White Snail (2025)

FAST GESTORBEN IST NOCH AM LEBEN

7/10


© 2025 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2025

REGIE / DREHBUCH: ELSA KREMSER & LEVIN PETER

KAMERA: MIKHAIL KHURSEVICH

CAST: MARYA IMBRO, MIKHAIL SENKOV, OLGA REPTUKH, ANDREI SAUCHANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Als Romanze würde ich den neuen Film des Traumpaares des österreichischen Films nicht bezeichnen. Romanze wäre zu banal, zu einfach. Was sich in White Snail entfaltet, sind nicht nur die empfindlichen Stielaugen weißer Landschnecken, die behutsam und zaghaft ins Ungewisse hinein einige Millimeter machen. Zwei Menschen, irgendwo am Rande der Gesellschaft und doch mittendrin, wissen auf jeweils unterschiedliche Weise, wie unnatürlich (oder natürlich) oft die eigene Existenz vom Tod begleitet wird. Man könnte fast meinen: unentwegt.

Francis Bacon der Pathologie

Denn Misha, der ist Pathologe in einem Krankenhaus in Minsk, obduziert das über den Jordan gewanderte belarussische Volk und wahrt dabei klinische Distanz, während er daheim auf unzähligen, teils auch riesenhaften Leinwänden all die Erfahrungen, die er täglich macht, und all die zerschnittenen und beschädigten Körper, denen er begegnet, auf seine Weise verewigt. Es sind Bilder, die unweigerlich an die Arbeiten von Francis Bacon erinnern, es sind surreale, traumhafte, poetische und zugleich grausame Bilder, fast schon sakral, das Imperfekte des menschlichen Körpers geradezu vervollkommnend. Gemalt hat diese Bilder Mikhail Senkov. Schauspieler ist der Mann keiner, agiert vor der Kamera dafür aber umso besser. Vielleicht, weil er die eigen Biografie mit in den Charakter bringen kann, ganz so wie seine Filmpartnerin, Marya Imbro, eine faszinierende Persönlichkeit, weiße Haut, weißblondes Haar, intensiver Blick. Marya spielt Masha, eine Modelschülerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aus Belarus rauszukommen. Ihr Vater sitzt bereits in Polen und tut alles, damit Frau und Kind nachkommen können. Derweil jedoch hadert Masha mit etwas sehr Dunklem in ihrer Seele, was sie nach einem Suizidversuch ins Krankenhaus bringt – an jenen Ort, an dem sich Misha und Masha zum ersten Mal begegnen, oder besser gesagt: Masha sieht Misha, wie er mit den Toten hantiert. Und der Tod scheint sie zu faszinieren. Sie will wissen, was Misha mit den Leichen anstellt – und klopft eines späten Abends an die Tür der Pathologie.

Durch den Tod verbunden

Das Traumpaar, das sind nicht nur Misha und Masha, sondern Elsa Kremser und Levin Peter, bislang bekannt geworden durch recht spezifische Dokumentarfilme, die sich mit den Schicksalen russischer Hunde beschäftigen: Ihr Debütfilm trägt den Titel Space Dogs, fünf Jahre später folgt Dreaming Dogs. Ihr Wechsel in den fiktionalen Film hätte kaum besser funktionieren können. Mit einem Gespür für innere Zustände, nicht zynischer, aber trotziger Lakonie und einem immanenten Gefühl, andauernd auf der Suche zu sein nach etwas bestimmbar Unbestimmten, bringen Kremser und Peter zwei mit dem Tod Verwandte und Verliebte einander näher, ohne sie aufeinander zuzustoßen. Langsam, wie zwei Schnecken, kriechen sie umeinander herum, beobachten sich, ertasten sich. Ein herbstdunkles Psychogramm ist White Snail geworden, das in seiner leisen Metaphysik an Krzysztof Kieślowski erinnert, im Umgang mit dem transzendent Natürlichen und Mythischen spricht White Snail eine Sprache, die auch Ildikó Enyedi (Körper und Seele) spricht, zwischen nackter, harter Physis und dem Rätselhaften jenseits des Urbanen, Profanen, Erschlossenen.

Nicht als Anti, aber als Fast-Romanze lässt sich die Begegnung der beiden dann doch betrachten. Ein klassisches Annähern ist das natürlich nicht, umso interessanter, extravaganter und ungewöhnlicher erscheint hier die Möglichkeit, einander viel zu geben, ohne sich für die Zukunft zu irgendetwas bekennen zu müssen.

White Snail (2025)

Disco Boy (2023)

TANZEN IM RHYTHMUS DES GEGNERS

5,5/10


discoboy© 2023 FILMS GRAND HUIT – DUGONG FILMS – PANACHE PRODUCTIONS ET LA COMPAGNIE


LAND / JAHR: FRANKREICH, POLEN, BELGIEN, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: GIACOMO ABBRUZZESE

CAST: FRANZ ROGOWSKI, MORR N’DIAYE, LAETITIA KY, LEON LUČEV, MATTEO OLIVETTI, ROBERT WIECKIEWICZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Bevor die Vorstellung beginnt, folgender Verweis: Epileptiker seien gewarnt vor starkem Stroboskoplicht während der Ausstrahlung des Films. Tatsächlich sind die Szenen, die dem titelgebenden Disco Boy in Aktion zeigen, äußerst dünn gesät – und die blinkenden Lichter, die das Auge malträtieren, glänzen durch schonende Abwesenheit. Denn Franz Rogowski hat als Weißrusse Aleksej mit Ausdruckstanz vor rhythmisch kreisendem Gefolge herzlich wenig am Hut. Diesen Traum träumt jemand ganz anderer. Beide werden im Laufe der Geschichte aufeinandertreffen, diese Begegnung wird Lebenswelten über den Haufen werfen. Am Ende werden sich die Fremden geborgen fühlen und die Geborgenen fremd, es ist ein assoziatives Spiel mit Träumen, Erscheinungen und Astralreisen. Wenn man es auf US-banalen Fantasyklamauk herunterbrechen würde, wäre der vergleich mit Freaky Friday als Arthouse-Kinoversion für vermeintlich Intellektuelle gar nicht mal so verkehrt.

Mit dem Wechselspiel zwischen den Identitäten haben sich schon wunderbare Filmwerke machen lassen. Disco Boy gehört nicht zwingend dazu. Er nimmt seine Geschichte, obwohl humorbefreit, nicht ganz so ernst, wie er uns, seinem Publikum, weismachen will. Hinter dem Metaphysischen der Existenz liegt die banale Welt eines Zauberspiels, das mit im wahrsten Sinne des Wortes überaus augenscheinlicher Symbolik spielt.

Dieser Aleksej also schafft es über Polen bis nach Frankreich, dort treibt es ihn zuallererst ins Rekrutenbüro der Fremdenlegion. Dort, so sagt der Film, können selbst illegal Eingewanderte ihren Dienst in die gute Sache von Frankreichs Militärmacht stellen. Nach fünf Jahren des Überlebens winkt die französische Staatsbürgerschaft und ein wohlklingend frankophoner Name. Nur bis dahin heisst es ins saftige Gras des Dschungels beißen, wenn es zum Beispiel nach Nigeria geht, um französische Geschäftsmänner aus den Klauen der Rebellengruppe MEND (Movement of the Emancipation of Niger Delta) zu befreien. Aleksej macht seine Sache gut, alles sieht danach aus, als hätten wir es mit feuchtheißer Dschungelaction zu tun, doch der Schein trügt. Auf der anderen Seite steht schließlich Jomo (Korr N’Diae), Anführer der Gruppe und dessen Schwester Udoka (Laetitia Ky), die schon längst von hier fortwill. Beiden ist eigen, dass sie unterschiedlich gefärbte Augen haben, eines hell, das andere dunkel. Als Aleksej dann im Dickicht des nächtlichen Dschungels auf Jomo trifft, gibt’s für einen von beiden kein Morgen mehr. Was dann passiert, entzieht sich jeglicher Realität, wie so oft in diesem vom Geisterglauben und dem Transzendentem durchdrungenen Afrika, dass, auch schon wie in Omen, die Tore zu diversen Zwischenwelten offenhält.

Fremde in der Fremde, die in die Fremde gehen. Giaccomo Abbruzzese erzählt in seinem Spielfilmdebüt eine entrückte Fabel mit schönen, aber uninspirierten Bildern. Afrikanischer Kitsch trifft auf Expendables, ein selbstbewusster Stil will sich nicht so recht durcharbeiten durch all das fantastisch-reale Flirren. Es ist ein Effekt, den man ab und an in den Filmen von Werner Herzog entdeckt – sperrige Sequenzen mühen den Zuseher ab, obwohl der Plot per se gar keine Anstrengung erfordert. Prätentiös wäre das richtige Wort, Bescheidenheit in diesem astralen Konflikt entspricht nicht den Sehnsüchten der beiden Männer, um die es hier geht. Die Sehnsucht nach einem alternativen Lebensentwurf und die Möglichkeit, diesen auch zu praktizieren, treibt die Fremden alle um. Viel mehr weiß Abbruzzese dann nicht mehr zu berichten. Weit vor Mitte des Films wird klar, welche Richtung das metamorphe Schicksal einschlagen wird. Viel Mühe macht sich Disco Boy nicht, im Streben nach einer schmucken Fassade für sein Existenzdrama scheut der Film aber nie zurück. Die Möglichkeit, etwas tiefer in diesen Kosmos einzudringen, wird verweht, als hätte Disco Boy zwei eigene Türsteher, die unsereins nicht einlassen. Gerne hätte ich mehr von Udoka erfahren. Schöner wäre es gewesen, Rogowski und eben jene aparte Gestalt im Gewissenkonflikt aufeinandertreffen zu lassen. Das Simple jedoch obsiegt. Der Look, obgleich unnahbar, sitzt. Erfüllte Sehnsüchte fühlen sich anders an.

Disco Boy (2023)

Green Border (2023)

MENSCHEN OHNE RECHTE

6/10


greenborder© 2023 Piffl Medien / Agata Kubis


LAND / JAHR: POLEN, TSCHECHIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: AGNIESZKA HOLLAND

DREHBUCH: AGNIESZKA HOLLAND, GABRIELA LAZARKIEWICZ-SIECZKO, MACIEJ PISUK

CAST: JALAL ALTAWIL, MAJA OSTASZEWSKA, TOMASZ WLOSOK, BEHI DJANATI ATAI, MOHAMAD AL RASHI, DALIA NAOUS, PIOTR STRAMOWSKI, JAŚMINA POLAK, MARTA STALMIERSKA, AGATA KULESZA U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Über zweieinhalb Stunden reichen fast nicht, um Schicksale wie diese zu erzählen. Es sind Zustände, die an die finsterste Zeit in Europa erinnern – oder die Dystopie eines totalitären Polizeistaates vorwegnehmen, der Polen vielleicht einmal sein wird. Das ganze Szenario in Schwarzweiß zu halten, trägt nicht unwesentlich dazu bei, auch an Steven Spielbergs Schindlers Liste zu erinnern, der von einer Zeit berichtet, in der Menschen wie Vieh behandelt, entrechtet und enteignet wurden. Misshandelt, ermordet – und keine Träne nachgeweint. So sehr das auch nach Drittem Reich klingt: Ein lebendiges, denkendes Wesen so zu behandeln, als wäre es minderwertig – diese Klaviatur des Grauens spielt es immer noch. Und zwar nicht irgendwo im tiefsten Afrika, in Russland oder im Nahen Osten. Solche Töne schlägt man an der Außengrenze der ach so liberalen, alles und alle verbindenden Europäischen Union an, wenn syrische, afghanische oder Flüchtlinge von sonst wo ihr Leben aufs Spiel setzen, um dieses zu schützen. Sie gehen nicht den Weg der bürokratischen Ordnung, sondern stehlen sich über die grüne Grenze zwischen Weißrussland und Polen – das geht schneller, ist einfacher, und wenn man die entsprechenden Verbindungen spielen lässt, die Verwandte, die es bereits geschafft haben, in petto haben, könnte der Traum vom sicheren Leben Wirklichkeit werden. Denn Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, zu trinken, zu essen und zu schlafen – sind Grundbedürfnisse des Menschen, die gewährleistet werden müssen. Das sagt nicht nur die UN Menschenrechtserklärung, das sagt auch der Menschenverstand, sofern er nicht vom autoritären Populismus so weit durchgeknetet wurde, um dann einer Doktrin zu folgen, die man kaum für möglich hält, würde man es nicht mit eigenen Augen sehen.

Unsereins im sicheren Nest irgendwo geborgen in Österreich oder Deutschland, mit garantiertem Einkommen, Wohlstand und zum Bersten gefüllten Supermärkten – wir bekommen solche Zustände gerade mal wohldosiert über die täglichen Nachrichten mit. Und auch dann nur, wenn diese die Freiheit genießen, unabhängig zu berichten. Das ist längst nicht selbstverständlich, man muss schließlich nehmen, was man vorgesetzt bekommt. Oder man fährt selbst dorthin, an den Ort des Geschehens, um sich ein Bild zu machen, ohne Zensur, ohne Propaganda, sondern direkt, echt und schrecklich.

In dieses Grauen wirft sich Agnieszka Holland mit allem, was sie zur Verfügung hat. Als wäre sie eine Korrespondentin vor Ort, folgt sie einer sechsköpfigen Familie auf Schritt und Tritt, von den Sitzplätzen im türkischen Billigflieger bis zum Stacheldrahtzaun, der mehr schlecht als recht die grüne Grenze markiert. Ökotouristen hätten mit dieser Waldgegend wohl eine helle Freude – die Biomasse ist enorm, Elche und Wölfe lassen sich sehen, zwischen den flechtenbewachsenen Bäumen kilometerweit nur Sumpf und Morast, in dem man leicht versinken kann. Außerdem ist es bitterkalt, Wasser ist knapp, zu essen gibt es nichts, und der Akku des Smartphones ist leer. Als die Familie polnischen Boden erreicht, werden sie aufgegriffen und nach Belarus zurückgeschickt. Es ist schmerzlich, mitanzusehen, wie schwangere Frauen Kartoffelsäcken gleich über den Drahtverhau geschmissen werden. Wie andere getreten, schikaniert und eingeschüchtert werden. Betroffenheitskino par excellence schafft Holland hier aufzuziehen, nah am Menschen, die Kamera herumwirbelnd, das Elend einfangend, als wäre ihr Film nicht fiktiv, sondern reine Dokumentation.

Dass Green Border eben alles ist, nur keine True Story, erkannt man an dem Bedürfnis, alles anzureißen und nichts auszulassen – Keine Sichtweise, kein Schicksal, kein noch so tragisches Ereignis. Zweifelsohne macht die Machtwillkür der bösen Grenzsoldaten, die fast alle indoktriniert wurden, einfach nur wütend, man wünscht ihnen alles nur erdenklich Schlechte und könnte sich selbst motiviert fühlen, wäre man einer ähnlichen Situation ausgesetzt, mit den Aktivisten gemeinsame Sache zu machen. Die Lust an der Rebellion ist das, was Holland entfacht. Die Wut, die Ohnmacht, es ist schlichtweg eine Schande, diesen Missstand ertragen und mittragen zu müssen. Den obligaten Umdenker bei den Grenzschützern gibt es aber dann doch. Genauso wie die selbstlose Lebensretterin, die für ihren Mut alles aufs Spiel setzt. Es gibt die, die sich aus blinder Verzweiflung, aber auch völlig grundlos den Löwen zum Fraß vorwerfen und den Lichtstreifen am Horizont.

Green Border will alles sagen, alles erwähnen, nichts schuldig bleiben, scheint dann aber bald unter seiner Last zusammenbrechen. Überambitioniert und anklagend donnert das wuchtige Werk über den Zuseher herein, der nicht weiß, wohin mit seiner Entrüstung, der sich irgendwann davon distanzieren muss, und die Chance ergreift, aus dieser Distanz eine gewisse reisserische Plakativität zu erkennen, eine pflichterfüllende Agenda, um als humanitäres Manifest zu funktionieren. Das alles ist rechtschaffen und völlig richtig, packend auch und verstörend. Vielleicht aber hätte ein Blickwinkel gereicht, vielleicht wäre es auch besser gewesen, den Film in Farbe und nicht in Schwarzweiß anzulegen, um so diesem Werk mehr von seiner künstlerischen Distanz zu nehmen. Filme wie der ukrainische Klondike, der eine kleine Geschichte aus nur einer Perspektive erzählt und gelegentlich mit Metaphern spielt, hat letztlich mehr Wirkung als die radikale Direktheit eines aus den Fugen geratenen Universaldramas.

Green Border (2023)