Cherry

I GOT GUNS IN MY HEAD AND THEY WON´T GO

6,5/10


cherry© 2021 Apple+


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: ANTHONY & JOE RUSSO

CAST: TOM HOLLAND, CIARA BRAVO, JACK REYNOR, MICHAEL RISPOLI, JEFF WAHLBERG, FORREST GOODLUCK, MICHAEL GANDOLFINI U. A.

LÄNGE: 2 STD 30 MIN


Nur ein freundlicher Junge aus der Nachbarschaft? Mitnichten. Marvel-Shootingstar Tom Holland hat sich ja bereits schon mit der düsteren Ballade The Devil all the Time weit genug von seinem Spiderman-Image wegbewegt. Aber es geht noch weiter. Und zwar mit der Verfilmung eines Romans von Nico Walker, die vom Heldenmythos überhaupt nichts mehr wissen will und seinen Protagonisten in ein Wechselbad schlimmer Erfahrungen wirft, aus dem sich eigentlich kein Normalsterblicher herauswinden würde können. Dabei – und da würde Alanis Morisette zu ihrem Lied Ironic vielleicht noch eine Strophe hinzufügen ­– hängt in dieser überlangen Straße der Verdammnis das Schicksal des jungen Mannes namens Cherry von einem einzigen Umstand ab: und zwar vom Umstand von so etwas augenscheinlich Banalem wie Liebeskummer.

An dieser schmerzlichen Erfahrung ist Uni-Liebe Emily schuld. Nachdem die Beziehung längst schon nach etwas Fixem aussieht, entschließt sich die junge Dame, nach Montreal auszuwandern und mit Cherry Schluss zu machen. Wie denn jetzt? Spidey fällt aus allen Wolken, weiß nicht mehr, wo oben noch unten ist und beschließt aus einem Impuls heraus, die autoaggressive Selbstgeisselung in der Army zu suchen. Das Dumme aber: Emily macht einen Rückzieher, bleibt doch hier, will auch nicht Schluss machen, und kurz bevor Cherry in den Nahen Osten ausrückt, wird noch geheiratet. Völlig klar, dass die Gräuel des Krieges den jungen Mann zumindest psychisch komplett durch den Fleischwolf drehen. Wieder zurück in sicherer Heimat, geht´s nur noch bergab. Und zwar mit Drogen, soweit das blutunterlaufene Auge reicht.

Um zu zeigen, dass die Brüder Russo nicht nur Meister darin sind, im Superhelden- und Actiongenre die roten Fäden ihrer Plots fest in ihren Händen zu belassen, darf’s diesmal etwas Dramatisches sein. Und ja, sie verzetteln sich trotz dieser Fülle an Aspekten auch hier nicht. Ein überstilisierter und satter Abgesang auf den amerikanischen Traum ist ihr Film geworden, ein Abgesang auf Ruhm und Ehre beim Militär; auf die enden wollenden Kapazitäten einer menschlichen Psyche, die beileibe nicht alles aushält, schon gar nicht das von den Waffenlobbys angeheizte Abschlachten unter fremdem Himmel. Die Drogen sind da nur ein Symptom für eine soziale Dysfunktionalität und ein Vorbeiwirtschaften an der Volksgesundheit. Die literarische Vorlage ist mit Sicherheit ein galliges Werk – der Film der Russos zögert hier nicht, diesem Adjektiv nachzueifern, wenngleich hier sehr viele optische Stile ausprobiert werden, hinter denen aber kein System zu stecken scheint und die einfach gar willkürlich variiert werden. Natürlich, das lockert die straffe Abwärtsspirale etwas auf, macht sie nicht träge und larmoyant, sondern gibt ihr eine gewisse sarkastische Note. Zur Groteske ist es nicht mehr weit, und auch gegen Ende hin, wenn alle Stricke reißen, suhlt sich Cherry im heftigen Spiel von Tom Holland. Der hat´s wirklich drauf, vor allem in Szenen wie diese, in der er sich mit der Heroinnadel malträtiert und dabei den Frust seines Daseins gegen die Windschutzscheibe seines Autos brüllt. Direkt peinlich berührt will man da wegsehen, aber es wäre nicht Tom Holland, wenn in seiner Figur nicht noch ein Funken Überlebenswillen wäre. Ein Funke, der immer wieder durchkommt und den Film dann auch trotz seiner intensiven Szenen, die an Aaron Pauls Rolle in Breaking Bad erinnern, erträglich macht.

Erstaunlich einsam sind die beiden Liebenden und halb Sterbenden in diesem großzügigen Mix aus Kriegs-, Drogen- und Liebsdrama. Auf nichts scheint hier Verlass, weder auf Familie noch auf den Staat noch auf irgendeine helfende Hand. Aus dem Dreck, da muss man sich selber ziehen. Ganz allein.

Cherry

The Square

SOS MITMENSCH

6/10

 

square© 2017 Alamodefilm

 

LAND: SCHWEDEN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, DÄNEMARK 2017

REGIE: RUBEN ÖSTLUND

CAST: CLAES BANG, ELISABETH MOSS, DOMINIC WEST, TERRY NOTARY U. A.

 

Vor einigen Jahren schuf der schwedische Filmkünstler Ruben Östlund mit dem satirischen Drama Höhere Gewalt eine messerscharfe Analyse menschlichen Verhaltens: Während eines Familienurlaubs in den französischen Alpen entgehen Mutter und Kinder nur knapp einem Lawinenabgang, während Papa in kopfloser Panik das Weite sucht und seine Liebsten im Stich lässt. Niemand kommt zu Schaden, aber dennoch: was sich danach abspielt, ist wert, zu beobachten. Vier Jahre später schreibt Östlund sein nächstes Werk – ein nicht weniger analytischer, in menschliche Verhaltensbiotope vordringender Zerrspiegel, der dem Homo sapiens auf eine Weise vorgehalten wird, die seltsam unwohl macht, manchmal lächerlich wirkt, und zeitweise verstört. The Square, mit der Goldenen Palme prämiert und für den Auslands-Oscar nominiert, ist ein Film, der mir ganz und gar nicht gefällt. Hinter dem aber ein Konzept steckt, das wiederum brillant ist.

Um nichts anders geht es hier, augenscheinlich betrachtet, als um einen Museumskurator, dem Smartphone und Geldbörse gestohlen wird. Der geht daraufhin zwecks Wiederbeschaffung seines getrackten Elektroteils in die Breitband-Offensive, die aber ungeahnte Wellen schlägt und den egozentrischen Schnösel und Vater zweier Kinder mit den Prinzipien seiner eigenen Lebensart konfrontiert. Umrahmt wird das Geschehen von einer Ausstellung, die den Altruismus zum Thema hat – und in scheinbaren Episoden, die ineinandergreifen, über das Kunstprojekt hinaus den normalen Bildungsbürger an sich zur Installation des Geplanten macht. Das ist sehr viel, was Östlund will, und sehr viel, was ihm anscheinend durch den Kopf geht. Und es spannt einen ziemlich deutlichen Bogen zu eingangs genanntem Werk, das sich im Grunde mit genau demselben Thema beschäftigt: Was ist nötig, um seine eigene Komfortzone zu verlassen und Zivilcourage zu zeigen? Wo liegt die Grenze, um uns selbstlos agieren zu lassen? The Square, also ein Geviert von 4×4 Metern, wird zu Beginn des Filmes unter den Klängen von Johan Sebastian Bach´s Ave Maria vor dem Museum für zeitgenössische Kunst ins Kopfsteinpflaster gesetzt. Ein Zufluchtsort soll es sein, für Respekt, Nächstenliebe und dem Anspruch, dass alle, die die neonbeleuchteten Grenzen der Installation überwinden, mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Wie seltsam, dass es dafür eine Zone braucht. Wäre das nicht selbstverständlich, für den anderen da zu sein? Macht das nicht das Menschsein aus, Hilfe zu leisten, wenn Hilfe vonnöten ist? Natürlich, was für eine Frage. Doch sind wir wirklich bereit dazu? Begeben wir uns nicht selber in Not, wenn wir helfen würden?

Anderen Filmemachern möge die Gewichtigkeit solcher sozialphilosophischen Fragen in all ihrer Euphorie zu Kopf steigen und ihr Werk überfrachten. Östlund passiert das nicht. Seine Szenen sind scheinbar beiläufig, unexaltiert und fast schon so voyeuristisch wie eine Dokusoup. Ein Aufriss bei einem Clubbing, ein Interview über Kunst, Sex mit einer flüchtigen Bekannten – und ein Hilferuf auf offener Straße. Dieser Ruf nach Beistand, der zieht sich durch den ganzen zweieinhalbstündigen Film. Ebenso wie all die Obdachlosen am Straßenrand, in der Einkaufspassage. Oder im Geviert, das Schutz verspricht. Wo ein blondes, verwahrlostes Kleinkind auf Schutz und Hilfe hofft – und von unsichtbarer Hand in die Luft gesprengt wird. Das ist heftiger Tobak, ist aber ein Promotionfilm, der auf die kommende Ausstellung der Künstlerin Kalle Boman, die tatsächlich existiert und tatsächlich dieses Quadrat in der schwedischen Stadt Värnamo installiert hat, aufmerksam machen soll. Das erinnert natürlich an die Geschmacklosigkeiten, die seinerzeit Benetton an die Plakatwand gepappt hat. Das ist eine plumpe, aber effektive Methode der Werbung, die habe ich während meiner Ausbildung zum Grafiker selbst erprobt. Nichts erreicht mehr Response als die schlechte Nachricht, der Skandal, das Unethische. Das ist aber nur eine der narrativen Spitzen von The Square, und dabei will der Film eigentlich überhaupt nicht die moderne Kunst bloßstellen oder als heiße Luft demaskieren. Ganz im Gegenteil. Was hinter dem Konzept Boman´s steckt, ist durchdacht, klug und bewegt den Besucher zur Interaktion. Kunst, die muss längst nicht mehr handwerklich erstaunen. Kunst, die ist viel mehr nur noch eine abstrakte Idee oder ein Gedanke, der sich durch den Kontext alltäglicher Materialien manifestiert. Das hat schon der Franzose Marcel Duchamp gewusst, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sanitärkeramiken zum Kunstwerk erhob. Der Dadaismus ist entstanden, die Idee, Kunst an sich zu hinterfragen. Nicht unbedingt gefällig und schön anzusehen, aber vom Konzept her fast schon genial.

Mit The Square verhält es sich genauso. Östlund´s dunkel-humorige Reise hinter die  verqueren Demarkationslinien menschlichen Handelns ist unbequeme Provokation. Wenn die Grenzen zwischen Tier und Mensch verschwimmen und ein Aktionskünstler in äffischem Verhalten die instinktiven Scheuklappen einer noblen Gesellschaft aktiviert, um die Grenze der Zivilcourage erst knapp vor einer gespielten Vergewaltigung auszuloten, ist eine der verstörendsten Szenen seit langem und erinnert an die Radikalität der Theaterstücke eines Elias Canetti oder Peter Turrini. Wie weit muss man gehen, um zur Intervention zu bewegen? Auch hier ruft die an den Haaren gezogene Dame um Hilfe, und alsbald auch das Gespenst des schlechten Gewissens bei Kurator Claes Beng, der seine eigene Feigheit mit dem Umgang anderer erkennt. Östlund ist ein Filmstratege, ein scharfer Analytiker, der die soziale Verkümmerung des gebildeten Establishments auf nachhaltig irritierende Weise verurteilt. Seine bizarren Szenen über den Verlust von Vertrauen und Respekt wagen soziale Umkehrungen, stellen experimentelle Aufgaben. Angenehm ist das Ganze nicht, Spaß macht es eigentlich auch keinen, und es fordert, auch wenn man gelegentlich lachen muss – doch warum eigentlich? Wie sehr bin ich bei Betrachten dieses Filmes selbst Teil dieser Ausstellung, dieses beklemmenden Manifests? Bin ich noch Affe, oder schon Mensch? Der Affe in uns, der hat auch hier seine metaphorische Rolle.

Selten gibt es Filme, die so eine psychosoziale Ohrfeige verpassen. Das tut weh, und es gefällt mir nicht, und dann frage ich mich: brauche ich das denn? Allerdings: muss The Square überhaupt gefallen? Sollte der Film nicht eher aufwühlen? Letzteres tut er, und das mit System. Und wir stellen fest: The Square kann überall sein. Egal, wo wir sind. Am liebsten jenseits unserer Komfortzone. Dort, wo wir uns genauso wenig wohlfühlen wie in diesem Film.

The Square

Der Himmel wird warten

REKRUTEN FÜR DEN GOTTESSTAAT

7/10

 

himmelwirdwarten© 2017 Neue Visionen

 

LAND: FRANKREICH 2016

REGIE: MARIE-CASTILLE MENTION-SCHAAR

MIT NOÉMIE MERLANT, NAOMI AMARGER, SANDRINE BONNAIRE, CLOTILDE COREAU, ZINEDINE SOUALEM U. A.

 

Der IS, die Sekte des Terrors, fehlgeboren aus der Religion des Islam, arbeitet mit den gleichen Mitteln wie alle anderen radikalen Vereine, die so tun, als würden sie eine Religion vermitteln: mit Gehirnwäsche, werbewirksamer Verführungskunst und Lügen, die einzig darauf abzielen, Ängste zu schüren. Im Grunde wirbt der IS wie seinerzeit der Katholizismus mit der Absolution durch den Ablasshandel. Was hätten diese geld- und machtgierigen Bonzen damals nur alles Erdenkliche noch tun können, wären sie durch soziale Medien wie Facebook oder YouTube vertreten gewesen? Die damals relativ leichtgläubige, furchtsame und vor der Obrigkeit devote Welt wäre dem Papst noch mehr zu Füssen gelegen als es tatsächlich der Fall war. Erzählen lässt sich schließlich viel, auch das Blaue vom Himmel mit all seinen Jungfrauen. Und die Hölle, die gibt es immer noch. Aus dem Konzept gerissen erscheinen diese Methoden ziemlich lächerlich – gelingt es aber, den noch formbaren Geist eines jungen Menschen an den Angelhaken perfider Manipulation zu bekommen, wird es erst richtig gefährlich. Genau davon berichtet Mention-Schaar´s Film über die Krümmung des guten Willens und das Brechen junger Seelen.

Dabei erzählt Der Himmel wird warten zwei Geschichten, die erst am Ende das Missing Link zueinander sichtbar machen. Die ineinander verwobenen Episoden schildern detailliert die Radikalisierung eines französischen Teenagers in eine Islamistin, die sich nur zu gerne für einen Einsatz in Syrien rekrutieren lässt. Auf der anderen Seite sehen wir eine Metamorphose in die andere Richtung, von der Resozialisierung in ein normales Leben. Die Mechanismen, die für beide Richtungen jeweils angewandt werden, sind erstaunlich gut extrahiert. Blickt man in die Abgründe sowohl während der Befreiung aus einer verzerrten Realität als auch während der Vergiftung des Geistes durch den Fanatismus islamistischer Rattenfänger, lassen sich für einen Außenstehenden Warnsignale gut erkennen und abgrenzen. Für einen Gefangenen inmitten diffuser Wahrheiten, die nichts als Propaganda sind und als Fake News auf den ersten Blick logisch erscheinen mögen, ist die Abgrenzung vor dem „Bösen“ leichter gesagt als getan.

Der Himmel wird warten basiert lose auf dem Buch der Sozialpsychologin Dounia Bouzar (die auch im Film sich selbst spielt) und ist ein Pflichtprogramm für Schulen rund um den Erdball. Klar auch, dass dieses Lehrstück über Manipulation aus Frankreich kommt, hat dieses Land nicht genug Scherereien mit den scheinbar wahllos wie Metastasen aufpoppenden Terrorismus, der Stadt und Land in Angst und Schrecken versetzt hat. Doch nicht nur Frankreich, auch Österreich hat das eine oder andere Opfer vom Kreuzzug in den Nahen Osten abhalten können – manche wiederum nicht. Der vorliegende Film ist brisanter denn je, und so geradlinig und edukativ in seiner Szenenwahl, dass sich Schülerinnen und Schülern richtigen Alters die faschistoiden Mechanismen nicht nur im Moment, sondern auch merkbar für die Zukunft sonnenklar erschließen. Der Himmel wird Warten ist eine Präventivmaßnahme fürs Kino und für den Fernseher aus dem Lehrerzimmer. Ein Film, der gezeigt werden muss, gefährliches Denken im Ansatz ersticken kann oder gar nicht gleich aufkommen lässt. Anfang der Achtziger war es der semidokumentarische Sekten-Film Ticket to Heaven mit Kim Catrall und Saul Rubinek, der das Leben nach der Gehirnwäsche präzise schildert. Nicht zu vergessen Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Die schonungslose Drogenstory nach Tatsachen war zu meiner Schulzeit das Aufklärungskino schlechthin. Zwar manchmal notwendig reißerisch, dafür aber Mittel zum Zweck. So und nicht anders funktioniert das Medium Film, wenn es einen Bildungsauftrag erfüllen muss. Und dieser Auftrag besteht. Auch dafür muss Kino eine Plattform sein.

Der Himmel wird warten