SPRITZTOUR MIT DEM PEINIGER
6/10
© 2025 Mubi
ORIGINALTITEL: IT WAS JUST AN ACCIDENT
LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2025
REGIE / DREHBUCH: JAFAR PANAHI
KAMERA: AMIN JAFARI
CAST: VAHID MOBASSERI, MARIAM AFSHARI, EBRAHIM AZIZI, HADIS PAKBATEN, MAJID PANAHI, MOHAMAD ALI ELYASMEHR U. A.
LÄNGE: 1 STD 45 MIN
So geht Festivalstress: Gerade noch bei Richard Linklater in einem schwarzweißen Paris der Sechziger verweilend, finde ich mich nun im Iran der Gegenwart wieder. Es ist Nacht, eine Familie fährt mit dem Auto nach Hause, im Radio dudelt lokale Popmusik, der Vater ist genervt, die Mutter schwanger. Dann ein Holpern, irgendwas hat die Straße gequert, ein Hund womöglich, oder irgendein Tier. Alle sind von der Rolle, die kleine Tochter verstört, der Vater nimmt es hin, völlig unreflektiert. Die Mutter meint dazu nur: It was just an Accident.
Die Sache mit der Eigenverantwortung, mit dem Mitleid, mit Konsequenzen, die man selbst verschuldet – sie spiegelt sich in dieser Eingangssequenz mehr als deutlich wieder. Der einfache Unfall hat jedoch auch das Auto ramponiert und muss in die Werkstatt. Mechaniker Vahid schert der Motorschaden wenig, fährt ihm doch der Schreck in die Glieder, als er seinen ehemaligen Peiniger wiedererkennt – einen Mann mit Prothese, die beim Aufsetzen ein quietschendes Geräusch macht. Genau das ertönt in brennender Schrecklichkeit in den Ohren und im Geiste des völlig verstörten Mannes, der nun seine Chance gekommen sieht, um sich zu rächen. Die Krux an der Sache ist: Vahid weiß nicht, wie sein Peiniger ausgesehen hat, er kennt nur das Quietschen der Prothese. Bevor er den winselnden Mann, den er später kidnappt und töten will, lebendig begräbt, kommen ihm dann doch Zweifel. Er packt den Familienvater, der seine Unschuld beteuert, wieder in den Kofferraum seines geliehenen Vans und holt sich die Meinungen anderer Regimeopfer ein, die mit ihm gemeinsam damals in Gefangenschaft gerieten.
Was anfängt wie ein geradliniger Rachethriller, wird zur tragikomischen, konfliktreichen Autofahrt, während jener die Schar der rachedurstigen Mitreisenden immer größer wird. Die sind wiederum alle grundverschieden – manche neigen zur Cholerik, manche tun nur mit, weil sie der Bräutigam sind, andere zweifeln am Racheakt, andere wollen den Tod des Peinigers am besten gestern, auch wenn manche Morgen Hochzeit feiern und die Braut einen auf Uma Thurman aus Kill Bill Vol. 2 machen will, nur ohne Katana.
Die Stimme verloren?
Während ich aber diese Review hier schreibe, drängt sich in mir jene Frage auf, von der ich mich wundere, dass sie nicht schon während des Films aufgepoppt war: Wenn Vahid und Freunde schon das Quietschen der Prothese nicht vergessen können, wieso erinnern sie sich dann nicht an die Stimme dieses Mannes? Diese würde man als traumatisiertes Folteropfer wohl auch nicht so schnell vergessen. Oder wie war das noch gleich im Theaterstück von Ariel Dorfmann, Der Tod und das Mädchen, verfilmt von Roman Polanski 1994? Dort, in einem fiktiven Südamerika, erkannte Sigourney Weaver ihren Peiniger Ben Kingsley anhand der Stimme. Im Grunde ist auch dieses Kammerspiel deutlich mit Jafar Panahis desperater Tour de Force zu vergleichen, die aber diesen deutlichen Aspekt mit der Stimme außen vorlässt. Wie und warum auch immer – der aus dem Iran vertriebene Filmemacher, der nur unter äußerst schwierigen Bedingungen und höchst umständlich seine Filme verwirklichen kann, hat mit diesem Werk heuer die Goldene Palme gewonnen.
Die Trivialität eines Rachefilms
Vielleicht hat er diese wohl mehr aufgrund seiner Beharrlichkeit zugesprochen bekommen, mit der er das Medium Film als Sprachrohr dafür nutzt, um die Missstände in seinem Heimatland aufzuzeigen. Mit Ein einfacher Unfall macht er das Regime aber mehr oder weniger austauschbar, es geht diesmal auch nicht um Politik, Ressentiments gegenüber Andersdenkenden und den Nebenwirkungen eines diktatorischen Gottesstaats, sondern recht generell und, man mag es anderswo trivial bezeichnen, um Vergeltung. Panahi geht nicht näher ein auf politische Strukturen, sondern erörtert die Frage nach Rache an sich – ist sie legitim, ist sie überzogen, wird man dabei nicht selbst zu dem, den man fürchtet – oder bringt der Tod des Täters in natura auch den Tod des Täters im Kopf? Am Ende scheint Panahi die Frage zu beantworten und zieht dann auch menschliche Werte wie Gnade in Zweifel. So wird Ein einfacher Unfall zu einem ambivalenten Film, dem es immerhin gelingt, zwischendurch auch so etwas wie einen tragikomischen verbalen Schlagabtausch zu entfesseln, der zwar immer wieder als großes Theater funktioniert, dabei aber auch auf der Stelle tritt.
Vielleicht war es doch der „Kulturschock“ vom kreativen Esprit Frankreichs der Sechziger in den traumatisierten Iran, der mich davon abhielt, in Panahis Film zu finden. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre ich vielleicht begeistert gewesen. Da Filme aber im subjektiven Kontext der eigenen Befindlichkeit in ihrem Gefallen variieren, gilt hier jedoch das Resümee für einen um Verve bemühten Thriller mit Anleihen zur Groteske.


