Beyond the Infinite Two Minutes

IM CAFÉ ZWISCHEN DEN ZEITEN

8/10


beyondtheinfinite© 2022 Busch Media Group


LAND / JAHR: JAPAN 2020

REGIE: JUNTA YAMAGUCHI

BUCH: MAKOTO UEDA

CAST: KAZUNARI TOSA, RIKO FUJITANI, GÔTA ISHIDA, MASASHI SUWA, AKI ASAKURA, YOSHIFUMI SAKAI U. A.

LÄNGE: 1 STD 10 MIN 


Ich hätte gerne einen Kakao. Aber bitte einen von Droste. Und zwar jenen, den die abgebildete Nonne auf der Box der abgebildeten Nonne auf der Box der abgebildeten Nonne auf der Box der abgebildeten Nonne serviert. Ja, das könnte man unendlich fortsetzen. Die Rede ist vom Phänomen Mise en abyme, was ungefähr gleichzusetzen ist mit einem Fass ohne Boden. Anders bekannt ist der Blick ins Unendliche auch als Droste-Effekt, eben basierend auf dem grafischen Entwurf besagter Kakao-Verpackung. Wir kennen das vielleicht am ehesten noch aus Aufzügen – da gibt es manche, deren Innenraum zumindest auf zwei Seiten verspiegelt ist. Auch hier zeigt der Spiegel den Spiegel von gegenüber, der wiederum den Spiegel von gegenüber zeigt, der wiederum… Der Blick hinein ist unendlich. Ein Kuriosum, das in der Kunst oder eben auch in der Werbegraphik ab und an gerne verwendet wird. Auch in der Mandelbrot-Fraktale oder im Apfelmännchen lässt sich besagte Form im Zoom jedesmal neu entdecken.

Aus solchen Spielereien könnte man einen Film machen? Ist passiert. Und was wäre, würde man hier noch zusätzlich die vierte Dimension einfügen? Würde das dann das Raum-Zeit-Gefüge sprengen? Vielleicht, warum nicht. Einfach probieren, dachten sich ein paar Japaner, die mit kaum Budget, Smartphone und in One Shot-Manier eine Gedankenakrobatik ausgearbeitet hatten, die ihre Premiere während der Pandemie gerade mal vor einem Publikum von zwölf Personen feierten. Macht auch nichts, alles ist relativ, dafür ist Beyond the Infinite Two Minutes mittlerweile ein Renner auf allen möglichen Festivals. Man sieht wieder: Originelle Ideen brauchen kein tonnenschweres und sauteures Equipment. Um erfolgreich zu sein, müssen sie einfach als gute Geschichte funktionieren, und sei es auch nur als feierabendliche Anekdote nach Kassaschluss irgendwo in Kyoto in einem kleinen Café im Parterre eines Wohnhauses.

Kato, der Besitzer des Ladens, wird in seiner Wohnung via Bildschirm ganz plötzlich von sich selbst angesprochen. Das Ich aus dem Bildschirm erzählt ihm etwas Unglaubliches: Er sei aus der Zukunft, allerdings nur zwei Minuten von der Gegenwart entfernt. Er selbst würde gleich hinunter ins Kaffeehaus gehen und ihm dasselbe nochmal selbst sagen. Kato macht die Probe aufs Exempel – und sieht sich tatsächlich vom Bildschirm des Wifi-Computers aus dem Laden in seiner Wohnung vor zwei Minuten.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt prustet man los oder verschluckt sich gar an seinem Popcorn. Wie abgefahren ist das denn? Damit nicht genug. Mit der Zeit scharen sich immer mehr Leute um dieses Phänomen, und einer von ihnen hat gar die Idee, den Droste-Effekt zu erzeugen, wenn beide Bildschirme gegenüberstehen. Gesagt, getan – der Blick in die Zukunft und in die Vergangenheit geht immer weiter, aus zwei werden vier werden sechs Minuten… Bis das ganze Experiment dazu genutzt wird, Profit zu lukrieren – und ganz andere Gestalten auf den Plan ruft, die Schlimmstes verhindern wollen.

Was für eine angenehm entrüschtes Spin-Off zur Zeitreise-Thematik? Dark, das Multiverse of Madness, die TVA aus Loki: Vieles davon vielleicht eine Spur zu verkopft. Wie wär‘s mit einem Pocket-Manual zum praktischen Gebrauch? Zur eigenen Do it Yourself-Erschaffung einer alternativen Zeitebene? Zur sofortigen Anwendung und mit garantiertem Spaß-Faktor? Beyond the Infinite Two Minutes ist einer jener kleinen großen Würfe, die beweisen, dass es beim Filmemachen auf die Idee und den Willen ankommt, diese umzusetzen. Dass Improvisation, Freude am Fabulieren und kindliche Neugier alles sind, um sein Publikum verblüffen zu können. In diesem Nippon-Workshop in Sachen SciFi fehlen Naturgesetzen manchmal die Argumente, ist die Zukunft längst nicht in Stein gemeißelt und obendrein laden frisch gebrühte Paradoxone entspannt zum Smalltalk ein.

Beyond the Infinite Two Minutes

Boss Level

GUTEN MORGEN, LIEBE SORGEN

6,5/10


boss_level© 2021 Leonine


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: JOE CARNAHAN

CAST: FRANK GRILLO, NAOMI WATTS, MEL GIBSON, WILL SASSO, ANNABELLE WALLIS, MICHELLE YEOH, KEN JEONG U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Da ist es unserem geschätzten Bill Murray innerhalb seiner Zeitschleife ja noch ganz gut ergangen. Der notorische Misanthrop hat zwar allen die Freude am Alltag versaut und einmal gar das Murmeltier entführt, aber so wirklich schlechte Karten waren da nicht im Spiel. Zumindest nicht im Vergleich zur Situation von Frank Grillo, den Sylvester Stallone bei seinem in den Startlöchern stehenden Expendables 4 gefälligst mit auf die Gästeliste nehmen sollte. Denn den gern gebuchten B-Movie-Star und Marvel-Schurken mit dem Körperbau eines Arnold Schwarzenegger zu seinen besten Zeiten kitzelt des Morgens nicht die Sonne, sondern die scharfe Klinge einer Machete. Wer um alles in der Welt hat es auf Söldner Roy um diese Zeit schon abgesehen? Und warum? Keine Ahnung, wie viele Tode der Mann erlitten haben muss, um irgendwann beim nächsten Hahnenschrei entsprechend pfeilschnell reagieren zu können. Natürlich hängt Grillo, wie er selbst bald feststellt, in einer Zeitschleife. Was ja an sich schon irgendwie nervig erscheint, es sei denn, man arbeitet sich zum Menschenfreund durch wie Phil Connors. Doch an diesem einen Tag scheint es die ganze Welt auf den wuchtigen Schönling abgesehen zu haben. Von der Klingen-Amazone bis zum Gatling-Virtuosen spielt hier der Tod alle Stücke. Und Grillo macht den Hasen, während er versucht, Licht ins Dunkel seines Dilemmas zu bringen, sich um seinen Sohn zu kümmern und das Ende der Welt zu verhindern. Ein bissl viel für einen Wochentag.

Grillo hat aber echt Spaß daran. Boss Level ist ein großzügig ironisches Guilty Pleasure, ein knackiges, bunt bebildertes B-Action-Movie, in dem der Verputz nur so von den Wänden bröckelt. Überraschenderweise finden wir hier Charakterdarstellerin Naomi Watts. Warum eigentlich nicht, mal was ganz anderes. Ausnahmsweise ist das hier mal kein Film, den Cineasten auf der Liste haben müssten. Tut gut, hier zwischen Bomben und Granaten und vom Halse rutschenden Köpfen relativ unentdeckt zu bleiben. Als Miesepeter fungiert der auf schnelle Kinokost umgesattelte Mel Gibson, der es immerhin noch besser draufhat als Bruce Willis und den zigarrenrauchenden Neureichen gibt, der das Geld hat und somit anschafft. An der Besetzungsliste ist also nicht geschludert worden – und selbst die wasweißichwievielte Version des Murmeltiertags, die sogar schon Tom Cruise in Edge of Tomorrow interpretieren hat müssen, macht hier, unter Joe Carnahans Regie (The Grey, Smokin‘ Aces) durchaus und noch viel besser mit Bier und Knabberzeugs gute Laune.

Der richtige Spaß an der Sache entsteht aber erst, als unser Actionheld versucht, den Tag unter Aufgebot all seiner Multitasking-Kenntnisse so hinzubiegen, dass letzten Endes alles seine Ordnung hat. Wie in einem Konsolenspiel heißt es hier Game Over nach Game Over, und da es mehrere Tasks zu erledigen gibt statt nur den einen, nämlich sich selbst zu einem besseren Menschen zu machen, frohlockt bei diesem Szenario die Neugier, einfach wissen zu wollen, welche Prioritäten der gute Mann nun setzen muss. Und die Tage, an denen alles misslingt – nun, da spricht Grillos Resignation einem fast schon aus der Seele.

Boss Level

Synchronic

VOLLE DRÖHNUNG ZEITREISE

7/10


synchronic© 2021 XYZ Films


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: JUSTIN BENSON, AARON MOORHEAD

CAST: ANTHONY MACKIE, JAMIE DORNAN, KATIE ASELTON, ALLY IOANNIDES, RAMIZ MONSEF U. A. 

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Diese beiden Filmemacher, die werde ich mir von nun an merken: Justin Benson und Aaron Moorhead. US-amerikanische Independentfilmer mit einer Vorliebe für das Entrückte, Unerklärliche, ohne dabei in panische Angst zu geraten. Und ohne die Ambition, diese panische Angst in jahrmarktkonformer Plakativität auf sein Publikum übertragen zu müssen. Im speziellen Monsterdrama After Midnight, vom Duo produziert, war deren stilistischer Einfluss bereits unübersehbar. Synchronic funktioniert hier ähnlich. Und entschleunigt dabei so ziemlich im Alleingang einen recht durchgekauten Filmtyp. Fast schon schulterklopfend besänftigt der Streifen eine diesem Genre zugrundeliegende Aufgeregtheit, um auf die kleinen Dinge und Details hinzuweisen, die sich in menschliche Dramen stehlen, welche an sich nicht mal das geringste mit dem Paranormalen zu tun haben wollen. Die aber in den sauren Apfel beißen müssen, um die Ordnung im Diesseits wieder herzustellen.

Anthony Mackie ist hier mit einem fürchterlich ausdruckslosen Jamie Dornan (u. a. Fifty Shades of Grey) unterwegs, die als Sanitäter des öfteren zu äußerst obskuren Notfällen eilen. Erklären lassen sich diese vielleicht durch eine Droge namens Synchronic. Die Frage, was es damit wohl auf sich hat, wird lange Zeit vernachlässigt. Ist halt so – Drogenkonsum führt meist zu fatalen Endsituationen. Bis aber die Tochter seines Buddys verschwindet. Natürlich hat auch sie eine dieser Designerpillen geschluckt und sitzt vermutlich irgendwo in der Vergangenheit fest. Anthony Mackie wassert nach, probiert die Dinger selber aus und filmt sich dabei – als wohl faszinierendstes Kernstück des Films. So hat man das Austricksen der Timelines noch nicht gesehen.

Synchronic ist also ein Zeitreisefilm. Nicht schon wieder, könnten sich manche denken. Aber ehrlich gesagt: von Zeitreisefilmen kann ich zum Beispiel nicht genug bekommen. Vor allem dann nicht, wenn manch ein filmender Philosoph auf ganz andere Ideen kommt als bisher. Die Zeitreise in Form von Pillen zu verabreichen – das ist neu. Und entsprechend innovativ ist Synchronic auch geworden. Nichts mit De Loreans oder energetischen Lichtkugeln. Keine Portale oder sonst was. Um den linearen temporären Flow zu verlassen braucht’s nur einen Schluck Wasser nach – und schon geht der Trip in die Vollen. Benson und Moorhead haben sich da nette Kurzausflüge überlegt – jedoch keine Reise durch die Zeit, ohne Gefahr zu laufen, auf unkonventionelle Weise abzukratzen. Kein vergnügliches Chuck-Berry-Geschrumme in den 50ern wie Marty McFly uns das vorgemacht hat? Nein, natürlich nicht. Das zu kommunizieren war den Filmemachern wichtig. Das sagt auch Anthony Mackie in einer speziellen Szene, und nicht zufällig hört sein Hund auf den Namen eines großen Physikers, wie seinerzeit Einstein der Köter von Doc Brown hieß.

Trotz seiner düsteren Stimmung und seinem bedrohlichen, unruhestiftenden Score ist Synchronic kein pessimistischer Low-Budget-Abgesang auf menschliche Werte. Eigentlich, und das lässt sich erst am Ende so richtig spüren, genau das Gegenteil. Synchronic ist nachdenklich und unaufgeregt, manchmal hängt der rote Faden ein bisschen zu locker durch, und manchmal sind die expliziten Betrachtungen offener Wunden nicht wirklich nötig. Doch am Ende spannt der in der physikalischen Kustorkammer herumkramende Film einen geflissentlichen Bogen über das ganze leise Phänomen, lässt Mackie zum Time Bandit werden, nur ohne Gottes Karte. Die Zeit heilt alle Wunden? Vielleicht. Mit ziemlicher Sicherheit schafft sie allerdings auch neue.

Synchronic

Tenet

BE KIND REWIND

7/10

 

tenet© 2020 Warner Bros. GmbH

 

LAND: USA 2020

REGIE: CHRISTOPHER NOLAN

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, ROBERT PATTINSON, ELIZABETH DEBICKI, KENNETH BRANAGH, MICHAEL CAINE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 30 MIN

 

Time is on his side: wenn Christopher Nolan über die Zeit nachdenkt, dann ist das garantiert nicht so, als würden Marty McFly und sein väterlicher Freund Doc Brown darüber nachdenken. Nein, es mag schon, gelinde gesagt, einen Tick komplizierter sein. Nolan, der denkt nicht nur darüber nach, er brütet vor sich hin. Sinniert, philosophiert. Jedenfalls versucht er, wie viele andere auch (die womöglich daran gescheitert sind), diesem Mysterium Zeit mithilfe eines logisch scheinenden Testversuchs auf die Spur zu kommen. Sorry, lieber Akribiker, du wirst letzten Endes scheitern. Denn die Zeit, die mag zwar in deinen Filmen stets auf deiner Seite sein – sobald man ihr ernsthaft auf den Grund kommen will, ist sie dein einziger Feind. Und ja, in Tenet (lat. für Grund- oder Glaubenssatz) ist sie das wirklich, sowohl storytechnisch als auch letzten Endes als Stich in die gedankliche Zeitblase.

Egal ob Memento, Inception, Interstellar, ja sogar in Dunkirk – das temporäre Gefüge, die linear ausgerichtete Entropie, ist für Nolan stets der gordische Knoten, den er nicht, wie Alexander der Große, einfach zerschneiden will. Er will ihn auseinanderfriemeln. Jedes Mal versucht er es aufs Neue, und jedes Mal sind es andere Ansätze. In Tenet findet er wieder einen komplett neuen Zugang, wie aus dem Ei gepellt. In seinem bereits vom Covid-müden Kinopublikum heiß ersehnten Science-Fiction-Thriller bekommen Dinge und Personen nämlich die Möglichkeit, zu invertieren. Das heißt, sie und ihre freigesetzte Energie werden zeitlich umgekehrt, laufen rückwärts. Der Zeitstrahl dürfte bei Tenet dabei linear verlaufen – von Paralleluniversen, die das Großvater-Paradoxon aushebeln könnten, ist eigentlich keine Rede. In diesem linear verlaufenden, entropischen Zeitstrahl also kann man sich selbst zurückspulen. Das heißt – man schafft keine andere Vergangenheit oder Zukunft, diese bleiben konstant. Verändert wird nicht das große Ganze, wie eben in Zurück in die Zukunft oder The Butterfly Effect. Die Zeit wird in Tenet erstmals in der Geschichte des Films zu einem – sagen wir mal so – nutzbaren Gegenstand, wie eine Waffe oder ein Werkzeug. Und verblüfft dabei das Publikum mit einem der ältesten Tricks des Kinos. Noch dazu spricht im global umherhetzenden Tenet einiges dafür, das Agenten-Franchise eines James Bond jemand ganz anderem zu vererben: einem Protagonisten namens John David Washington, der eine ausgesprochen charismatische Figur macht. Blöd nur, dass Nolan ihn vorweggenommen hat, sonst wäre er nach Daniel Craig der ideale Kandidat.

Der Geheimagent aus Tenet jedenfalls packt die Sache enorm integer an, nimmt die Möglichkeit einer Zeitumkehr gebührlich ernst, ohne aber aufs Augenzwinkern zu vergessen. Vergessen sollte man auch nicht, dass das Mindfuck-Kino mit Tenet auch seinen Zenit erreicht hat. Darüber hinaus wird’s dann nur noch verschwurbelt und das Publikum könnte verärgert den Hut draufhauen, weil es von Anfang bis Ende nicht mehr mitkommt. Tenet ist inhaltlich entsprechend herausfordernd, die Parameter der Zeit bieten ordentlich viele Leos für Logikhürden, die nicht gemeistert werden können, fallen aber wenig ins Gewicht. Kann sein, dass man hin und wieder den Faden verliert, dass man auf Details am Rande, die untergehen, zufrieden pfeift, weil die ausgearbeitete Strenge des Films mit all seinem typisch erdfarbenen Nolan-Kolorit und dem Rohbau-Kubismus ohnehin fasziniert. Ganz verstehen wird Tenet ohnehin niemand, man kann die Komplexität, die vielleicht auch nur vorgibt, eine solche zu sein, ohnehin nicht ergründen. Und vielleicht soll das auch gar nicht der Fall sein, da der Mystizismus um die vierte Dimension in diesem Film ein stilvoll servierter Appetizer ist, der als Spielwiese obskurer Gedankengänge voller verbogener Logik Gusto aufs Grübeln macht.

Tenet

In the Shadow of the Moon

KOMMT ZEIT, KOMMT TAT

6/10

 

in-the-shadow-of-the-moon© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: JIM MICKLE

CAST: BOYD HOLBROOK, CLEOPATRA COLEMAN, MICHAEL C. HALL, BOKEEM WOODBINE U. A. 

 

Wer kein Blut sehen kann, sollte die Ermittlungen im vorliegenden Science-Fiction Thriller getrost jemand anderem überlassen. Natürlich ist das noch lange nichts gegen den Hämoglobin-Neuanstrich im Stanley-Hotel bei Shining, aber immerhin – wenn scheinbar x-beliebige Opfer plötzlich nicht nur Nasenbluten haben (dabei könnten sie ja den Kopf in den Nacken legen, ein nasskaltes Tuch auf selbigem, wir wissen das seit der Volksschule) sondern auch aus Ohren, Augen und sonstigen uns unbekannten Öffnungen im Kopfbereich ordentlich auszurinnen beginnen, dann färbt das mitunter auch die Straßen rot. Mit solchen Fällen nämlich hat es Officer Lockhart zu tun – oder auch nicht zu tun, denn der ist nur ein gewöhnlicher Streifenpolizist, der sich aber ins Geschehen drängt, will er doch um Biegen und Brechen ähnlich spannende Ermittlungen durchführen wie sein Schwager, der den Verdacht hegt, es mit einem Serienkiller zu tun zu haben. Neben der Tötungsart ist noch etwas ganz anderes äußerst mysteriös: drei Nadelstiche im Nacken – könnte Akupunktur sein, ist es aber nicht. Zu allem Unglück in dieser besagten Nacht, die noch dazu einen Blutmond zur Folge hat, kommt dazu, dass Lockhart Papa wird, während Mama die Geburt nicht überlebt. Was dieses Schicksal mit dem Fall zu tun hat? Sehr viel, wie sich später herausstellen wird. Und auch ein farbiges Mädchen in blauem Hoodie scheint in dieser Nacht äußerst präsent zu sein.

Das Bemerkenswerteste an dieser Netflix-Produktion ist der enorme Zeitraum des Geschehens. Die obskuren Fälle werden lange nicht aufgeklärt, Officer Lockhart, der irgendwann gar kein Officer mehr ist, sondern nur noch Privatdetektiv, entwickelt fast schon eine dürrenmatt´sche Verbissenheit samt innerer wie äußerer Verwahrlosung bei seinem Versuch, das Rätsel zu lösen. Regisseur Jim Mickle setzt in seinem Spiel mit der Zeit aber längst nicht auf epische Versatzstücke. Wichtig dabei ist lediglich ein ganz bestimmter Tag pro Dekade, der sämtliche Parameter wieder neu ordnet. In the Shadow of the Moon ist ein elegant gefilmter, urbaner Kriminalfilm in polizeilichem Sirenenblau und Halogenlicht, das hat ein bisschen Achtzigerjahre-Style, ein bisschen wie Black Rain oder Glitzernder Asphalt, nur weniger auf cooler Typ, sondern – und das trotz all des vielen Nasenblutens – ungewöhnlich zartbesaitet. Passt das zum übrigen Kontext des Films? Eigentlich schon. In Mickles Zeitreisekrimi geht’s ganz viel um Streben nach dem Gutmensch, auch wenn man das anfangs gar nicht glauben möchte. Es hat was Philosophisches, ungefähr so wie der mittlerweile zum Klassiker avancierte Predestination, der sehr geschickt mir den entropischen Dimensionen spielt. Doch so raffiniert ist In the Shadow of the Moon dann doch nicht geworden. Etwas zu gefühlsduselig, und das Hauptproblem neben dieser Tendenz ist Hauptdarsteller Boyd Holbrook, der mich irgendwie an Jason Segel erinnert hat und diese prinzipiell schwierige Rolle eines weltvergessenen, verschrobenen Ermittlers über eine so lange Zeit hinweg mit etwas deplatzierter unfreiwilliger Komik und sichtlich gefakter Kopf- und Gesichtsbehaarung selten glaubhaft transportieren kann.

Abgesehen davon ist das schwer fassbare Mysterium Zeit ein gern gesehener Studiogast im verschwurbelten Raum-Zeit-Kontinuum der Science-Fiction, Filme wie 12 Monkeys haben da gehörig Biss, komödiantisch gesehen sowieso Zurück in die Zukunft. In the Shadow of the Moon fährt da eher die entspannte Schiene, klaubt sich so manches aus dem Genre zusammen und findet nichtsdestotrotz seine Stimmigkeit, das aber eher das Werk eines fleißigen Schülers als das eines Meisters ist.

In the Shadow of the Moon

A Ghost Story

PSYCHOGRAMM EINER SEELE

9/10

 

aghoststory© 2017 Universal Pictures GmbH

 

LAND: USA 2017

REGIE: DAVID LOWERY

CAST: CASEY AFFLECK, ROONEY MARA, MCCOLM CEPHAS JR., KENNEISHA THOMPSON U. A. 

 

Ehrlich gestanden habe ich die Sichtung von David Lowerys Streifen A Ghost Story lange Zeit hinausgezögert. Was ich erwartet hatte, wäre ein in Gedankenwelten zurückgezogenes Trauerdrama gewesen, auf eine Art, mit welcher sich Terrence Malick gerne identifiziert: bis zum Bersten voll mit inneren Monologen, bedeutungsschwer, so philosophisch wie esoterisch. Irgendwann hat Malick da nicht mehr die Kurve gekriegt, seine Filme wurden zu gedehnten, handlungsarmen Exkursen, prätentiös bis dorthinaus. A Ghost Story, so dachte ich mir, teilt ein ähnliches Schicksal. Doch wie sehr kann man sich täuschen. Spätestens zu Allerheiligen war dann doch Zeit (Ich passe meine Filmauswahl durchaus gerne an gesellschaftliche Ereignisse an), A Ghost Story von der Watchlist zu streichen. Und es war eine gute Entscheidung: Lowerys Film ist ein Erlebnis, oder sagen wir gar: eine Begegnung der dritten, der anderen Art. Ein Film über Geister, wie ihn so womöglich noch keiner gesehen hat. Denn das Paranormale ist hier weit davon entfernt, den Lebenden an den Kragen zu wollen wie in knapp 90% aller Geistergeschichten im Kino. Wer sich an Furcht und Schrecken laben, wer den Adrenalinpegel erhöhen will, der muss sich andere Filme ansehen – nur nicht A Ghost Story. Und das ist gut, sehr gut sogar. Wie erlösend, sich dem Wesen eines Geistes zu nähern, ohne dass das Blut in den Adern gefriert, wenngleich das zaghaft Unheimliche neugierig darauf macht, sich mit den Dingen jenseits von Himmel und Erde näher zu befassen: Was ist ein Geist, was bleibt von der Person, die er im Laufe seines Lebens war, und welche Rolle spielt die Zeit?

Vergessen wir einfach Ghost – Nachricht von Sam. Der von Jerry Zucker inszenierte Blockbuster aus den frühen Neunzigern hat Patrick Swayze erfahren lassen, was es heißt, zwar tot zu sein, aber noch nicht ins ewige Licht gehen zu können. In A Ghost Story ist es Casey Affleck, der bei einem Autounfall ums Leben kommt, nicht als Toter, sondern als Seele erwacht und in ein Leichentuch gehüllt durch das immer fremder werdende Diesseits wandelt, mit dem Ziel, zurückzukehren ins Zuhause, wo Rooney Mara über ihn trauert. Da steht er nun, verharrt zwischen seinen vier Wänden, blickt durch zwei schwarze Augenlöcher durch die Gegend und auf den Menschen, der ihm wichtig war. Er ist ein Gespenst, die Essenz eines Individuums, die Idee eines Ichs. Wie viel davon bleibt? Weiß der Geist, wer er ist? Weiß er, was er hier tut? Und wie nimmt er den Lauf der Dinge wahr, der zwangsläufig erfolgen muss, in dieser entropischen Dimension. Der Geist selbst ist diesem Verfall erhaben. Wir sehen ihm zu, wie er anderen zusieht, die kommen und gehen. A Ghost Story ist keine Trauermär, kein Bewältigungsprozess – viel mehr ein Überwältigungsprozess, der zum Ziel hat, alles Irdische abzustreifen. Lowerys Symbolsprache, seine Wahl auf die simpelste Ikonographie, die ein Gespenst haben kann, nämlich ein weißes Bettlaken und zwei Augen, die setzt auch den Begriff Geist auf seine Starteinstellungen zurück. Dabei gewandet er dieses Psychogramm in eine stille Ode an die Vergänglichkeit, an die Erinnerung und das Vergessen. Tatsächlich weilt dieses lakonische Meisterwerk meist jenseits irgendeiner Sprache. Der Geist schaut stumm, und so schaut auch seine Umgebung größenteils stumm auf ihn zurück. Mitunter schafft er es, sich bemerkbar zu machen – dieser Schritt ins Übersinnliche, näher zu unserem eigenen verschwindenden Glauben an das Spitituelle, kommt uns seltsam bekannt vor. Es sind Geräusche, mehr nicht. Sie scheinen wichtiger als das gesprochene Wort, und wenn Lowerys namenlose Personen sprechen, dann tun sie das gebündelt, dann philosophieren sie über den temporären Wert unseren sinnhaften Tuns.

A Ghost Story ist eine cineastische Erfahrung, eine wunderschöne Meditation zwischen Leben und Tod, und seltsamerweise eine Liebeserklärung an das Endenwollende. Im Bildformat 4:3, mit abgerundeten Kanten und der Optik eines am Dachboden wiederentdeckten Super 8-Films wirkt das Drama noch mehr wie das Tor in eine andere Welt, die wiederum durch den Geist in unsere eigene blickt und in welcher Zeit nur Mittel zum Zweck ist, dem Drängen nach etwas Unerledigtem nachzugehen. Alles ist subjektiv, auch die Wahrnehmung des Endes. Das und eigentlich noch viel mehr weiß die einsame Seele, und lässt uns zumindest einen Blick auf eine völlig unerwartete Wahrheit erhaschen.

A Ghost Story

VERBORGENE SCHÖNHEIT

TROST VON FREMDEN

6,5/10

 

verborgeneschoenheit

REGIE: DAVID FRANKEL
MIT WILL SMITH, KATE WINSLET, EDWARD NORTON, HELEN MIRREN

 

Will Smith war immer schon ein stets gut aufgelegter, sympathischer Schauspieler. Kennengelernt haben wir ihn alle als Prinzen von Bel Air, und als Men in Black oder als Kampfpilot, der zum Independence Day Aliens den Allerwertesten versohlt, bleibt er unvergessen. Stets mit einem Schmunzeln im Gesicht und aus dem Ärmel geschüttelten, coolen Onelinern. Ein liebenswerter Kerl. Und dann der Imagewandel. Ja, warum eigentlich nicht? Als Schauspieler muss man ja auch zeigen können, dass man wirklich Talent hat und auch ernste Rollen bravourös verkörpern kann. Also am besten gleich gestern den Agenten damit beauftragen, anspruchsvolle Filmrollen zu buchen. Independence Day-Fortsetzungen bitte außen vorlassen. Ob das die richtige Entscheidung war? Sagen wir mal – Jein.

Will Smith ist einer von den Guten. Jemand, dem man gerne dabei zusieht, wie er mit links die Welt, die Liebe oder sonst wen rettet. Humoristisch, ja. Und sieht man ihm dabei gerne zu, wie er sich selbst rettet? Nun ja, es kommt auf die Geschichte an. Schon in dem Vater-Tochter-Sozialdrama Das Streben nach Glück haben wir den Afroamerikaner von einer ernsteren Seite kennengelernt. In Sieben Leben wurde es noch düsterer. Und in Verborgene Schönheit können Smiths Mundwinkel kaum mehr stärker nach unten gebogen, die Stirn nicht noch mehr gerunzelt werden. Will Smith gibt sich der ewigen Trauer hin. Eine Tatsache, die das Kinopublikum, vor allem das Amerikanische, nicht wirklich sehen will. Daher wurde David Frankel´s durchaus komplexes Filmdrama zu einem Flop.

Allerdings zu unrecht. Frankel, der Regisseur der rundum gelungenen und immer wieder gern gesehenen Fashion-Komödie Der Teufel trägt Prada, trägt unterm Strich flächendeckend etwas zu dick auf und verwöhnt seine Figuren mit pathetischen Blicken, Gesten und Worten. Doch die Story selbst, die hat was. Aus irgendeinem Grund fällt mir Die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens ein, oder gar James Stewart in Ist das Leben nicht schön. Beides bewegende Geschichten zur Weihnachtszeit. So spielt auch Verborgene Schönheit zur stillsten Zeit des Jahres. Und hinterfragt im Stile eines modernen Märchens den Sinn des Lebens und des Weiterlebens. Wenn Liebe, Zeit und Tod die wandelnde Trauerweide namens Will Smith heimsuchen, sind das die griffigsten Momente des Films. Und wenn dann nicht nur Will Smith, sondern auch Kate Winslet und Edward Norton völlig unbedarft in die Schule des Lebens hineinmanövriert werden, teilt das zwar die Handlung auf mehrere Erzählstränge, kommt aber überraschend unerwartet. Und bevor sich der Vorhang des metaphysischen Szenarios überhaupt zur Gänze lichtet und Vieles klarer wird, erschließt sich bereits ein grobes Gesamtbild des Helfens und Geholfenwerdens.

Verborgene Schönheit meint es gut, manchmal aber zu gut. Wenn Helen Mirren als der Leibhaftige darauf hinweist, auf die titelgebende Eigenschaft zu achten, mag das zwar geheimnisvoll sein – verborgen bleibt die Bedeutung dahinter allerdings auch nach dem Film. Will Smith sucht nach Erlösung, so wie Scrooge und „George Bailey“ James Stewart. Spätestens da meldet sich das Universum, das Verborgene hinter dem alltäglichen Leben. Vielleicht hat der Film das damit gemeint? Dass die Dinge mehr Bedeutung haben als sie vorgeben. Ein Trost, wenn auch nur einer auf der Leinwand.

VERBORGENE SCHÖNHEIT