Late Night with the Devil (2023)

TEUFLISCH GUTE QUOTEN

6,5/10


LateNightWithTheDevil© 2024 capelight pictures

LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: CAMERON & COLIN CAIRNES

CAST: DAVID DASTMALCHIAN, LAURA GORDON, IAN BLISS, FAYSSAL BAZZI, INGRID TORELLI, RHYS AUTERI U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Ich muss gestehen, ich freue mich schon auf Halloween. Ja natürlich, vorher drängt sich noch der Sommer dazwischen, doch meine Affinität zum Paranormalen und Phantastischen schlägt die überschaubare Lust, in der Hitze nicht enden wollender Tage auf diversen Liegewiesen dahinzudämmern. Wenn’s dunkel wird, lockt das Geheimnisvolle. Und wenn’s dunkel wird, heißen diverse Show-Hosts quer über den Erdball das nocturnale Publikum wieder herzlich willkommen. In unseren Breiten sind das Sterman, Grissemann oder Peter Klien. In Deutschland der kontroverse Jan Böhmermann, in Übersee Jimmy Fallon oder Stephen Colbert. Jetzt stelle man sich mal vor, einer dieser wortgewandten Showgrößen hat sich für die Nacht des einunddreißigsten Oktobers auf den ersten November etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um die Quotenflaute auszumerzen. Etwas, das wie ein Straßenfeger fast die gesamte Bevölkerung eines Landes vor die Bildschirme lockt, und nein, es ist nicht eine erneute Mondlandung, sondern etwas ganz anderes. Der Beweis nämlich, dass gepeinigte Mädels wie jenes aus dem Film Der Exorzist tatsächlich existieren, dass es sogar möglich scheint, vor laufender Kamera endlich mal das Corpus delicti greifbar und überzeugend für alle offen zur Schau zu stellen.

Die Spannung wächst beim Publikum ins Unendliche, die Erwartungshaltung ist hoch, und die Skepsis bleibt, vorallem auch deswegen, weil Fakt und Fake in Zeiten wie diesen nur noch schwer auseinanderzuhalten sind. Doch Moment: In Late Night with the Devil befinden wir uns in einer Talkshow des Jahres 1977. Und auch wenn bahnbrechende Effekte in Filmen wie Star Wars die Welt zum Staunen bringen: Akkurate Illusionen in einer Live-Show vom Stapel zu lassen gestaltet sich dann doch deutlich schwieriger. Aus diesem Grund sollen an diesem Halloweenabend abgeblich echte Phänomene kritisch beäugt werden dürfen, deswegen lädt Showmaster Jack Delroy nicht nur das Medium Christou in die Live-Sendung ein, der mit den Toten kommunizieren kann. Auch der Ex-Magier Carmichael Haig darf die Chance ergreifen, das paranormale Schauspiel zu entlarven. Letztendlich wird sich dieser bei titelgebender Teufelsbeschwörung die Zähne ausbeißen. Und die Show zum grauenhaften Ereignis werden lassen, das als Found Footage-Dokument a la The Blair Witch Project spätere Generationen verstören soll.

Das Konzept dieses Films geht auf. Dämonen, die über ein Mädchen kommunizieren, in eine spätabendliche Talkshow einzuladen, ist tatsächlich ein kreativer Knüller. Es ist, als würde man, offen für jeden Aberglauben, den Sensationen einer jahrmärktlichen Schaubude beiwohnen, wäre man im vorigen Jahrhundert geboren. Hochgerechnet auf das Fernsehzeitalter der Siebziger, mit dem wir uns besser identifizieren können als mit theatralischem Budenzauber, entlockt Late Night with the Devil dem Zuseher eine Sensationslust, die fast schon in eine Gier übergeht; die kaum erwarten lässt, was bald stattfinden wird. Das Publikum weiß, dass die Sache aus dem Ruder laufen wird. Doch wie, bleibt lange ein Geheimnis, ein „Jack in the Box“.

Der Film von Cameron und Colin Cairns ist aber längst nicht so ein konsequenter Footage-Horror wie er letztlich hätte sein können. Eine Erkenntnis, die sich erst gegen Ende des Films niederschlägt. Die Behind the Scenes-Sequenzen lassen sich ja noch halbwegs als Teil einer ungeschnittenen Rohfassung ganz gut erklären, als andersformatige Schwarzweiß-Intermezzi sind sie dazu da, den Showbeitrag mit einer moralisch aufgeladenen Story zu unterfüttern. Hätte es das gebraucht? Ganz und gar nicht. Ich will nicht wissen, was Showmaster Delroy auf dem Kerbholz hat. Was Gäste und Host miteinander verbindet. Noch radikaler wäre es gewesen, hier überhaupt keinen Background zu erzählen, es einfach laufen zu lassen, auf unerklärliche, unheimliche Weise und ohne kausale Zusammenhänge. The Blair Witch Project hat das hinbekommen. Cloverfield ebenso. Late Night with the Devil schafft es über Dreiviertel seiner Laufzeit, wirklich zu fesseln. Doch dann ist die dick aufgetragene Liebesmüh nur noch dazu da, dem phänomenalen Ende einen reichlich konfusen Epilog draufzusetzen, der nur Verwirrung stiftet.

Late Night with the Devil (2023)

Krazy House (2024)

DER TRITT INS ALLERHEILIGSTE

6/10


Krazy-House© 2024 Splendid Films

LAND / JAHR: NIEDERLANDE 2024

REGIE / DREHBUCH: STEFFEN HAARS & FLIP VAN DER KUIL

CAST: NICK FROST, ALICIA SILVERSTONE, KEVIN CONNOLLY, GAITE JANSEN, WALT KLINK, JAN BIJVOET, CHRIS PETERS, MATTI STOOKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Vom Stilmittel der Sitcom, um den American Way of Life zu demaskieren, war schon Oliver Stone überzeugt. In Natural Born Killers turtelten Juliette Lewis und Woody Harrelson unter dem Gelächter eines gebuchten Konserven-Auditoriums in generischen Einfamilienhaus-Kulissen herum, um dann eine blutige, aber medientaugliche Spur durchs Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu ziehen, ganz im Sinne eines Donald Trump, den man trotzdem wählen würde, hätte er auf offener Straße einen Menschen erschossen. Statt den beiden damaligen Jungstars wuchtet sich diesmal ein gottergebener, erzkatholischer Biblebelt-Hausmann namens Nick Frost (diesmal ohne seinen Partner Simon Pegg) von der Palmsonntags-Zeremonie ins traute Eigenheim zurück, mitsamt der nahe am Burnout nagenden Business-Ehefrau Alicia Silverstone und den beiden Kindern, die zwar Papas christliche Affinität mittragen, mittlerweile aber auf den selbstgestrickten Jesus-Pulli verzichten. Der Patriarch sieht das gar nicht gern, und er wundert sich obendrein, was Sohnemann Adam in seinem Zimmer chemischen Experimenten unterzieht. Die klare Sicht auf die Dinge, die die (allem Anschein nach) amerikanische Familie so umtreibt, wovor sie sich fürchtet und was sie niemals hinterfragt, bleibt Nick Frost alias der gutmütig brummige Bernie, verwehrt. Der konservative Glaube ist alles, und gerade in der Karwoche wird dieser blinde sakrale Gehorsam alles wieder ins richtige Lot bringen. Es sei denn, das Schreckgespenst einer russischen Invasion steht ins Haus. Diese wird verkörpert von drei Pfuschern aus dem weit entfernten, kommunistischen Osten – der Vater samt Nachwuchs. Anstatt den Wasserschaden in der Küche zu beheben, zerstören sie nach und nach die gesamten geheiligten vier Wände. Das alles eskaliert, die Gattin versinkt im Burnout und in der Tablettensucht, Adam frönt dem Crystal Meth und Tochter Sarah lässt sich schwängern. Kein Stein bleibt auf dem anderen, und selbst Holy Fucking Jesus, der Bernie immer mal wieder erscheint, um ihn an seine Demut im Glauben zu erinnern, trägt letztlich nichts dazu bei, die Vorstadt-Apokalypse auch nur ein klein wenig zu vereiteln.

Das niederländische Regie-Duo Steffen Haars und Flip van der Kuil klotzen einen farbenfrohen, derben Gewalt-Exzess vor die Kamera, stets Nick Frost im Fokus bewahrend, der eine Wandlung in drei Etappen durchmacht, die durch ein jeweils anderes Bildformat zumindest den Anschein einer Struktur bewahrt. Blickt man hinter das so bluttriefende wie blasphemische Stakkato grotesker Zustände, erkennt man zwei Autorenfilmer, die durchaus bereit sind, die vom bigotten Westen so stolz gelebten Dogmen und geduldeten Laster von Grund auf zu hinterfragen. Warum der fanatische, evangelikale Gottesglaube, warum die Lust an der Droge, die Sucht nach Tabletten, die Heiligkeit des familiären Vierbeiners, das Feindbild aus dem Osten. Krazy House geht sogar so weit, um Verhaltensmanierismen wie das Kaugummikauen, den Putzfimmel und die heuchlerische Allwetter-Freundlichkeit zu verlachen und auf den gebohnerten Boden zu schmettern. Mit Nick Frost, dessen Zahn- und Zahnlosprothese herrlich irritiert, hat Krazy House gerade aufgrund all der befremdenden Polemik eine Identifikationsfigur zwischen biblischem Hiob und amoklaufendem Normalo gefunden, der in die Fußstapfen eines untätigen Versager-Christus stapft, um all das Übel dieser Welt aus der Bequemlichkeitsblase zu treiben.

In diesem satirischen Enthusiasmus treiben es Haars und van der Kuil so sehr und so unbedingt auf die Spitze, dass am Ende das Chaos zu gewollt erscheint, zu erzwungen verrückt und häretisch – es ist die Inflation bizarrer Einfälle, die sich gegenseitig ihre Wirkung nehmen, die dann nur noch als dauerfeuernde Destruktionsorgie zwar die Hartgesottenen unterhält, die aufgrund ihrer selbstbewussten Gelassenheit gut damit leben können, dass dem Haushund die Birne weggeschossen wird oder der Sohn Gottes dem Hirntod erliegt, letztlich aber weder wirklich aufregt oder vor den Kopf stößt. Ein Schmunzeln ob des reuelosen Rundumschlags mag Krazy House sicher sein. Doch viel mehr als lautstark herumzutrampeln steht dem pseudohämischen Streifen gar nicht im Sinn.

Krazy House (2024)

Sisu (2022)

FAIRNESS AUF FINNISCH

6/10


sisu© 2023 Praesens Film


LAND / JAHR: FINNLAND 2022

REGIE / BUCH: JALMARI HELANDER

CAST: JORMA TOMMILA, AKSEL HENNIE, JACK DOOLAN, MIMOSA WILLAMO, ONNI TOMMILA U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Wenn ein Außenseiter, der mit unorthodoxen und zweifelhaften Methoden dennoch eine gewisse Moral vertritt, wirklich schlimmen Jungs den Garaus macht, sei es nun aus Rache oder um die Schutzlosen zu beschützen – wenn so ein Fremder ohne Namen und mit wenigen Worten auf den Lippen in diesem Streben gar nicht anders kann als nicht zu sterben, dann ist das ein gern interpretierter Mythos in der Welt des Kinos. Und längst nichts Neues mehr. Ob Clint Eastwood, Chuck Norris oder Arnold Schwarzenegger – sie alle sind überzeichnete und fern realer Umstände Kämpfe austragende Kultfiguren, die unsere Sehnsucht nach einer gerechteren Welt zumindest in diesen paar Stunden, in denen sie über den Screen flirren, stillen können. Quentin Tarantino geht sogar so weit und verändert die Geschichte, um zu bekommen, was einer Welt mit moralischem Ordnungs-Soll eigentlich zusteht. 

Dieser wortkarge Finne im Actionstreifen Sisu ist auch so einer. Sisu – das ist finnisch steht für eine schwer bis gar nicht übersetzbare Umschreibung eines hartnäckigen Überlebenswillens. Und ja, ich muss zugeben – hartnäckiger ums Überleben kämpft eigentlich nur noch John Wick, der als Stehaufmännchen im letzten Teil seines Franchise was weiß ich wie oft die Stufen zum SacréCœur hat hochlaufen müssen.

Im Jahr 1944, während die Nationalsozialistische Armee bei ihrem Abzug aus Finnland nur verbrannte Erde hinterlässt, hat sich der Eigenbrötler Aatami Korpi, ehemals Kampfmaschine in den Diensten der finnischen Armee und rund 300 Russen am Gewissen, vom Krieg abgewandt und sucht in den weiten Ebenen Lapplands nach Gold. Seine Suche wird alsbald belohnt, und Fortuna schüttet in Form schwerer Edelmetallklumpen ihr Füllhorn aus. Auf dem Weg zurück in die Zivilisation queren marodierende Nazis seinen Weg – und zumindest einige von denen müssen sehr bald schon auf deftige Weise ins Gras beißen. Vom Gold wird dann auch noch Obersturmführer Helldorf (fast so garstig wie seinerzeit Lee van Cleef: Aksel Hennie) angelockt. Und es beginnt eine Hasenjagd per Panzer quer durchs Gelände, während Korpi sein Survival-Know How auspacken muss, um den Verbrechern immer eine Nasenlänge voraus zu sein.

Bald aber stehen die Chancen für den Anti-Helden ziemlich schlecht. Und nach allen Parametern der Logik wäre Sisu ein Kurzfilm mit einer Länge von fünf, na sagen wir zehn Minuten. Doch nein – Nazis wie diese müssen – zumindest aus hier kolportierten sadistischen Gründen – dem groben Gutmenschen gegenüber Kulanz walten lassen. So verlangt es das Skript, so verlangt es nicht nur das Subgenre des längst aus der Zeit gefallenen Bahnhofs- oder Grindhouse-Kinos. Robert Rodriguez und Mastermind Tarantino – den beiden gelang es glatt,  das Vokabular der Exploitation-Filme mit Werken wie Death Proof, Planet Terror oder Machete neu erklingen zu lassen. Einflüsse des Italowesterns sind da kaum zu übersehen.

Sisu huldigt beiden Stilen. Und macht anhand üppiger Lettern, die, formschön eingeblendet, den Film in mehrere Kapitel unterteilen, überdeutlich, womit wir es zu tun haben. Mit einer stilsicheren Reminiszenz, dessen Macher Jalmari Helander (unbedingt ansehen: Rare Exports – der etwas andere Weihnachtsfilm) sein Handwerk versteht. Und der auch weiß, worauf es ankommt, um seinen archaischen Blut- und Beuschelreißer in einem überzeichneten und vielen, wenn nicht allen Gesetzen der Logik widerstrebendem Universum zu verankern. Ein satter, rauer Score und überhöhtes Sounddesign vor allem dann, wenn im wahrsten Sinne des Wortes die Fetzen fliegen, machen aus Sisu ein fast schon physisch greifbares Event. Im Grunde aber ist, so hingefetzt das Ganze inszeniert ist, nichts davon wirklich innovativ. Ein Mann-Armeen gibt‘s mittlerweile viele. Nazis fahren auch nicht zum ersten Mal zur Hölle, während ihnen ihre abgetrennten Extremitäten um die Ohren fliegen. Im Grunde mag Sisu recht dünn ausfallen. Was man aber zu schätzen weiß, ist der lakonische Zynismus, dieser schweigsame Zorn, die raue Gegend. Und die Liebe zur beinharten Trivialität, die die Grundemotionen von Rache und Genugtuung bedient.

Sisu (2022)

Nightsiren (2022)

WIE MAN SICH HEXEN MACHT

7/10


nightsiren© 2023 Busch Media Group


LAND / JAHR: TSCHECHIEN, SLOWAKEI 2022

REGIE: TEREZA NVOTOVÁ

BUCH: BARBORA NÁMEROVÁ, TEREZA NVOTOVÁ

CAST: NATÁLIA GERMANI, EVA MORES, JULIANA OLHOVÁ, IVA BITTOVÁ, JANA OLHOVÁ, MAREK GEISBERG U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


In Robert Eggers The Witch hat die strenggläubige Familie von Anya Taylor-Joy so lange darauf beharrt, dass ihre Tochter einen Pakt mit finsteren Mächten eingegangen sein muss, bis es wirklich dazu kam. Klarer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung. Und gerade in diesem Film wird klar, dass die wahre Hölle immer die anderen sind – frei nach Sartre. Die slowakische Filmemacherin Tereza Nvotová will sich dieser Umkehrrechnung ebenfalls annehmen – und erzählt diesmal nicht aus der Finsternis des siebzehnten Jahrhunderts, sondern stellt sich gegenwärtigen Verhältnissen. Zum Teil sind diese auch autobiographisch; zumindest, was das Verhalten der Gemeinde angeht und wohl weniger das Metaphysische zwischen den Bäumen.

Der Mikrokosmos einer Dorfgesellschaft ist stets mit Vorsicht zu genießen. Ein jeder kennt jeden, es wird getuschelt und getratscht. Geheimnisse gibt es längst nicht mehr, und tritt wirklich Pikantes zutage, wissen es alle. Schnell wird der Verdacht zur Gewissheit, die Gewissheit zur irrationalen Angst, die irrationale Angst zum Wahn. Genau so landeten damals vermeintliche Hexen auf dem Scheiterhaufen oder wurden ins Wasser getaucht, damit die anderen herausfinden konnten, ob die Beschuldigte vielleicht nicht doch ehrlich damit war, unschuldig zu sein.

Die Menschheit hat sich, wie wir wissen, in ihrem Verhalten seit damals kaum gewandelt. Gut, die Gesetze sind andere, das Gewand ist nicht selbstgenäht, sondern stammt vom Großkonzern und die Hygiene ist besser. Doch alles andere tritt auf der Stelle. Nightsiren kommt diesem enttäuschend unbelehrbaren Status Quo langsam auf die Schliche. In ihrem Film treibt sie niemanden zur Eile an, die Story schreibt das Tempo vor – und geht so: Eine junge Frau kehrt nach Jahrzehnten der Abgängigkeit in ihr Heimatdorf zurück – oder besser gesagt: zur Waldhütte ihrer verstorbenen Mutter. Die ist längst abgebrannt, da gibt’s nichts mehr zu holen. Gegenüber, ein paar Meter weiter, dämmert das Haus einer angeblichen Hexe dem Verfall entgegen, dort quartiert sich Charlotte erstmal ein. Nicht nur der Brief des Bürgermeisters, der die Hinterlassenschaften ihrer Mutter regeln will, treibt sie hierher – es ist auch die Hoffnung, dass ihre kleine Schwester überlebt haben könnte, nachdem sie diese vor Jahrzehnten versehentlich von einer Waldklippe stieß. Charlottes ganze Familie ist nebenbei sowieso in Verruf geraten, mit Waldhexe Otylia einen Pakt eingegangen zu sein. Entsprechend zögerlich reagieren die Einwohner auf die Heimkehr der verschollenen Tochter. Natürlich wecken Charlottes Nachforschungen schlafende Hunde, ein Mädchen namens Mira gesellt sich zu ihr, und die permanent notgeilen Männer des Dorfes stellen bald schon eine Bedrohung dar. Im Schatten hexischer Magie befinden sich alle, doch es braucht eine Zeit, bis dieses Unheil von den anderen beim Namen genannt wird.

Nightsiren vermeidet – und das ist wunderbar erfrischend – jegliches Klischee aus diversen anderen Hexenfilmen, die die Mythologie auf hässliche Fratzen und unreflektierte Bösartigkeit reduzieren. Tereza Nvotová gibt dem Thema einen hellen Anstrich und kokettiert viel mehr mit den Imperativen weiblicher sexueller Freiheiten, die vom Patriarchat längst nicht mehr unterdrückt werden dürfen. Ihr Mysterydrama ist ein zutiefst feministischer Film, der fast schon der Versuchung erliegt, alles Männliche als Unterjochung darzustellen, wäre da nicht zumindest einer, der von den geschlechtstypischen Verhaltensweisen Abstand nimmt. Ob das den Ausgleich schafft, bleibt lange fraglich. Und rückt dann später in den Hintergrund, wenn Nightsiren beginnt, Reales mit Imagination, Lehrbuchphysik mit Metaphysik und Gewalt mit Magie zu vermischen. Die Hexe bei Nvotová ist ein Sinnbild für das Ausleben unterdrückter Weiblichkeit – dafür braucht es lediglich Andeutungen und keinen feisten Budenzauber. Weniger ist hier mehr, und das wenige schafft es aber dennoch, alles durcheinanderzubringen, sodass man als Zuseher letzten Endes gar nicht mehr weiß, was tatsächlich stattfindet, stattgefunden hat oder stattfinden wird. So einiges bleibt offen, vieles geheimnisvoll und vage. Was dem Film aber nicht zum Nachteil gereicht.

Als moderner Frauenfilm, der sich mit dem Phantastischen am nächtlichen Waldboden wälzt, lässt Nightsiren die Zeit wie im Flug vergehen und fasziniert, weil es eben nicht unbedingt faszinieren will. Ein Film, der durch seine entspannte Erzählweise Spannung erzeugt, die ganz von allein entsteht.

Nightsiren (2022)