Oskars Kleid

ELTERN MACHEN PROBLEME

6/10


oskarskleid© 2022 Warner Bros. Pictures Germany


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: HÜSEYIN TABAK

BUCH: FLORIAN DAVID FITZ

CAST: FLORIAN DAVID FITZ, LAURÌ, AVA PETSCH, MARIE BURCHARD, KIDA KHODR RAMADAN, SENTA BERGER, BURGHART KLAUSSNER, JUAN CARLOS LO SASSO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Eltern sind sehr schnell mit ihrem Latein am Ende. Was Kinder wollen, was Kinder brauchen und wie Kinder die Welt sehen: All das und noch viel mehr ist für den, der es zumindest mal geschafft hat, ein lebendiges Wesen in die Welt zu setzen, wie ein Buch mit sieben Siegeln, das über all diese Feinheiten der Kindererziehung Aufschluss geben würde. Nur: Wir Eltern können diesen wuchtigen Wälzer leider nicht öffnen – und müssen mit der eigenen Erfahrung arbeiten, die sich aus einer Kindheit schöpfen läßt, die eine Generation zurückliegt und von einer Epoche gefärbt scheint, die längst schon überholt ist.

In der dritten Dekade des neuen Millenniums jedoch wacht unsere Gesellschaft langsam auf. Viele Staaten liegen da noch tief im Schlummer eines totalitären Mittelalters, Menschen schießen sich auf Geheiß machtkorrumpierter Persönlichkeiten immer noch tot, während mehr Gespür für das eigene Ich längst schon seine Äuglein geöffnet hat. Und Dinge, die über Jahrhunderte totgeschwiegen wurden, wie der sensible Umstand der eigenen sexuellen Identität, kommen zur Sprache. Transgender, nonbinär, LQBTIA+ – Wörter, die vor einigen Jahrzehnten noch nicht zu verstehen waren, nun aber der oder dem einzelnen so viele Freiheiten einräumen, dass diese zumindest in einigen europäischen Ländern und vielleicht auch in einigen amerikanischen Bundesstaaten ihrem psychosozialen Wohlbefinden nachgehen können. Modetrend? Wohlstandserscheinung? So einen Verdacht äußert Florian David Fitz als Filmvater Ben nicht nur einmal. Wäre da was dran? Womöglich nicht. Denn nicht zu wissen, ob man Frau oder Mann oder gar nichts von beidem ist, ob man vielleicht im falschen Körper steckt und als Bub eigentlich gerne ein Mädchen wäre – das birgt viel zu viele Erschwernisse, und später noch richtige Hürden, die zu bewältigen sind, um hier einfach spaßhalber einem Trend zu folgen. Freiwillig ausgesucht hat sich das niemand.

Einer dieser Buben, die gerne ein Mädchen wären, ist Oskar. Der trägt liebend gern sein dottergelbes Sommerkleid und nennt sich Lili. Schwester Erna (Ava Petsch, auch zu sehen in Was man von hier aus sehen kann) hat damit keinerlei Probleme, weil Kinder sich nicht so einen Kopf machen wie Erwachsene. Auch die Mama weiß Bescheid, und sogar die Schule, auf welche Lili geht – wissen doch all die Mitschülerinnen und -schüler längst nicht, dass das Mädchen im Grunde biologisch gesehen anderen Geschlechts ist. Einzig Papa Ben fällt aus allen Wolken, tut dieses abnormale Gehabe als Spleen ab und will sich auf keine Diskussionen einlassen, als dieser aufgrund der Schwangerschaft seiner Ex-Frau die beiden Kids mit zu sich nach Hause nimmt. Auf die Reihe bekommt dieser Ben allerdings nichts so wirklich. Das eigene Ego, verkrustete Ansichten und fehlende Offenheit einer sich in der Umgestaltung befindlichen Gesellschaft gegenüber werfen dem strauchelnden Polizisten allerlei Knüppel zwischen die Beine. Dann legt er sich auch noch mit seinem Rivalen an und muss hinnehmen, dass seine eigenen Eltern dem neuen Liberalismus mehr Verständnis entgegenbringen als er selbst.

Oskars Kleid ist nicht der erste Transgender-Familienfilm, aber womöglich der erste deutsche. Mit Mein Leben in Rosarot hat schon der Franzose Alain Berliner 1997 das gleiche Thema angeschnitten. Später dann, 2018, gaben Claire Danes und „Big Bang Theory“-Star Jim Parsons in Ein Kind wie Jake mehr schlecht als recht das sorgenvolle Elternpaar eines Mädchens im Körper eines Jungen. Da wie dort liegt der Fokus weniger auf den schwierigen Umstand, die eigene queere Identität als Kind anzunehmen als vielmehr auf das hilflose Tamtam der Erwachsenen, die ohne all diese Blickwinkel aufgewachsen sind und gerne der Tendenz folgen, aus allem ein Problem zu machen, um dieses dann erfolgreich zu lösen. Eine Taktik, die sich bald als relativ unpraktisch darstellt.

Florian David Fitz, Publikumsliebling und charmanter, fürs Tragikomische gerne besetzter Comedian, hat für Oskars Kleid das Drehbuch verfasst und sich so seine Gedanken darüber gemacht, wie es ihm selbst wohl dabei ginge, wenn der „Thronfolger“ plötzlich lieber Lidschatten und Krönchen trägt. Dabei kann er nicht anders, als seine Figur mit ordentlich aggressiver Männlichkeit auszustatten, dessen gewalttätiges Potenzial man als schmunzelndes Publikum nachzusehen hat. Sein „Problempapa“ bleibt den Stereotypen aus Schweiger- und Schweighöfer-Filmen leider treu, was vielleicht etwas zu gefällig erscheint und aus einem sehr reizvollen Thema eine Komödie machen will, die bewährten Mustern folgt. Das wäre auch zur Gänze passiert, würde Filmdebütant Laurì als Oskar/Lili durch sein zurückgenommenes, sensibles Spiel, das oft ohne Worte auskommt, der ganzen, sich steigernden Turbulenz einen nachdenklichen Kontrapunkt setzen, von welchem aus das ganze Durcheinander mehr Tiefe erlangt als abzusehen gewesen wäre.

Mehr Schwerpunkt auf Laurìs Performance wäre willkommener gewesen, die stillen Momente mit ihm und Filmvater Fitz erreichen manchmal eine ungeahnte Stärke, während sich der stressige Familienalltag und das Abarbeiten elterlicher Benimmregeln angesichts queerer Umstände in einem manchmal zu simplen Kosmos verlieren, der zugunsten eines breiten Publikums vereinfacht wird. Natürlich ist die Ambition dahinter eine, einem breiten, berührungsängstlichen Publikum ein so heikles wie sensibles Thema wie dieses näherzubringen. Bei allen anderen, die damit von vornherein klarkommen, rennt Florian David Fitz längst offene Türen ein.

Oskars Kleid

Fragil (2022)

DAS SCHLUCHZEN DER MÄNNER

7/10


fragil© 2022 Flirrsinn


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: EMMA BENESTAN

BUCH: EMMA BENESTAN, NOUR BEN SALEM

CAST: YASIN HOUICHA, OULAYA AMAMRA, TIPHAINE DAVIOT, RAPHAËL QUENARD, BILEL CHEGRANI, DIONG-KEBA TACU, GUILLERMO GUIZ, HOLY FATMA U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Der nächste Sommer kommt bestimmt – was man momentan vielleicht gar nicht mal so glauben kann, angesichts fast schon eisiger Temperaturen und kurzen Tagen, die den Nachtfrost einläuten. Da ist es manchmal nur willkommen, wenn sich die Hoffnung auf den nächsten Sommer zumindest in den Filmen manifestiert – und wir wieder Sehnsucht verspüren auf das zum Baden einladende Meer, lange Abende und leichter Bekleidung. Vor allem auch auf Meeresfrüchte aller Art, insbesondere Austern. Die gibt es so einige zum Verzehr, zumindest in der französischen Küsten- und Hafenstadt Sète. Diese Schalentiere sind richtig frisch – das garantiert uns der junge Austernfischer Az (Yasin Houicha), der seine Arbeit durchaus mit Leidenschaft betreibt, und auch leidenschaftlich genug sein will, wenn’s um Beziehungsangelegenheiten geht. Denn eines lauen Sommerabends will er seiner langjährige Geliebte Jess (Tiphaine Daviot) einen Heiratsantrag machen – er meint, der beste Ort dafür ist im Inneren einer Auster, die in der Taverne seiner Wahl serviert werden soll. Nur leider spielt das Leben eben nicht die romantischsten Melodien: Jess lehnt ab, will sich sogar eine Auszeit nehmen, steckt sie doch bis über beiden Ohren in einem Karrierehoch als Serienstar. Da bleibt keine Zeit für einen Austernfischer wie Az, der seiner Enttäuschung und seinem Liebeskummer durchaus auch mal die eine oder andere Träne dazugesellen lässt. Und ja: Männer dürfen weinen. Denn dieser Mann hier ist fragil genug, um seine Gefühle zu zeigen. Da muss man nicht auf tough tun und sich rational, wie Männer eben sein müssen, nach neuen Liebschaften umsehen.

Az ist ein unverbesserlicher Romantiker, der gerne in Rostands Klassiker Cyrano zwar nicht die Rolle des großnasigen Poeten, sondern dessen Freund einnehmen würde. Zum Glück hat er aber statt Cyrano einen ganzen Haufen anderer, wirklich guter Freunde, die schräger nicht sein können. Und eine Freundin, die, zurück aus Paris, den jungen Az dahingehend unter ihre Fittiche nimmt, dass er zumindest bei der nächsten großen Filmparty seiner Ex Jess mit Tanztechniken aus der algerischen Raï-Musik so richtig auftrumpfen kann.

Natürlich läuft in einem Film wie Fragil, dem Debüt der algerisch-französischen Filmemacherin Emma Benestan, nichts nach Plan. Der Plan dahinter ist nur, zu sich selbst und seinen Gefühlen zu stehen. Auch als Mann. Mit klassischen männlichen Stereotypen will Benestan aufräumen. Hier findet sich keiner, der Erfolg mit seinen Rollenklischees hätte, die aber bislang die „Herren der Schöpfung“ an ihr amouröses Ziel brachten. Nicht nur einmal erwähnt Az, er wäre im nächsten Leben gerne eine Frau, oder einfach so wie Freundin Lila, die bald schon mehr bedeutet als nur eine hemdsärmelige Vertraute aus Kindertagen. Die Frau im Manne ist etwas, wofür es sich lohnt, im Gefühlschaos Platz zu schaffen. Weinen gehört da ebenso dazu, und das nicht nur als schauspielerischer Kraftakt, wie ihn Konkurrent Giaccomo, ebenfalls Serienstar, als Sternstunde der Spontan-Improvisation demonstriert. Benestan findet ihre Männer hin und hergerissen zwischen kolportierten Idealen und wahren Emotionen. Dabei ist nicht wichtig, wie originell die Liebesgeschichte in Fragil wirklich erzählt werden will. Die ist nämlich erstaunlich vorhersehbar und folgt klassischen, vielleicht zu oft bemühten, aber immer noch funktionstüchtigen Formeln. Wert legt der Film vor allem auf die erfrischende Chemie zwischen den Darstellerinnen und Darstellern, zwischen Cesar-Preisträgerin Oulaya Amamra (Divines) und Yasin Houicha, die sich manchmal so anfühlt, als wäre man in einem mediterranen Dirty Dancing von Rhythmus-Regisseur Tony Gatlif, der mit Vengo oder Djam  – außerordentlich melodische Musikfilmstücke, verbunden mit dem Flair Südeuropas – das Filmschaffen des zweitkleinsten Kontinents längst bereichert hat. Wenn Lila und Az unter der Sonne des Mittelmeeres, zwischen Küste und Meer auf den steinernen Wellenbrechern ihre Bewegungen einstudieren, ist das gelebte Kultur und gelebte Romantik. Ohne Kitsch, sondern mit Gefühl für den Moment. Ja, das gilt auch für Männer.

Fragil (2022)

Gunpowder Milkshake

MÄNNER IM SCHUSSFELD

5,5/10


gunpowdermilkshake© 2021 Studiocanal

LAND / JAHR: USA, FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: NAVOT PAPUSHADO

CAST: KAREN GILLAN, CHLOE COLEMAN, LENA HEADEY, ANGELA BASSETT, PAUL GIAMATTI, MICHELLE YEOH, CARLA GUGINO, IVAN KAYE U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Sie alle haben uns gezeigt, wie es ist, als Auftragskillerin den Alltag zu bestreiten: Anne Parillaud, Charlize Theron, Jessica Chastain, Sasha Luss, erst kürzlich Mary Elizabeth Winstead in Kate – und das sind nur die, die mir spontan eingefallen sind. Die neueste Kampfmaschine ist Jumanji– und Marvel-Star Karen Gillan. Natürlich: miese Kindheit, von irgendeinem Mentor unter die Fittiche genommen. Trainiert, als gäbe es sonst nichts im Leben und abgerichtet, um kaltblütig den Job zu erledigen. Interessanterweise schimmert dann bei den meisten a la longue sowas wie Menschlichkeit durch und ein Hinterfragen der Gesamtsituation. Woher sie alle wissen, wie man sein eigenes Tun reflektiert, ist natürlich fraglich – und vielleicht gar fraglos menschlich. Oft folgt dann sowas wie Rache. Oder das Beiseiteräumen irgendwelcher Vertragsgläubiger, die ihr „Werkzeug“ lieber tot als im eigenen Haushalt schuften sehen wollen.

Viel ist es nicht – alles in allem ein sich wiederholendes Szenario mit unterschiedlichen Damen, die alle ihren persönlichen Stempel auf einen bereits recht fadenscheinigen Themenplot drücken. Karen Gillan macht‘s genauso. Nur wieder etwas anders. Ist Gunpowder Milkshake also ein entbehrlicher Appendix im Genre der Profikillerinnen-Filme geworden – oder die Kirsche auf einer viel zu üppigen Schlagsahne? Sagen wir so – es ist die halbe Frucht. und kein Grund, das Bestellte wieder zurückzuschicken. Trinken lässt sich dieser Milkshake eben trotzdem, weil der Israeli Navot Papadoshu hier mit kontrapunktiertem Kitsch arbeitet, und sich selbst und seine gewaltbereiten Figuren nicht ganz so ernst nimmt. Allerdings macht er sie nicht lächerlich, sondern erfindet eine postpubertäre „Ätsch“-Variante durchgekauter Genreschablonen.

Karen Gillan ist also klarerweise eine, die nie wirklich erwachsen wurde, und immer noch so tut, als käme sie erst in die Oberstufe – dabei hat sie schon viel gesehen, mit Ausnahme ihrer Mutter, die sie vor zwanzig Jahren verlassen hat. Die hängenden Mundwinkel sind ihr aus dem tatsächlichen Prozess des Erwachsenwerdens geblieben, aus einer Zeit, wo Genervtheit von den Eltern das neue Cool war. Im Zuge eines Auftrags fällt ihr ein junges Mädchen in die Hände. Kinder zu töten ist selbstredend tabu. Also muss die Göre gegen die Abmachung ihres Auftraggebers mitkommen, egal, wohin das führt. Laut dem Trailer wissen wir, dass Gillan irgendwann auf ihre Mutter stößt – und dann auf eine alteingesessene Golden Girls-Runde, die mehr draufhat als nur eine Bibliothek zu verwalten, die wiederum ebenfalls mehr versteckt als nur Kapitel und Gliedsätze. Die bösen Aufziehbuben rücken bald an, und die Projektil-Orgie kann starten. Natürlich augenzwinkernd und trotz des Blutzolls erfrischend unecht und daher harmlos.  

Weniger harmlos scheint der männerfeindliche Unterton des Films. Sieht man genauer hin, gibt es keinen einzigen Träger des Y-Chromosoms, der auch nur ansatzweise zu den Guten gehört. Die Männlichkeit ist hier das böse Syndikat, welches sich gegen eine eigentlich von Frauen zu regierenden Welt richtet. Natürlich wäre das besser, doch deshalb ist der Mann noch lange kein Missstand, der nur geduldet, wenn er bekämpft werden kann. Mit diesem Loblied an die dreiste Durchschlagskraft der Frau initiiert Navot Papushado den großen Grabenkampf zwischen den Geschlechtern, ohne ihn überbrücken zu wollen – natürlich mit lakonischem Humor und ironischen Attitüden. Gerade nochmal gutgegangen, denn je ernster die Lage in einem Film wie diesen, umso mehr wäre die Prämisse eine Frechheit.

Gunpowder Milkshake

Ein Kind wie Jake

KLEIDER MACHEN KINDER

2/10


einkindwiejake© 2018 Sundance Institute


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: SILAS HOWARD

BUCH: DANIEL PEARLE, NACH SEINEM THEATERSTÜCK

CAST: CLAIRE DANES, JIM PARSONS, PRIYANKA CHOPRA, OCTAVIA SPENCER, ANN DOWD, LEO JAMES DAVIS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Besondere Filme, in denen besondere Kinder eine Rolle spielen, gibt es einige. Jodie Fosters Regiearbeit Das Wunderkind Tate zum Beispiel, oder, erst vor einigen Jahren erschienen, Begabt mit „Captain America“ Chris Evans als Vater einer superklugen Tochter. Allerdings gehts auch weniger hochbegabt: Die belgisch-niederländische Produktion Girl oder das poetische Drama Mein Leben in Rosarot über einen Jungen in Mädchenkleidern. Letzteres ist auch Thema in der Verfilmung des Theaterstückes Ein Kind wie Jake von Daniel Pearle, der sein Werk auch für die Regie von Silas Howard adaptiert hat. Nur: es eignen sich zwar wiederholt Theaterstücke für das Medium Film, und gelangen zur wirklich brillanten Entfaltung, während sie ihre Bühnenvorlage in den Schatten stellen. Dieses Drama jedoch ist eines jener Beispiele, anhand derer klar wird, das manche Adaptionen auch wirklich gar nicht funktionieren.

Schade nur, dass sich so bemerkenswerte Darsteller wie Claire Danes und Jim Parsons, der in seiner Rolle als heterosexueller Vater natürlich bewusst gegen seine eigentliche Orientierung besetzt ist und laut trendig-militanter, laut monierender Correctness so etwas ja gar nicht spielen dürfte, an schwergewichtig scheinenden, aber unendlich redundanten Dialogen abarbeiten müssen. Doch wofür? Salopp gesagt hat dieser Film kaum nennenswerte Handlung. Es ist, als würde man das Vorsprechen für die kommende pädagogische Einrichtung des eigenen Nachwuchses verfilmt haben. Für die Eltern, die es betrifft, natürlich nachhaltig relevant. Für das Publikum da draußen? Endenwollend brisant.

Um es kurz zu machen (und es ginge gar nicht länger): Das vielbeschäftigte Wohlstands-Ehepaar Wheeler hat einen Sohn, der dazu neigt, lieber mit Prinzessinnen und in Tüll-Röcken abzuhängen als in durchgeknieten Kinderjeans Dinos aufeinander losgehen zu lassen. Darf das denn sein? Klar darf es das. Wobei das uns allen eingeimpfte Rollenbild von Bubenblau und Mädchenrosa allerdings obsolet wird. Was tun bei so einer Gesellschafts-Anomalie? Unbedingt darüber langmächtig diskutieren und die elitärsten aller elitären Einrichtungen für die kommende Vorschule abklappern, dabei Octavia Spencer das Herz ausschütten und ratlos in der hauseigenen Küche herumstehen. Wie es Jake dabei wohl geht? Zumindest inhaltlich dreht sich alles ums Kind, genauer betrachtet bleibt dieses allerdings eine schier wortlose Staffage, die das Hegen elterlicher Befindlichkeiten pusht. Was für mich wiederum fast schon arrogant wirkt. Denn dieser Jake, der spielt eine untergeordnete Rolle, unüblich bei Filmen über verhaltensoriginelle Kinder. Da würde das Script normalerweise eine gewisse Balance zwischen den Sorgen der Erwachsenen und der des Kindes bereitstellen. Andererseits sind wir hier, in einem Film, der über Abweichungen von der Norm erzählt, auch, was das Konzept des Dramas betrifft, mit dem Aufzäumen des Problempferdes von hinten konfrontiert. Kann man versuchen – haut aber nicht hin.

Ein Kind wie Jake

Chaos Walking

SAG MIR, WAS DU DENKST…

5,5/10


chaoswalking© 2021 Studiocanal


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: DOUG LIMAN

CAST: TOM HOLLAND, DAISY RIDLEY, MADS MIKKELSEN, DEMIÁN BICHIR, CYNTHIA ERIVO, NICK JONAS, DAVID OYELOWO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Wer im deutschsprachigen Raum kennt diesen Klassiker nicht, in welchem Connie & Peter, mit dem Tretboot auf welchem See auch immer kreisend, dieses charmante Duett schmettern. Da fordert doch glatt der liebe Peter sein Herzblatt dazu auf, zu sagen, was sie denkt. Darauf das Mädel: Möchtest du das wissen? Darauf er: Du, ich weiß es längst. Sie: Meinst du etwa küssen…? und so weiter und so fort. In Chaos Walking geht’s genauso zu, nur wird dort der Spies umgedreht, und Daisy Ridley könnte dem erschreckend naiven Jungmann glatt seine Gedanken entlocken. Allerdings: das muss sie gar nicht. Denn auf diesem, der Erde fernen Planeten namens New World herrscht eine ganz eigenwillige biologisch-neurologische Anomalie vor: die Gedanken aller Männer sind hörbar. Allerdings nur die unkontrollierten, wild ausufernden Fetzen stiller Überlegungen. Manchmal sogar manifestieren sich diese gleich eines Hologramms. Mit so einer Besonderheit kann man aber leben, dachten sich die ersten menschlichen Siedler. Blöd nur, dass im Gegensatz dazu weibliche Gedanken zollfrei blieben. Blamieren mussten sich folglich nur die Männer. Bis zu jenem Tag, als die Siedlung, in der Tom Holland aka Todd Hewitt (dieser Name fällt durchaus des Öfteren) aufwuchs, ihres Frauenanteils beraubt wurde, und zwar durch die Hand der hundsgemeinen indigenen Bevölkerung. Wie durch Zufall aber fällt eines Tages die Raumkapsel mit Daisy Ridley vom Himmel. Sie nun die einzige weibliche Protagonistin, die allerdings bald auf der Flucht ist, weil der despotische Bürgermeister (routiniert: Mads Mikkelsen) sie als Köder für das im Orbit kreisende Mutterschiff benutzen will. Die kann von Glück sagen, dass Todd Hewitt nur ihr Bestes will (und noch viel mehr). Da nimmt man die enervierenden, recht banalen und klarerweise jugendfreien Gedanken des fahrigen Mittzwanziger als Dauerbeschallung gerne in Kauf.

Bei diesem Science-Fiction-Abenteuer hat sich das Beraterteam der beteiligten Produktionsfirmen wohl anfangs die entscheidende Frage gestellt: soll aus diesem wirklich innovativen Stoff ein Film- oder eine Serie werden? Die Daumen mal Pi-Regel, die sich bereits seit geraumer Zeit bewährt hat, lautet: da dieser Streifen natürlich auf einer Romantrilogie von Patrick Ness (u. a. Sieben Minuten nach Mitternacht) beruht, wäre eine Serie wohl der gerechtere Weg, die Sache mit ihrer gebührenden Sorgfalt und entsprechend der Vorlage auszugestalten. Ein Kinofilm hat da stets zu wenig Spiel- und Zeitraum zur Verfügung. Romane lassen sich also eher schlecht in einen Kinofilm quetschen – Kurzgeschichten hingegen schon. Die Romanregel bestätigt sich auch in Chaos Walking. Die Idee ist auffallend originell – tatsächlich gibt es immer noch genügend Ansätze im Kino des Phantastischen, die im Grunde komplett neu sind. Der adaptierte Plot allerdings gerät viel zu durchgetaktet und gehetzt, um auch nur irgendwie ein Gefühl für seine Materie zu bekommen.

Das mit den Gedankenwolken, auch als Lärm bezeichnet, gibt dem ganzen Szenario als Bonus einen speziellen augenzwinkernden Kick im ironischen Spiel mit den Geschlechterrollen. Stereotypische Klischees – wie zum Beispiel: der Mann denkt nur an das eine, und aus einer Frau wird man nicht schlau – werden hier mitunter augenzwinkernd und ganz dezent karikiert. Was hier Vorrang hat, ist aber das im Stile eines Western konzipierte Abenteuer um einen mehr oder minder missglückten interstellaren Kolonialversuch. Von der Gedankenwelt mal abgesehen, bietet Doug Limans Science-Fiction allerdings wenig Überraschendes oder gar Unvorhersehbares. Daisy Ridley hat in ihrem rollenbedingten Stress kaum Zeit, sich schauspielerisch zu entfalten. Tom Holland gibt gar etwas übertrieben den blauäugigen Helden – obwohl – angesichts der Umstände scheint sein Verhalten plausibler als wäre er der toughe Einzelkämpfer.  

Da es sich um eine Trilogie handelt, könnte es sein, dass, wenn die Kassa stimmt, es eine Fortsetzung geben könnte. Dann lässt sich hoffen, dass die fremdartigen indigenen Wesen, Spackles genannt, folglich nicht mehr so sträflich vernachlässigt werden wie hier.

Chaos Walking

The Rider

AUFS FALSCHE PFERD GESETZT

7/10


therider© 2018 Weltkino


LAND / JAHR: USA 2017

BUCH / REGIE: CHLOÉ ZHAO

CAST: BRADY JANDREAU, TIM JANDREAU, LILLY JANDREAU, CAT CLIFFORD, TERRI DAWN POURIER, LANE SCOTT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Wie heißt es im Volksmund doch so schön: Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. Fällt man recht unglücklich von selbigem, muss man, sofern noch am Leben, das Glück woanders suchen. Ungefähr so ist es dem draufgängerischen Rodeo-Reiter Brady Blackburn ergangen, der, beim Sturz vom bockenden Warmblüter, vom Huf auf den Kopf getroffen wurde. Die Folge: Schädelbruch, Metallplatte, eine erschreckende Narbe verunstaltet das Haupt. Die Zeit heilt alle Wunden, denkt sich Brady, und irgendwann wird er das Glück im Sattel wieder genießen. Oder doch nicht? Die Ärzte bescheinigen anderes. Auch sein Vater sieht das skeptisch, die geistig beeinträchtigte Schwester will nur, dass es ihrem älteren Bruder gut geht. Das wiederum wäre nur durch das Reiten von Pferden gewährleistet. Bradys Leidenschaft schlechthin, ohne die ein Leben kaum denkbar wäre. Vor allem auch dann nicht, wenn die Erwartung guter Freunde unübersehbar bleibt und jeden Morgen der Hengst am Hang mit dem Zaunpfahl winkt.

Bemerkenswert an diesem Film ist vor allem der Umstand, dass dieser durchwegs mit Laiendaratellern besetzt ist, die allesamt mehr oder weniger sich selber spielen. Das, was hier geschildert wird, ist diesem Brady Blackburn (im echten Leben Brady Jandreau) tatsächlich passiert. Auch dessen Bruder im Geiste und bester Freund Lane Scott, im Film nach einem Rodeo-Sturz ein schwerer Pflegefall, ist es auch hinter der Kamera, allerdings aufgrund eines Autounfalls. Doch nichtsdestotrotz – Rodeoreiten ist ein Spiel mit dem Schicksal, im Grunde Drachenbändigen mit Pferden – eine Sache von Männern für Männer, und je härter und wilder der Ritt und je todessehnsüchtiger der Reiter, umso mehr ist ein Mann ein Mann. Dieses Cowboy-Ideal inmitten von Dakota, im tiefen wilden Westen sozusagen, beschwört ein ausgedientes und unzeitgemäßes Rollenbild zutage.

Brady Jandreau trägt diesen eigenen inneren Abgesang mit Fassung. Seine lakonische Art, seine weit schweifenden Blicke lassen in tough und unkaputtbar erscheinen. Diese ganze Landschaft, die den jungen Mann umgibt, kann gar nichts anders als Sehnsüchte wecken oder naive Träume schüren. Chloé Zhao, die heuer womöglich für Nomadland einen Oscar kassieren wird, hat diese Geschichte aus erster Hand selbst dramatisiert und einen sehr zurückhaltenden, eben lakonischen und nachdenklichen Film geschaffen, der von der grimmigen Wut des Wollens und Müssens erzählt. Und vom schwierigen wie schmerzhaften Prozess des Aufhörens. Dabei verliert sich Brady nicht in lebensüberdrüssiger Larmoyanz. Von vornherein ist klar, dass der Kelch nicht an ihm vorübergehen wird. Der Knackpunkt ist nur der, aus freien Stücken loszulassen, und nicht auf Druck der anderen. Gerade am Ende führt Zhao den wunderbaren Moment der Einsicht als schönstes Element des Films auf die Koppel und lässt dabei so manchen engen Vertrauten, von dem man nicht dachte, er würde zu so etwas fähig sein, als weisen Empathen erscheinen.

The Rider ist ein karger, introvertierter Film – langsam zur Ruhe kommend, reflektierend und in seiner Authentizität fast schon semidokumentarisch. Doch was heißt fast: Zhaos Film ist offensichtlich eine biographische Dokumentation über das Wagnis, mit einem undenkbaren Schicksal umzugehen.

The Rider

Du lebst noch 105 Minuten

MORD AUF DRAHT

6,5/10


sorry-wrong-number© 1948 Warner Bros. Studios


LAND / JAHR: USA 1948

BUCH: LUCILLE FLETCHER, NACH IHREM HÖRSPIEL

REGIE: ANATOLE LITVAK

CAST: BARBARA STANWYCK, BURT LANCASTER, ED BEGLEY, ANN RICHARDS, WILLIAM CONRAD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Das ukrainische Multitalent Anatole Litvak hat noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einen Film gedreht, der so heutzutage nicht mehr funktionieren würde. Das Handicap von damals: das Festnetztelefon fernab günstiger Tarife. Aber was heißt Festnetztelefon – wenn’s doch nur das gewesen wäre. Barbara Stanwyck muss sich hier als herzkranke Industriellenerbin über die Hürden der Vermittlungsdamen hieven, die da, aufgefädelt wie Perlen an einer Kette – bedürftige Telefonierer in alle Welt zu verbinden hatten. Was für ein Job – den gibt es zum Glück auch nicht mehr. Mit Smartphones hätten Barbara Stanwyck und der blutjunge Burt Lancaster zumindest über entleerte Akkus und verlegte Devices stolpern können, doch der nostalgische Reiz von Wählscheibe und separiertem Sprechteil ginge natürlich flöten. Das wäre schon ein Film fürs technische Museum, Schauraum Fernsprechgeschichte. 

Der Leinwandstar von damals harrt also, in Habtacht-Position neben dem Apparat, dem Kommen ihres Gatten, der allerdings ausbleibt – und dem auch leider nicht in den Sinn kommt, seine bessere Hälfte über sein Fortbleiben zu informieren. Stanwyck versucht, Gott und die Welt an den Hörer zu bekommen. Letzten Endes muss sie sich mit zwei fremden Stimmen begnügen, deren Gespräch sie belauscht. Dabei kommt ihr Schreckliches zu Ohren: die beiden planen einen Mord. Und nicht nur irgendeinen, sondern einen Mord an einer unbekannten Dame, die anscheinend allein zu Hause sitzt. Um Viertel nach Elf soll das Kapitalverbrechen grünes Licht bekommen – bis dahin haben wir – so sagt uns der Filmtitel – 105 Minuten! Der bettlägerigen Barbara dämmert leise ein Verdacht… gar nicht gut fürs schwache Herz.

Zugegeben, Du lebst noch 105 Minuten (im Original: Sorry, Wrong Number) ist kein Hitchcock und nimmt sich trotz seiner knappen Spielzeit von 88 Minuten (da hätte man locker für den Echtzeit-Faktor 105 Minuten herausschlagen können) aufgrund einer gewissen Dialoglastigkeit doch so manches Mal die Eigendynamik und wäre fast ein bisschen schal. Hätte Litvak – oder eben Lucille Fletcher, die Autorin sowohl des zugrundeliegenden Hörspiels als auch des Drehbuchs, nicht die Idee gehabt, eine Geschichte zu erzählen, die eigentlich fast nur aus (leicht verwirrenden) Rückblenden besteht. Dabei ist es mit einer Zeitebene zurück nicht getan – Litvak eröffnet noch eine. So ein Konstrukt fiel mir zuletzt in der spanischen Psychogroteske Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden auf. Auch hier erzählten einzelne Figuren von Figuren, die wiederum von Figuren erzählen. Und Regisseur Aritz Moreno schraubt sogar noch eine Zeitebene runter. Du lebst noch 105 Minuten begnügt sich mit drei solcher Ebenen, was den Film schön genüsslich im Sud möglicher Motive fischen lässt, die vielleicht eben auch Burt Lancaster betreffen, der hier noch am Anfang seiner Karriere stand und entsprechend hölzern agiert.

Wie in den damaligen Krimis, inspiriert durch das Suspense-Kino Hitchcocks, handelt auch dieses gewiefte Drama von Psychospielen und inszenierten Abhängigkeiten, von Macht und Ohnmacht zwischen Mann und Frau. Der Spannungsfaktor kommt da etwas zu kurz – die fatale Psychologie dahinter jedoch nicht. Mehr Melodram als Thriller also, dafür aber eine runde Sache, die ihr Dilemma konsequent auserzählt.

Du lebst noch 105 Minuten

Asche ist reines Weiß

DIE WAFFE EINER FRAU

7,5/10

 

aschereinesweiss© 2018 Neue Visionen

 

LAND: CHINA 2018

REGIE: JIA ZHANG-KE

CAST: ZHAO TAO, LIAO FAN, XU ZHENG, DIAO YINAN, FENG XIAOGANG U. A.

 

Vermehrt hat man nun von der Besonderheit des südkoreanischen Kinos gehört. Zu Recht natürlich – Parasite war ja in aller Munde, und das Werk ist auch wirklich sehenswert. Die Verknüpfung poetischer Narrative mit bizarren Spitzen ist für dieses Filmland wirklich etwas ganz Eigenes. Und wird auch gerne an anderer Stelle weiter ausgeführt. Denn hier, in dieser Rezension, geht’s ausnahmsweise wieder mal um das Filmland China. Das natürlich auch schon längst einen Ruf zu verlieren hat. Ganz wichtig und prägend natürlich Yang Zhimou, Chen Kaige und Wong Kar Wai, um nur einige zu nennen. Mittlerweile aber sind viele nach Hollywood oder sonst wo ausgewandert – aber auch wieder zurückgekehrt, wie John Woo. Wuxia-Filme dominierten in der letzten Zeit vermehrt das lokale Kino, das chinesische Mittelalter geht immer. Als Mitproduzent größerer US-Produktionen funktioniert China natürlich ebenso. Ist ja schließlich ein riesengroßer Absatzmarkt, manches läuft dort sogar besser als in den USA, das darf man nicht vernachlässigen. Vernachlässigen darf man aber auch nicht die langsame Rückkehr zum chinesischen Erzählkino, das mit der Kinoprosa Asche ist reines Weiß ein ordentliches Lebenszeichen von sich gibt.

China kann genauso gut Filme erzählen wie Südkorea. Jin Zhang-Kes Film ist ein blendendes Beispiel dafür. Sein Liebesepos spannt sich über fast ein Jahrzehnt und nimmt seinen Anfang in der Provinz Shanxi, in der das organisierte lokale Verbrechen so seine Finger überall mit im Spiel hat. Einer dieser Männer fürs Grobe ist Bin, und der hat eine Freundin, Qiao, die nicht von seiner Seite weicht und sich erst im Kontext mit männlicher Macht und Selbstbewusstsein so richtig lebendig fühlt. So eine Unterwelt allerdings existiert nicht ohne Konkurrenz – also wird Bin eines Nachts während der Heimfahrt mit dem Wagen auf offener Straße überfallen. Was für ein Glück, dass Qiao von einer Waffe weiß, die sich im Auto befindet – und so ihrem Freund das Leben retten kann. Dumm nur, dass in China illegaler Waffenbesitz verboten ist, doch um Bin zu schützen, nimmt Qiao die Schuld auf sich.

Diese Waffe allerdings ist wie die Büchse der Pandora in der griechischen Mythologie oder der Ring bei Tolkien das Ding, um das sich alles dreht, und das den Wendepunkt zweier Leben einläutet. Wäre die Waffe nicht, gäbe es keinen Film. Dieses Objekt der Macht, dieser autoritäre Apparat der Selbstbehauptung, wird zur Waffe einer Frau, die sich von nun an und trotz aller Schwierigkeiten emanzipieren wird. In richtigem Tempo und mit sehr viel Empathie für seine Sozialheldin ordnet er geschlechterspezifische Klischees neu um, versieht die Weiblichkeit mit viel mehr Ausdauer und Ehrgefühl, lässt sie nicht in Selbstmitleid versinken wie das Männliche. Dort, im Patriarchat, ist nicht viel mehr zu finden als Scham und verletzter Stolz. Niemals, so scheint es, kann die Frau den Ton angeben, weil das Leiden des Mannes dafür zu groß wäre. Doch warum eigentlich? In welchen hanebüchenen Schraubstöcken steckt das veraltete Rollenbild denn fest?

Schauspielerin Zhao Tao, stets adrett gekleidet und mit westlichen Einflüssen sympathisierend, ist nicht nur ihrer feinen Gesichtszüge wegen faszinierend genug, um einen über zwei Stunden dauernden Film stellenweise sogar im Alleingang zu tragen. Sie schafft es mit strenger innerer Balance, diese Schraubstöcke aufzudrehen. Selbstbehauptung und das Finden einer ganz eigenen Identität sind hier das Crescendo einer eleganten Verliererballade, in klaren Panoramen quer durch das asiatische Land, sehr beobachtend, aber niemals mitleidend. Ein kühler, fast sachlicher Film und dennoch über die Liebe, die einer Neuordnung gesellschaftlicher Standpunkte nicht standhalten kann.

Asche ist reines Weiß

Border

ES IST NICHT LEICHT, EIN MENSCH ZU SEIN

6/10

 

border© 2019 Meta Spark – Kärnfilm

 

LAND: SCHWEDEN, DÄNEMARK 2018

REGIE: ALI ABASSI

CAST: EVA MELANDER, EORO MILONOFF, JÖRGEN THORSSON, STEN LJUNGGREN U. A. 

 

Im Meisterwerk von David Lynch, Der Elefantenmensch, ist das Andersartige Grund genug, um eine Attraktion zu sein, die Geld einbringt. Auch bei Tod Brownings Freaks ist das so. Diese Filme berichten aus einer Zeit, in welcher der Begriff Evolution gleichsam Blasphemie und das Abheben von der Masse nichts Gutes sein konnte. Aus dieser Unerkärlichkeit sichtbarer genetischer Mutationen entstanden allerlei Geschichten, Mutmaßungen, Ängste – zusammengefasst als Wunder, und diese Wunder, verpackt in Geschichten, die von Generation zu Generation wuchsen: Mythen. Dort, wo die Nächte lang und die Unwirtlichkeit der Natur unabänderlich sind, gediehen Mythen am Besten. So zum Beispiel in Schweden. Da sind die Wälder unendlich, die Tage seltsam hell oder in scheinbar ewig finster. In Schweden ereignen sich auch jene seltsamen Dinge, die Regisseur Ali Abassi zu einem modernen Märchen zusammengefasst hat, einem Märchen für Erwachsene und Aufgeschlossene wohlgemerkt, und nicht für Anhänger bekannter Versatzstücke und Schablonen, die wir von Grimm, Bechstein oder Andersen kennen. Border schweißt die Mythen des Märchen- und Legendenhaften in die industrialisierte und organisierte Nüchternheit einer Plastiktüte, verwahrt in einem Kühlschrank oder zwischen den kahlen Wänden einer nüchternen Zollstation mit Zimmern für Leibesvisitation. Dass es möglich ist, das Märchenhafte so dermaßen von folkloristischem Zauber zu entrümpeln, ist wiederum sagenhaft. Aber auch erschreckend.

Es ist schwierig, Border zu analysieren, ohne zu viel zu verraten. Meine Review sollte, so mein Ziel, sowohl von Kennern als auch von Nichtkennern des Films gelesen werden können. Klar ist, dass sich Border schwer einordnen lässt, allerdings aber weniger schwer in ein Genre als in ein Spektrum der Wertigkeit. Ist Border nun ein guter oder ein schlechter Film? Mag man ihn oder findet man ihn abstoßend? Abassis Adaption einer phantastischen Kurzgeschichte von John A. Lindqvist, der auch die erste Drehbuchfassung hierzu schrieb, und auf dessen Konto auch der Vampirklassiker So finster die Nacht geht, ist in jedem Fall eine feuchtkalte Ode an das Hässliche. Was schon mal damit beginnt, dass Zollbeamtin Tina nicht so ist wie alle anderen. Also nicht normal. Das sieht man schon, ihr Gesicht ist deformiert, grobknochig und derb wie das eines Neanderthalers. Ein genetisches Überbleibsel? Nein, womöglich nicht, denn Tina kann Gefühle riechen, oder besser gesagt: wittern. Fast wie ein Tier. Ein Tier ist sie aber auch nicht, dafür benimmt sie sich zu sehr wie ein Mensch, wie ein normaler Mensch. Und trifft irgendwann auf einen, der genauso aussieht wie sie, immer öfter ihren Weg kreuzt oder gar aufkreuzt und in die Hütte hinter ihrem Haus zieht. Vertrauen weckt der finstere Hüne aber nicht. Eher Furcht. Oder Verlangen. Und irgendwann lichtet sich der Wald des Unbekannten, und das, was man vor lauter Bäumen nicht gesehen hat, wird klar erkennbar.

Dabei hat Border die Natur weniger im Blick, als es zu vermuten gewesen wäre. Auch wenn Tina Füchse, Elche und andere Tiere des Waldes mit ins Vertrauen zieht, ist hier nur die zutrauliche Natur eine Reaktion auf etwas anderes. Abassi beschäftigt sich in seinem eigenwilligen Bildnis nicht nur mit der möglichen Subjektivität von Hässlichkeit, sondern auch mit Grenzen im weiteren Sinne. Mit Grenzen nämlich, die die Sicht auf gewohnte Dinge einschränken. Sind diese mal überschritten, ändert sich der Blickwinkel, und das Fremde, Abstoßende, völlig gegen die Norm Gebürstete wird zur logischen Konsequenz. Wann ist das Hässliche normal, und wann das Normale hässlich? Border bringt es auf den Punkt, weil er das Gewohnte pervertiert, das scheinbar Perverse aber nicht schönzeichnet, sondern in einen anders vertrauten Kontext stellt. Das kann zu einer durchaus unliebsamen, mitunter irritierenden Erfahrung werden, weil sich in Border Unerwartetes auftut und wir als Zuseher nicht so schnell schalten können, um das Sonderbare anzunehmen. Doch zum Glück für jene, die aufgeschlossen genug sind: Tinas Schicksal kokettiert ganz eindeutig mit dem uralten Phantastischen, mit den Mythen eben. Dieses Schicksal lässt am modernen Menschen kein gutes Haar und sehnt sich nach einer verschwundenen Vergangenheit. So bizarr Abassis Film aber auch sein mag, so urwütig und misanthrop – zwischendurch lässt sich im Hässlichen etwas Magisches entdecken. Ehe man sich’s versieht, ist es auch schon wieder verschwunden, und das Mythische bleibt entzaubert. Ob ich das will, weiß ich nicht. Ich glaube, eher nicht. In Border wird mir das Phantastische zu real. Und das Gewohnte zu unschön. Doch immerhin überlegt der Film mal ganz was anderes, hebt die Grenzen auch zwischen den Genres auf, und das ist unbequem. Und auch nicht notwendig. Immerhin aber ein Werk, auf das man sich einlassen muss, gerne kann und von mir aus auch soll, das vor allem ambivalent bleibt, das Kryptische in unserer Welt aber dennoch zu wenig wertschätzt.

Border

The Kitchen – Queens of Crime

EIN CLUB DER TEUFELINNEN

4,5/10

 

thekitchen© 2019 Warner Bros.

 

LAND: USA 2019

REGIE: ANDREA BERLOFF

CAST: MELISSA MCCARTHY, ELISABETH MOSS, TIFFANY HADDISH, DOMHNALL GLEESON, JAMES BADGE DALE, MARGO MARTINDALE U. A.

 

Nein, das hat nichts mit Frauen hinterm Herd zu tun. Obwohl – im übertragenen Sinne vielleicht schon. Denn bei den Damen, die in Andrea Berloffs Regiedebüt The Kitchen – Queens of Crime das männliche Geschlecht zu einem entbehrlichen degradieren, handelt es sich um Frauen in der unfreiwilligen Ausübung einer Geschlechterrolle, die mittlerweile längst schon obsolet ist, in den 70ern aber, aus denen der Film berichtet, leider gang und gäbe war – vor allem in der patriarchalisch geführten Unterwelt, in dessen Dunstkreis sich das Drama abspielt. Und die Vermutung liegt nahe, dass The Kitchen klarerweise Hell´s Kitchen ist, also ein Viertel in New York, in dem die irische Mafia das Sagen hat und alles schaukelt, was gesellschaftlich wie wirtschaftlich zu schaukeln ist. Das meiste Geld verdienen die schurkischen Buben mit Schutzgeldern. Irgendwann aber geraten die Ehemänner der drei Frauen bei einem gescheiterten Raubüberfall in die Fänge des FBI – und landen hinter schwedischen Gardinen. Der Weg ist frei für Female Empowerment. Melissa McCarthy, Tiffany Haddish und Elisabeth Moss lassen die frei gewordenen Nischen nicht unbesetzt und raffen sich auf zu einem Rundumschlag auf Augenhöhe mit den übrigen Mannsbildern. Was nicht allen schmeckt. Eigentlich niemanden. Doch es reichen ein paar Ausnahmen, die sich auf die Seite des quirligen Trios stellen und die notwendige Muskelkraft beisteuern.

Hat man zuvor Michael Scorseses Mafia-Epos The Irishman gesehen, können gefühlt fast alle neueren Filme ähnlichen Themas nur resignierend das Handtuch werfen. The Kitchen – Queens of Crime gehört leider auch dazu. So, wie Andrea Berloff das kriminalistische Umfeld der Endsiebziger entwirft, stellen sich motivierte Filmemacher das urbane organisierte Verbrechen vor. Man könnte auch sagen, dass das, was The Kitchen auf die Straßen bringt, durchaus den Hang zum Klischee hat, zu vertrauten Stereotypen, die hier allesamt vorkommen. Was dabei aber erwähnt werden sollte: The Kitchen beruht auf einer mehrteiligen Graphic Novel von DC, ist also tatsächlich eine Comicverfilmung rund um ein Damentrio, das Berloff etwas umdefiniert hat, und zwar etwas in Richtung einer humorbefreiten Version von Bette Midler, Diane Keaton und Goldie Hawn, die im Club der Teufelinnen ihren chauvinistischen Männern gezeigt haben, wer eigentlich die Hosen anhat. McCarthy und Co machen das erstmal ohne Männer, um dann mit ihren besseren Hälften gehörig Schlitten zu fahren.

Wäre das Mafia-Unterwelt-Szenario aus dem eher beliebigen Fertigteil-Baukasten nicht, hätte The Kitchen ein packender Thriller werden können. Zu den Pro- und Antagonisten erschließt sich für mich aber seltsamerweise kein Zugang, die grassierende Skrupellosigkeit der mordenden, gierenden und erpressenden Ladies macht sie letzten Endes auch nicht besser als ihre Männer. Gleiches mit Gleichem zu vergelten ist hier eben die Devise oder: Was mein Mann kann, kann ich auch. Eine ähnliche Prämisse hat die True-Poledance-Story Hustlers. Auch hier zahlen es die Frauen den Männern heim, im Grunde mit den gleichen Mitteln, die der Zweck angeblich heiligen soll. Auf Sympathie stößt das nicht – einzig Elisabeth Moss darf in ihrer Rolle als geprügeltes Opfer dem Terror auf befreiende Weise ein Ende bereiten. Die anderen beiden zeigen eigentlich nur, dass sie sich genauso schlecht benehmen können wie ihre Männer, deren Handeln sie verurteilen. Rache ist ein süßes Wort, das stimmt schon. Kühlt sie ab, hat es im „Battle of the Sexes“ keiner besser gemacht.

The Kitchen – Queens of Crime