter seiner Regie die mittlerweile doch schon als moderner Klassiker verehrte Actionkomödie Bang Boom Bang. Die Liaison mit Netflix hingegen ist noch relativ jung und hatte seinen Einstand mit der originellen Mischung aus Vampir-Horror, Katastrophenfilm und Actionthriller: Blood Red Sky. So wirklich in Erinnerung blieb dabei auf alle Fälle Peri Baumeisters zum blutdürstenden Dämon verändertes Äußeres, dass den Vampiren aus Brennen muss Salem oder gar dem guten alten Nosferatu sehr nahekam. Das alles ist handwerklich gut gemacht, das muss man sagen, doch eine vielbefahrene Piste, auf welcher das Flugzeug letztlich landen musste. In seinem neuen, auf den Fantasy Filmfest Nights  erstmals gezeigten Reißer Blood & Gold fließt zwar auch jede Menge Körpersaft, doch die Ursache dafür hat keinen paranormalen Ursprung mehr. Peter Torwarth dreht die Zeit zurück bis zu den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945.

Irgendwo auf den Wiesen Deutschlands rennt ein Deserteur um sein Leben, der genug davon hat, die Gräueltaten der ohnehin schon gelieferten Meute an Nazi-Schergen weiter zu unterstützen. Überhaupt entsprach diese Geisteshaltung von Anfang an schon nicht seiner Wahrnehmung von der Welt, aber immerhin: besser spät als nie die Reißleine ziehen. Klar, dass das Obersturmbannführer von Starnfeld (Alexander Scheer, Gundermann) nicht gutheißen will und ihn aufknüpfen lässt. So baumelt er am Strick, als Bäuerin Elsa den halbtoten Soldaten befreit. Natürlich freunden sich beide an, während die für etwaige Partnerschaften altersmäßig gut geeignete junge Frau und ihr behinderter Bruder den Blondschopf wieder aufpäppeln. Gerade zur rechten Zeit, denn von Starnfelds marodierende Gang taucht wieder auf, um den Bauernhof auszuplündern. Es kommt, wie es kommen muss: Bevor es richtig unschön wird, muss Heinrich aus seinem Versteck, um Elsa beizustehen. Womit die eigentliche Story erst so richtig beginnt. Und die Sache mit dem Gold nur so nebenbei auch nochmal Erwähnung findet. Denn in der nahen Kleinstadt, da gibt’s was zu holen. Nur wo, ist die Frage. Und wer hat es?

Der (Welt)krieg und das unverwechselbare Edelmetall sind schon des Öfteren Synergien eingegangen, die zu Filmen wie Stoßtrupp Gold, Three Kings oder eben jüngst zum finnischen Exploitation-Actioner Sisu geführt haben. Für diesen Streifen hat Jalmari Helander genau gewusst, wo er den Genremix bedienen muss, um knackiges Abenteuerkino mit Blutverlust schwer unterhaltsam anzulegen. Peter Thorwarth sitzt da nicht so fest im Sattel. Womit wir beim Genre des Westerns wären. Denn Thorwarth, der lässt seine Goldsuche im Stile einer Pferdeoper vorangaloppieren, auch diesmal wieder auf gern frequentierten Pfaden. Dabei variiert er weder die gängigen Versatzstücke, die gerne verwendet werden, um Halfter-Schurken, die aussehen wie SS-Finsterlinge, darzustellen – noch lässt sich ein ehrgeiziges Bemühen erkennen, seinen für Rache und Gerechtigkeit kämpfenden Protagonisten mehr Charisma zu verleihen als nur irgend nötig. Robert Maaser als Deserteur Heinrich, dem jegliches noch so kleine Quäntchen an Humor oder gar Selbstironie fehlt, wirkt dadurch nicht gerade durch welche Ideale auch immer inspiriert. Auch Maria Hacke als Elsa setzt ihre Rolle viel zu farb- und freudlos an. Von Jördis Triebel ganz zu schweigen. Scheer wiederum ist das wandelnde Klischee eines grotesken Nazi-Monsters. Am besten ist immer noch Simon Rupp: der Bruder, der sich um die Milchkuh schert und dann zu den Waffen greift, ist der geheime Star des Films. Nichts anderes spiegelt dort so sehr die Wut an den beschämenden Verbrechen wider, die das Hitler-Regime damals ausgeübt hat.

Wenn man davon absieht, dass die mit den Ohrwürmern Zarah Leanders und Co unterlegten, recht solide inszenierten Actionszenen tatsächlich Spaß machen, bleibt von Blood & Gold nicht sehr viel übrig, was wirklich einen gewissen Erinnerungswert haben könnte. Manieristisch, formelhaft und bar jeglicher Satire geht die dunkle Ära der Nazis wiedermal zu Ende.

Blood & Gold (2023)

Das schweigende Klassenzimmer

MUT ZUM UNGEHORSAM

8/10

 

DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER© 2017 STUDIOCANAL GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: LARS KRAUME

CAST: LEONARD SCHEICHER, ISAJAH MICHALSKI, ANNA LENA KLENKE, BURGHART KLAUSSNER, JÖRDIS TRIEBEL U. A.

 

Da herrscht einmal absolute Ruhe im Klassenzimmer, zur Freude frontalunterrichtender Lehrkräfte, und dann ist dieser Umstand auch wieder nicht in Ordnung. Wie denn nun? Auf Fragen jenseits des Pults in Richtung Schüler folgt ebenfalls keine Antwort. Jetzt wird es dann doch etwas seltsam, und das Ganze lässt sich nur mit gezieltem, absichtlichem Schweigen erklären. Gut, das kann man ja machen, zumindest heutzutage, in Gedenken an jemanden oder etwas, an einen ganz speziellen geschichtlichen Moment oder eben als Auflehnung. Die gegenwärtige Meinungsfreiheit duldet sowas, einer auffordernden Disziplin zum Trotz. Damals aber, in den 50er Jahren in Ostdeutschland, hinter dem Eisernen Vorhang und unter der Kuratel einer radikal-sozialen Exekutive, da ist ein Schweigen wie dieses der Anfang von etwas Bedrohlichem, zumindest für all die Genossinnen und Genossen, die da hinter ihren Schreibtischen aufpassen müssen wie die Haftelmacher, um Staatsfeinde oder staatsfeindliches Gehabe im Keim zu ersticken. Dumm nur für die Stasi, dass gerade zu diesem Zeitpunkt andernorts hinter den Stacheldrähten, Hämmern und Sicheln gerade der verlockende Aufstand geprobt wird. Genauer gesagt in Ungarn, wo bewaffnete Studenten gerade dabei sind, das kommunistische Regime zu stürzen. Solche Breaking News, wie sie aus dem ehemaligen Sissi-Königreich quer durch Europa hinausposaunt werden, die bleiben natürlich selbst in der abgeschotteten DDR nicht ungehört. Vor allem nicht, wenn jemand die Frequenz des „Feindes“ empfangen kann, womit der unmoralische Westen gemeint ist, und mit dem hier im Osten bei aller Freundschaft keiner was zu tun haben will. Wirklich nicht? Der gebildete Nachwuchs wird da hellhörig. Die Oberstufler und Intellektuellen, die haben ihre eigene Meinung, sind aber immer noch junge Wilde, die sich in ihrem Übermut und grünohrigem Enthusiasmus für eine Sache solidarisieren, für die es in einer Gesellschaft wie dieser zu dieser Zeit und an diesem Ort keinerlei Verständnis gibt.

1956 hat sich in einer Schule im damaligen Stalinstadt dieser im Film beschriebene Fall tatsächlich ereignet. Man könnte jetzt natürlich so etwas Ähnliches behaupten wie: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch. Die „jungen Wilden“, die das Ausmaß der latenten Bedrohung und der totalen Überwachung noch längst nicht ganz begriffen haben, waren zumindest fähig, die Welt um sie herum mit ihren eigenen Gedanken zu begreifen und so ein autarkes Gefühl für Gerechtigkeit, Moral und Humanismus zu entwickeln. Dabei stellt sich die Frage, wie denn all die Abiturienten überhaupt so ein selbstständiges Denken entwickeln konnten. Dazu muss man deren Elternhäuser näher betrachten, das soziale Umfeld, und bei manchen der jungen Querdenker lässt sich geheimes, wenn auch passives liberales Denken bei zumindest einem Teil der Erziehenden erahnen. Bei manch anderen wundere ich mich, doch letzten Endes ist es dann diese ungeplante Gruppendynamik, die einen Stein ins Rollen bringt, der das Konzept einer Zukunft aller Beteiligten radikal zerfetzt. Das ist in diesem als naiven Streich deklarierten, zweiminütigen Statement natürlich erstmal überhaupt nicht vorgesehen. Der trotzige Widerstand des gemeinsamen Akts wird zu einem aufwühlenden Drama des Bekennens, an dem nicht nur einige wenige daran verzweifeln werden.

ÜBER DIE SAAT DES UMBRUCHS

In Michael Haneke´s sozialpolitischem Psychogramm Das weiße Band waren die Auslöser für erstarkenden Terrorismus in einer vom Patriarchat geführten, diktatorischen Straferziehung einer Kindheit zu finden, die gar nicht anders kann als sich irgendwann aufzulehnen. In Das schweigende Klassenzimmer von Lars Kraume, einem Spezialisten für politische Visionen, Utopien und Sympathisant unbequemer Vernunftdenker (u. a. Der Staat gegen Fritz Bauer), ist die Saat für eine irgendwann in ferner Zukunft hinwegfegenden Revolution das individuelle Verständnis von Freiheit, Glück und der Menschenrechte. Die Klasse der Konterrevolutionäre, wie sie von Volksbildungsminister Lange (von erschreckendem Fanatismus: Burghart Klaußner) bezeichnet und damit gebrandmarkt wird, die nimmt den Weg eines in alle Einzelteile zerfallenden Niedergangs aus erzwungenem Verrat, Solidarisierung und Eifersucht bis hin zum Amoklauf und der Flucht in den Westen. Das schweigende Klassenzimmer ist ein so faszinierendes wie packendes Schülerdrama irgendwo zwischen Der Club der toten Dichter, Torberg´s Der Schüler Gerber und Philip Roth´s Empörung, nur mit einer deutlicheren politischen Stellungnahme, die seine Figuren aber keineswegs heroisiert, sondern eine zutiefst menschliche, psychologisch genaue Studie über den Unterschied zwischen eigenem und fremden Gedankengut, zwischen sehnsüchtiger Ideale und aufoktroyierter Ideologien formuliert. Kraume´s Film ist hervorragend erzählt, hätte aber womöglich längst nicht so eine Wirkungskraft, wenn Nachwuchsschauspieler wie Leonard Schleicher und Isaiah Michalski nicht so dermaßen aus sich herausgehen würden und spielen, als wären sie wahrhaftig Teil dieses erdrückenden Systems und dieser fatalen Situation. Michalski, der den labilen, zweifelnden Paul darstellt, und später mit der erschütternden Wahrheit über seinen Vater konfrontiert wird, agiert mit einer Intensität, der sich keiner entziehen kann. Überhaupt ist es, als befände man sich selbst in dieser Klasse, als wäre man selbst verantwortlich für diese Dilemma einer realen Dystopie, die zwar schon seit fast 30 Jahren Geschichte ist, in ihrem Totalitarismus aber jederzeit wieder hervorbrechen kann, in anderem Gewand, unter anderem Vorwand und an anderen Orten. Die Gedanken sind frei, und dann ist Schweigen mehr als tausend Worte wert.

Deutschland hat in diesem Jahr einen guten Lauf, was die Aufarbeitung der eigenen Geschichte betrifft – Das schweigende Klassenzimmer ist schon jetzt in seiner Brisanz und dem Mut zum Ungehorsam einer der denkwürdigsten deutschen Filme, die vor nicht mal einem halben Jahrhundert in manchen Teiles des Landes noch verboten gewesen wären.

Das schweigende Klassenzimmer