Petite Maman – Als wir Kinder waren

ELTERN AUF AUGENHÖHE

7,5/10


petitmaman© 2021 pyramidfilms


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: CÉLINE SCIAMMA

CAST: JOSÈPHINE SANZ, GABRIELLE SANZ, NINA MEURISSE, STÉPHANE VARUPENNE, MARGOT ABASCAL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Je älter man wird, umso schwerer wird das Leben. Da sollte man meinen: wenn schon schwerer, dann zumindest sollte das Kind in einem selbst ausreichend Resilienz gewährleisten, denn kommt dieses zu kurz, schaut’s trostlos aus. Bei Erwachsenen ist das oftmals so. Die Welt der Großen ist nichts zum Lachen, denn all die Schwierigkeiten, die einem dann begegnen, können nur mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und einem präventiven Hang zum Pessimismus bewältigt werden. Langweilig! Und ein völlig falscher Ansatz. In diesem Dunstkreis will Erziehung folglich auch noch funktionieren. Aber wie, wenn das Kind nur von oben herab seine Anweisungen bekommt. Ihm gesagt wird, dass es die Probleme der Erwachsenen ohnehin nicht versteht. Nochmal: langweilig! Und schade um jeden Tag. Da wär’s doch mal schön, sich selbst noch mal als Kind zu begegnen, in der Hoffnung, vielleicht diesmal die juvenile Sicht der Dinge mitzunehmen in die knochentrockene Realität. Zu oft vergisst man: wir alle waren mal selbst verspielt. Und was wäre gewesen, hätten wir, jung und unschuldig, mit unserem eigenen Nachwuchs die Zeit verbracht?

Céline Sciamma (Portrait einer jungen Frau in Flammen) hat darüber eine die Grenzen des Realen aushebelnde Parabel formuliert, in welchem sich Vergangenheit und Gegenwart überlappen. Inmitten dieser erstaunlichen metaphysischen Begebenheit findet sich die achtjährige Nelly, die gemeinsam mit ihren Eltern das Haus der kürzlich verstorbenen Großmutter entrümpeln soll. Gar nicht so eine einfache Sache, zumindest für Nellys Mutter nicht. Diese trauert ob des Verlustes, hat überhaupt eine gewisse Schwermut in sich, mit der Nelly wenig anfangen kann. Der Vater ist da eher distanziert, aber fürsorglich. Eines Tages verschwindet Mama, keiner weiß wirklich, wohin. Am selben Tag aber lernt Nelly im Wald nahe dem Haus ein Mädchen kennen, dass ihr auffallend ähnlich sieht. Seltsamerweise trägt sie den gleichen Namen wie ihre Mutter. Und auch das Haus, in dem sie wohnt, gleicht jenem der eigenen Oma sogar bis auf die Küchentapete.

Diese wundersame Begegnung ist ein Mysterium, das der polnische Kinomagier Krysztof Kieslowski (Die zwei Leben der Veronika) wohl vielleicht selbst gerne inszeniert hätte, würde er noch leben. Fernab jeglichen Budenzaubers und sonstiger phantastischer Versatzstücke ist die Inhärenz einer anderen Zeit und das Treffen von Mutter und Tochter im Kindesalter eine Begebenheit, die selbst nicht Thema des Films ist. Sie ist auch nicht Thema der beiden Kinder, die um alles in der Welt versuchen würden, das Geheimnis zu lüften. Dieses ist einfach da – wie so vieles auf dieser Welt. Viel wichtiger und erquickender ist der Umgang miteinander, das Ergründen des Wesens der jeweils anderen und das Abenteuer, das beide miteinander erleben. Dazu gehören Unfug, Humor, kreatives Teamwork und die Erkundung magischer Orte. Das gemeinsame Übernachten und das Backen von Crêpes. Sciamma inszeniert zurückhaltend und scheint gar, die beiden Zwillinge improvisieren zu lassen, fängt dabei ihre unverfälschte Dynamik ein und bildet daraus eine eigene (sozial)pädagogisch orientierte Meinung. Was, wenn unsere Kinder uns selbst auf Augenhöhe begegnen? Könnten Sie uns dann, als Erwachsene, besser verstehen? Diese Chance bekommt Nelly zum Geschenk.

Ein kleines Geschenk ist Petite Maman – Als wir Kinder waren auf alle Fälle. Nicht nur für Mutter und Tochter im Film, sondern auch für uns Zuseher. Trotz der recht reduktionistischen und lakonischen Ausgestaltung entstehen an diesem Ort zwischen den Zeiten ganz eigene, zärtlich formulierte Momentaufnahmen kindlicher Sichtweisen, die wie Balsam nicht nur auf den Seelen desillusionierter Erwachsener wirken. Mit Petit Maman ist vorübergehend mal Schluss mit dem Belächeln derer, die sich ihr Kindsein bewahrt haben. Die beste Voraussetzung, Generationen zu verbinden.

Petite Maman – Als wir Kinder waren

Synchronic

VOLLE DRÖHNUNG ZEITREISE

7/10


synchronic© 2021 XYZ Films


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: JUSTIN BENSON, AARON MOORHEAD

CAST: ANTHONY MACKIE, JAMIE DORNAN, KATIE ASELTON, ALLY IOANNIDES, RAMIZ MONSEF U. A. 

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Diese beiden Filmemacher, die werde ich mir von nun an merken: Justin Benson und Aaron Moorhead. US-amerikanische Independentfilmer mit einer Vorliebe für das Entrückte, Unerklärliche, ohne dabei in panische Angst zu geraten. Und ohne die Ambition, diese panische Angst in jahrmarktkonformer Plakativität auf sein Publikum übertragen zu müssen. Im speziellen Monsterdrama After Midnight, vom Duo produziert, war deren stilistischer Einfluss bereits unübersehbar. Synchronic funktioniert hier ähnlich. Und entschleunigt dabei so ziemlich im Alleingang einen recht durchgekauten Filmtyp. Fast schon schulterklopfend besänftigt der Streifen eine diesem Genre zugrundeliegende Aufgeregtheit, um auf die kleinen Dinge und Details hinzuweisen, die sich in menschliche Dramen stehlen, welche an sich nicht mal das geringste mit dem Paranormalen zu tun haben wollen. Die aber in den sauren Apfel beißen müssen, um die Ordnung im Diesseits wieder herzustellen.

Anthony Mackie ist hier mit einem fürchterlich ausdruckslosen Jamie Dornan (u. a. Fifty Shades of Grey) unterwegs, die als Sanitäter des öfteren zu äußerst obskuren Notfällen eilen. Erklären lassen sich diese vielleicht durch eine Droge namens Synchronic. Die Frage, was es damit wohl auf sich hat, wird lange Zeit vernachlässigt. Ist halt so – Drogenkonsum führt meist zu fatalen Endsituationen. Bis aber die Tochter seines Buddys verschwindet. Natürlich hat auch sie eine dieser Designerpillen geschluckt und sitzt vermutlich irgendwo in der Vergangenheit fest. Anthony Mackie wassert nach, probiert die Dinger selber aus und filmt sich dabei – als wohl faszinierendstes Kernstück des Films. So hat man das Austricksen der Timelines noch nicht gesehen.

Synchronic ist also ein Zeitreisefilm. Nicht schon wieder, könnten sich manche denken. Aber ehrlich gesagt: von Zeitreisefilmen kann ich zum Beispiel nicht genug bekommen. Vor allem dann nicht, wenn manch ein filmender Philosoph auf ganz andere Ideen kommt als bisher. Die Zeitreise in Form von Pillen zu verabreichen – das ist neu. Und entsprechend innovativ ist Synchronic auch geworden. Nichts mit De Loreans oder energetischen Lichtkugeln. Keine Portale oder sonst was. Um den linearen temporären Flow zu verlassen braucht’s nur einen Schluck Wasser nach – und schon geht der Trip in die Vollen. Benson und Moorhead haben sich da nette Kurzausflüge überlegt – jedoch keine Reise durch die Zeit, ohne Gefahr zu laufen, auf unkonventionelle Weise abzukratzen. Kein vergnügliches Chuck-Berry-Geschrumme in den 50ern wie Marty McFly uns das vorgemacht hat? Nein, natürlich nicht. Das zu kommunizieren war den Filmemachern wichtig. Das sagt auch Anthony Mackie in einer speziellen Szene, und nicht zufällig hört sein Hund auf den Namen eines großen Physikers, wie seinerzeit Einstein der Köter von Doc Brown hieß.

Trotz seiner düsteren Stimmung und seinem bedrohlichen, unruhestiftenden Score ist Synchronic kein pessimistischer Low-Budget-Abgesang auf menschliche Werte. Eigentlich, und das lässt sich erst am Ende so richtig spüren, genau das Gegenteil. Synchronic ist nachdenklich und unaufgeregt, manchmal hängt der rote Faden ein bisschen zu locker durch, und manchmal sind die expliziten Betrachtungen offener Wunden nicht wirklich nötig. Doch am Ende spannt der in der physikalischen Kustorkammer herumkramende Film einen geflissentlichen Bogen über das ganze leise Phänomen, lässt Mackie zum Time Bandit werden, nur ohne Gottes Karte. Die Zeit heilt alle Wunden? Vielleicht. Mit ziemlicher Sicherheit schafft sie allerdings auch neue.

Synchronic

In the Shadow of the Moon

KOMMT ZEIT, KOMMT TAT

6/10

 

in-the-shadow-of-the-moon© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: JIM MICKLE

CAST: BOYD HOLBROOK, CLEOPATRA COLEMAN, MICHAEL C. HALL, BOKEEM WOODBINE U. A. 

 

Wer kein Blut sehen kann, sollte die Ermittlungen im vorliegenden Science-Fiction Thriller getrost jemand anderem überlassen. Natürlich ist das noch lange nichts gegen den Hämoglobin-Neuanstrich im Stanley-Hotel bei Shining, aber immerhin – wenn scheinbar x-beliebige Opfer plötzlich nicht nur Nasenbluten haben (dabei könnten sie ja den Kopf in den Nacken legen, ein nasskaltes Tuch auf selbigem, wir wissen das seit der Volksschule) sondern auch aus Ohren, Augen und sonstigen uns unbekannten Öffnungen im Kopfbereich ordentlich auszurinnen beginnen, dann färbt das mitunter auch die Straßen rot. Mit solchen Fällen nämlich hat es Officer Lockhart zu tun – oder auch nicht zu tun, denn der ist nur ein gewöhnlicher Streifenpolizist, der sich aber ins Geschehen drängt, will er doch um Biegen und Brechen ähnlich spannende Ermittlungen durchführen wie sein Schwager, der den Verdacht hegt, es mit einem Serienkiller zu tun zu haben. Neben der Tötungsart ist noch etwas ganz anderes äußerst mysteriös: drei Nadelstiche im Nacken – könnte Akupunktur sein, ist es aber nicht. Zu allem Unglück in dieser besagten Nacht, die noch dazu einen Blutmond zur Folge hat, kommt dazu, dass Lockhart Papa wird, während Mama die Geburt nicht überlebt. Was dieses Schicksal mit dem Fall zu tun hat? Sehr viel, wie sich später herausstellen wird. Und auch ein farbiges Mädchen in blauem Hoodie scheint in dieser Nacht äußerst präsent zu sein.

Das Bemerkenswerteste an dieser Netflix-Produktion ist der enorme Zeitraum des Geschehens. Die obskuren Fälle werden lange nicht aufgeklärt, Officer Lockhart, der irgendwann gar kein Officer mehr ist, sondern nur noch Privatdetektiv, entwickelt fast schon eine dürrenmatt´sche Verbissenheit samt innerer wie äußerer Verwahrlosung bei seinem Versuch, das Rätsel zu lösen. Regisseur Jim Mickle setzt in seinem Spiel mit der Zeit aber längst nicht auf epische Versatzstücke. Wichtig dabei ist lediglich ein ganz bestimmter Tag pro Dekade, der sämtliche Parameter wieder neu ordnet. In the Shadow of the Moon ist ein elegant gefilmter, urbaner Kriminalfilm in polizeilichem Sirenenblau und Halogenlicht, das hat ein bisschen Achtzigerjahre-Style, ein bisschen wie Black Rain oder Glitzernder Asphalt, nur weniger auf cooler Typ, sondern – und das trotz all des vielen Nasenblutens – ungewöhnlich zartbesaitet. Passt das zum übrigen Kontext des Films? Eigentlich schon. In Mickles Zeitreisekrimi geht’s ganz viel um Streben nach dem Gutmensch, auch wenn man das anfangs gar nicht glauben möchte. Es hat was Philosophisches, ungefähr so wie der mittlerweile zum Klassiker avancierte Predestination, der sehr geschickt mir den entropischen Dimensionen spielt. Doch so raffiniert ist In the Shadow of the Moon dann doch nicht geworden. Etwas zu gefühlsduselig, und das Hauptproblem neben dieser Tendenz ist Hauptdarsteller Boyd Holbrook, der mich irgendwie an Jason Segel erinnert hat und diese prinzipiell schwierige Rolle eines weltvergessenen, verschrobenen Ermittlers über eine so lange Zeit hinweg mit etwas deplatzierter unfreiwilliger Komik und sichtlich gefakter Kopf- und Gesichtsbehaarung selten glaubhaft transportieren kann.

Abgesehen davon ist das schwer fassbare Mysterium Zeit ein gern gesehener Studiogast im verschwurbelten Raum-Zeit-Kontinuum der Science-Fiction, Filme wie 12 Monkeys haben da gehörig Biss, komödiantisch gesehen sowieso Zurück in die Zukunft. In the Shadow of the Moon fährt da eher die entspannte Schiene, klaubt sich so manches aus dem Genre zusammen und findet nichtsdestotrotz seine Stimmigkeit, das aber eher das Werk eines fleißigen Schülers als das eines Meisters ist.

In the Shadow of the Moon