Talk to Me (2022)

SHAKEHANDS MIT DEN TOTEN

7/10


TalkToMe© 2023 capelight pictures


LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2022

REGIE: DANNY & MICHAEL PHILIPPOU

DREHBUCH: BILL HINZMAN, DANNY PHILIPPOU

CAST: SOPHIE WILDE, ALEXANDRA JENSEN, JOE BIRD, OTIS DHANJI, MIRANDA OTTO, ZOE TERAKES, CHRIS ALOSIO, MARCUS JOHNSON, ALEXANDRIA STEFFENSEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Einmal nur einen Blick ins Jenseits erhaschen. Wäre das nicht was? In Flatliners reizte diese Vorstellung eine Gruppe junger Medizinstudenten so sehr, dass sie den Wahnsinn beging, sich selbst sterben zu lassen – um dann wieder reanimiert zu werden. Doch das Diesseits hat Regeln und Grenzen. Man sollte schon mit einer gewissen Endgültigkeit das Zeitliche segnen, um in den Genuss der Wahrheit am anderen Ufer des Styx zu kommen. Der Fährmann Charon fordert nicht umsonst einen Tribut, und wenn dann manche wieder umkehren, um daheim zu prahlen, wie cool das nicht war, das Licht am Ende des Tunnels gesehen zu haben, so ist das fast schon als Missbrauch einer „göttlichen Ordnung“ zu verstehen. Überdies bringt so eine Vermengung der Dimensionen einiges in Unordnung. Nebenwirkungen sind die Folge, Geister lassen sich sehen, Albträume plagen die Probanden.

Auf ähnliche Weise treibt es die Partygesellschaft im vorliegenden australischen Horrorfilm ziemlich bunt. Doch diese jungen Leute hier sind weder Studenten noch streben sie eine noch so geartete wissenschaftliche Erkenntnis an. Für diese Jungs und Mädels ist das Spiel mit der Unterwelt sowas wie Activitiy für die Generation Scheißdrauf. Die auf Social-Media-Kanälen jeden Schwachsinn zum Trend macht und dabei ablacht, als gäbe es kein Morgen mehr. Statt Flaschendrehen heißt es diesmal Händeschütteln, was erstmal nicht so spannend klingt, doch in Wahrheit ist diese Hand, die es zu berühren gilt, eine magische. Genauer gesagt die eines verblichenen Nekromanten, dessen Kräfte aber immer noch in seinen Extremitäten stecken, die man ihm abgenommen hat. Dieser mumifizierte Griffel also steht auf dem Couchtisch im Eigenheim von irgendeinem Young Adult, der das Ganze natürlich filmt und online stellt. Die Challenge ist, diese Hand zu ergreifen und die verheißungsvollen Worte Talk to Me zu rezitieren. Sodann erscheint aus dem Nichts ein Geist, der nicht weiß, wie ihm geschieht, der aber die Möglichkeit in Betracht zieht, wieder mit seiner heißgeliebten Welt zu kommunizieren, die er einst verlassen hat müssen.

Es wäre kein Horrorfilm, würden diese Toten nicht in ihrem ramponierten Letztzustand erscheinen, von Krankheit und Fäulnis gezeichnet oder schwer verletzt. Milchige Augen starren auf den mutigen Diesseitler, der seine Grenzerfahrung noch mit den Worten Ich lass dich rein so weit steigern kann, dass der Tote in den Körper des Lebenden dringt. Es ist, als würde man sich einen nassen Socken mit nur einer Hand anziehen – bei manchen gelingt das leichter, bei manchen wird’s zur Tortur. Auch die junge Mia (Sophia Wilde), deren Mutter an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben ist, pfeift auf die Ordnung der Dinge und triggert das Chaos. Jedes Mal ist das Triezen der Toten ein Kick für alle. Es wird gestaunt, gealbert und verarscht. Und irgendwann will auch der kleine Bruder von Mias bester Freundin ran. Dass Kinder wohl eher davon lassen sollen, sagt schon die Vernunft, doch davon besitzen all die Anwesenden nicht viel. Der Trip wird zum Desaster, die Toten finden einen Weg zu bleiben. Es muss nur der lebende Körper sterben, um übernommen zu werden.

Von Social Media für (oder gegen) Social Media und darüber hinaus: Die Brüder Danny und Michael Philippou, die mit ihrem zweifelhaften Youtube-Kanal RackaRacka immer wieder für Aufsehen und Kontroversen sorgen, haben ihren ersten Spielfilm gedreht – und lassen mit ihrem Die-Geister-die- ich-rief-Grusel auch wirklich nichts anbrennen. Wo Flatliners noch eher im Spielfeld der Mystery zu verorten war, spielt Talk to Me die Nihilismus-Karte aus. Dabei ist der Thriller bei weitem nicht nur darauf aus, sein Publikum zu erschrecken und mit blutigen Gewaltspitzen zu verstören. Ihren Film treiben so manche seelische Traumata um, die mit Verlustangst, Trauer und Verantwortung zu tun haben. Gerade letzteres, nicht nur gemünzt auf das digitale Sodom und Gomorrha, auf das wohl jeder noch so grüne, unbedarfte Halbwüchsige Zugriff haben kann, wird zur großen Gretchenfrage in einer Dekade, in der alles gefakt, alles erlaubt und Respekt dem Spaß im Wege steht. Den dahinterstehenden Hedonismus verbindet ein Gefühl des Abfeierns bis zum Weltuntergang, denn der, könnte man meinen, steht kurz bevor. In diesem emotionalen Dunst aus Alkohol, frechen Sprüchen und Selbstmitleid haben die Toten leichtes Spiel. Man könnte nun vermuten, dass die im Jenseits böse sind, doch sie werden getrieben von einem radikalen Eigennutz, der beunruhigt. Immer wieder dringt Talk to Me in eine panikmachende Düsternis vor, die vor allem die Furcht vor einer Sache verbreitet: dem Alleinsein.

Einsamkeit ist hier der wahre Horror. Einsamkeit in vielerlei Gestalt. Entweder, nicht verstanden, nicht gehört oder im Stich gelassen zu werden. Jeder stirbt für sich allein – und bleibt es schließlich auch. Die Isolation im Dies- und Jenseits ist das Entsetzen, weniger die Bilder der gruseligen Toten, die in perfektem Make-up die Lebenden heimsuchen. Dazwischen immer wieder Skizzen eines Psychogramms von Protagonistin Mia, die ihren Trip in oder durch die andere Welt zum Kreuzweg werden lässt. Talk to Me ist somit nichts für schwache Nerven, ein Horrordrama mit Gewicht, aber nicht schwermütig. Stattdessen neugierig, in offenen Wunden bohrend und in den Abgrund blickend. Der blickt bereitwillig zurück.

Talk to Me (2022)

Das Blau des Kaftans (2022)

DREI SIND KEINER ZUVIEL

9,5/10


dasblaudeskaftans© 2023 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH, MAROKKO, BELGIEN, DÄNEMARK 2022

REGIE: MARYAM TOUZANI

BUCH: MARYAM TOUZANI, NABIL AYOUCH

CAST: LUBNA AZABAL, SALEH BAKRI, AYOUB MISSIOUI, ZAKARIA ATIFI U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Je mehr Filme ich zu Gesicht bekomme, die letztes Jahr in Cannes ihre Premieren feierten und vielleicht auch den einen oder anderen Preis mit nachhause nehmen konnten; je mehr Filme ich davon sehe, umso mehr wundert mich die letztendliche Entscheidung der großen Oscar-Academy vor allem in der Auswahl der Nominierten für den besten ausländischen Film. Das Blau des Kaftans beweist wieder einmal mehr, wie sehr dieses Medium subjektiver Wahrnehmung unterliegt und wie sehr der Zeit und der Ort für die Sichtung eines Filmes sowie die Verfassung des Betrachters ausschlaggebend dafür sind, wie ein Film funktionieren kann. Auch wenn sich Das Blau des Kaftans auf der Shortlist für den Auslandsoscar befand: Zumindest nominieren hätte man ihn sollen, lässt sich doch aus meiner Sicht vermuten, dass dieser der beste Film des Jahres bleiben könnte, wenn schon nicht der beste innerhalb einer noch längeren Zeitspanne. Mit Maryam Touzanis berauschender Dreiecksgeschichte erlebt das Kino ein formvollendetes Wunder, wie man es zuletzt – und das ist schon länger her – mit Wong Kar-Wais In the Mood for Love erlebt hat. Man kann Filme nach gängigen Mustern erzählen, man kann auf Atmosphäre setzen und sonst nicht viel berichten. Man kann sich komplett aufs Schauspiel konzentrieren und alle anderen Aspekte außer Acht lassen, also einem gewissen Purismus frönen. Man kann aber auch alles miteinander vereinen und sich intuitiv von seinen Gefühlen leiten lassen – und sehen, was passiert. So sehr Das Blau des Kaftans auch wirkt, als wäre jede Szene wohl überlegt, so sehr hat es auch den Anschein, dass Touzani nichts ferner liegt, als ihr Ensemble zur Eile zu drängen. Die Szenen passen sich dem Empfinden der Schauspieler an, und nicht umgekehrt. Dadurch erreicht der Film eine im jeden Take spürbare Wahrhaftigkeit. Und so lässt sich jede Minute intensiv erleben und am Ende jenes Herzklopfen verspüren, dass man hat, wenn ein Film genau das macht, wovon man hofft, dass er es tut.

Dabei beginnt Das Blau des Kaftans wie eine detailverliebte Alltagsminiatur aus der Medina einer nordafrikanischen Stadt. Wir befinden uns in Salé an der marokkanischen Atlantikküste. Mina und Halim betreiben eine Kaftan-Schneiderei, Halim ist Maleem, ein Meister im Besticken feinster Stoffe. Die Kunden wissen, wo sie die beste Ware bekommen. Und so ein Kaftan braucht Zeit, bis er fertig ist. Das Teil ist mehr als ein Kleidungsstück – es ist ein Kunstwerk, das über Generationen weitergegeben wird. Zu Beginn des Films sieht man, wie die Hände des Meisters über blauen Satinstoff streifen, wie dieses Material Falten wirft im fahlen Licht des Ladens. Dieses Blau wird zum roten Faden einer Geschichte, die langsam, aber doch, immer mehr Geheimnisse preisgibt. Zum Beispiel jenes, dass Halim eigentlich homosexuell ist, und Mina mit einer Krankheit kämpfen muss, die sie in absehbarer Zeit dahinraffen wird. Allerdings weiß sie vom Geheimnis ihres Mannes. Und sie duldet es. Um den Laden zu schmeißen, fängt der attraktive Youssef bei Halim eine Lehre an. Anfangs ist diese Dreierkonstellation ein Umstand, den Mina nicht ertragen kann, sieht sie doch, wie beide aneinander interessiert sind. Doch im Leben kommt vieles anders, als man denkt, und Minas langer Abschied vom Leben wird zur Probe für einen Neuanfang.

Wie Maryam Touzani das Ende einer Zweisamkeit zelebriert und gleichermaßen den Beginn einer ganz anderen ankündigt, ist beeindruckend selbstsicher inszeniert und so voller Achtsamkeit, Liebe und Zuneigung, dass es einem die Sprache verschlägt. Wenn schon Michael Hanekes Liebe das sogenannte fünfte Element so sehr aus seinen beiden Protagonisten herausgearbeitet hat, so steht Touzani ihm um nichts nach. Im Gegenteil: wo Haneke nüchtern bleibt, hebt Touzani die Distanz zu ihren Figuren auf und lässt eine würdevolle Intimität zu. Lubna Azabal, die bereits unter der Regie Denis Villeneuves in Incendies – Die Frau, die singt brilliert hat, setzt mit ihrer kraftvollen und nuancierten Performance in der Schauspielkunst neue Maßstäbe. Sie nimmt den Zuseher mit auf einen so wunderschönen wie entbehrungsreichen Pfad durch eine unebene emotionale Landschaft aus Höhen und Tiefen, aus mobilisierten letzten Energien und der Suche nach Geborgenheit. Das Blau des Kaftans erzählt von Freiheiten und Leben lassen, von Akzeptanz und tiefem Respekt. Der Film vermeidet Worte dort, wo Bilder und Gesichter alles sagen. Lässt Musik ertönen, wo sonst nichts die Freude am gegenwärtigen Moment besser unterstreichen könnte. Das Werk ist weder nur Sittenbild noch nur Liebesfilm noch nur Sterbedrama. Es ist alles gleichermaßen, entfacht Synergien und bedingt einander. Wie Mina, Halim und Youssef, die letztendlich eine vollkommene Einheit bilden. Dieses Filmwunder aus Marokko, das weder zu viel noch zu wenig sagt, dass die goldene Mitte trifft und zutiefst berührt, muss man gesehen haben.

Das Blau des Kaftans (2022)

Nowhere Special

BEREIT MACHEN ZUM LOSLASSEN

7/10


nowherespecial© 2021 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, RUMÄNIEN, GROSSBRITANNIEN 2020

BUCH / REGIE: UBERTO PASOLINI

CAST: JAMES NORTON, DANIEL LAMONT, BERNADETTE BROWN, CHRIS CORRIGAN, VALENE KANE U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Mit der Einsamkeitselegie Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit hat mich der gebürtige Römer Uberto Pasolini nachhaltig beeindruckt. In diesem Meisterwerk – und das ist nicht übertrieben – lässt er Eddie Marsan nach Hinterbliebenen einsam Verstorbener suchen, während das Schicksal der Toten ihn selbst ereilt. Starker Tobak, kein erbauliches Thema, und trotz dieser Widmung für ein Tabu gelingt Pasolini eine wunderbar poetische, formvollendete Ode an die Nächstenliebe, die keineswegs für Trübsinn sorgt, sondern einfach nur enorm berührt, bewegt und erstaunt. Pasolini scheint einer jener Filmemacher zu sein, die sich dem gefälligen Trend an Themen auch nicht hingeben wollen. Er will vor allem einen Umstand betrachten, der es in Zeiten wie diesen mehr wert ist als viele andere, betrachtet zu werden: Das Füreinander.

Mit diesem Imperativ des Füreinander will Pasolini auch in seinem neuen Werk rund 8 Jahre später dem Dilemma des Allein- und Verlassenseins erneut die Stirn bieten. Diesmal aber aus einer ganz anderen Perspektive und einem ganz anderen Existenzbereich – nämlich jenem eines noch intakten familiären Gefüges aus Vater und Sohn. Zumindest sind hier zwei versammelt, die durch eine starke Bindung aus Liebe, Verantwortung und Vertrauen so schnell nichts aus der Bahn werfen kann. Dabei sei gesagt: Sohn Michael ist gerade mal 4 Jahre alt, ein süßer kleiner, recht introvertierter Bub, oftmals vor sich hin sinnierend und bei Papa all die Geborgenheit auskostend, die so ein kleiner Mensch tatsächlich braucht. Der Vater, John, gibt alles – doch wie lange noch? Wie es das Schicksal oft will, ist dieser an Krebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Natürlich erfährt der kleine Michael davon nichts, doch diesem entgeht natürlich auch nicht, dass da irgendwas im Busch ist, wenn Papa immer mal wieder fremde Familien besucht. Warum tut er das, wird sich der Kleine wohl fragen. Ganz klar: Michael braucht neue Eltern, denn wenn John mal tot ist, hat der Kleine niemanden mehr.

Normalerweise schnürt es einem bei so etwas die Kehle zu und man bekommt kein Wort mehr heraus, weil der Frosch im Hals so groß ist. Noch dazu sieht Jungschauspieler Daniel Lamont dermaßen zum Steinerweichen aus, dass man am liebsten in den Film steigen und das Kind einfach an sich drücken will. Sich so vielen traurigen Aussichten auszusetzen – wer will das schon? Doch Pasolini ergeht sich nicht in Sentimentalitäten und hat auch überhaupt nicht vor, irgendwelche Tränendrüsen leerzudrücken. Er entwickelt einen Stil, wie ihn schon Ken Loach, der Meister des Sozialkinos, die längste Zeit souverän umsetzt – den nicht ganz nüchternen, aber objektiven Alltagsrealismus, die Draufsicht auf zwei Leben und deren Geschick, sich dem Unausweichlichen anzupassen. Die Chemie zwischen James Norton und dem kleinen Lamont stimmt, die letzten Tage und Wochen des Miteinanders verharren in einer unbekümmerten Gegenwart, anstatt sich in einer furchtvollen und verlustreichen Zukunft zu suhlen. Das macht Nowhere Special erträglich, wenngleich das gefühlvolle Drama dennoch seinen Weg findet, auf bescheidenem Wege das Herz zu berühren. Verblüffend aber, dass die Traurigkeit bei Pasolini tatsächlich von jener Art ist, die als schön empfunden werden kann. Der Schmerz eines Abschieds, verbunden mit dem Hallo eines Neuanfangs.

Nowhere Special

Schwanengesang

DIE LEBENDEN SCHADLOS HALTEN

7,5/10


schwanengesang© 2021 Apple Studios


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: BENJAMIN CLEARY

CAST: MAHERSHALA ALI, GLENN CLOSE, NAOMIE HARRIS, AWKWAFINA, ADAM BEACH U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Über Klone und ihre Nebenwirkungen gibt es in Film und Fernsehen jede Menge Stoff. Das fängt schon bei Star Wars und seinen Klonkriegern an, findet zum Beispiel in Gemini Man mit Will Smith seine actionlastige Interpretation oder macht in Alles, was wir geben mussten Menschen zu lebenden Ersatzteillagern. Ein Klon ist zumindest gesellschaftspolitisch gesehen die zweitklassige Version des Originals, obwohl hier eigentlich kein Unterschied besteht, zumindest physisch nicht. Da Erziehung und Umwelt den Charakter prägen, können genetisch idente Personen ohne weiteres grundverschieden sein. Ein Thema also, das die Science-Fiction der Popkultur reichlich beschäftigt hat – und beschäftigen wird. Doch selten passiert es, dass ein Film so sehr über die Austauschbarkeit eines Menschenlebens nachgrübelt wie Schwanengesang, das Werk des irischen Autorenfilmers Benjamin Cleary, veröffentlicht auf dem Streamingportal Apple+.

Gebt diesem Mann mehr Scripts – denn Cleary hat Talent. Schwanengesang stammt gänzlich aus dessen Feder, und hier sieht man wieder, dass Buch und Regie in einer harmonischen Wechselwirkung stehen, sich gegenseitig ergänzen können und keinen Plot-Holes zum Opfer fallen müssen. Cleary vermeidet dies, da seine Geschichte erstens auf eine gelassene Art kühne philosophische Überlegungen anstellt, und zweitens die Geschäftstüchtigkeit eines Klon-Konzepts auf die Probe stellt. In beiden Fällen geht die Rechnung auf.

Mahershala Ali, der demnächst als Blade die Klingen schwingen wird, ringt diesmal mit einer todbringenden Krankheit, für die es keine Genesung gibt. Der Grafiker Cameron Turner muss sich, ob es ihm passt oder nicht, von seiner Familie verabschieden. Ein Ding der Unmöglichkeit. Jahrzehnte früher hätte das Schicksal keine Gnade gekannt, nun aber gibt es Plan B. Und Cameron kann froh sein, in einer nicht allzu fernen Zukunft zu leben, wo das Klonen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt zu sein scheint, allerdings hat diese Hintertür noch nicht so wirklich die Runde gemacht. Cameron plant, ohne dem Wissen von Frau und Kind, einem Klon – gespeist mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen – sein eigenes Leben übernehmen zu lassen. Niemand würde etwas merken, nicht mal der Klon selbst, denn der hätte an seine Herkunft keine Erinnerung mehr. Wäre das moralisch vertretbar? Oder geht’s beim Sterben doch nur um den, der stirbt?

Beim Sterben ist man selbst zwar immer der Erste, die Hinterbliebenen bleiben aber die letzten, für die es keinen Trost gibt. Interessant, dieses Hinterfragen eines endgültigen Zustands wie den des Todes: Für den Verblichenen oder für den, der stirbt, ist das Verlassen dieser Welt von einem Moment auf den anderen eine ausgestandene Sache – auf zu neuen Ufern, wohin sie auch führen. Das Schmerzliche am Sterben ist das Hinterlassen einer Lücke. In Schwanengesang geht’s darum, diese Lücke gerade noch zu Lebzeiten aufzufüllen, und die, um die es beim Sterben wirklich geht, nicht leiden zu lassen. Kein leichtes Thema, noch dazu ein Dilemma, doch Cleary verliert sich nicht in impulsiver Mieselsucht, auch wenn das Wetter im Film den Status Quo der Seele in waldiger Tristesse widerspiegelt: Schwanengesang ist ein vernunftorientiertes, klar durchdachtes Spiel mit den Möglichkeiten, die in Zukunft das Spektrum aus Moral, Wissenschaft und Selbstlosigkeit erweitern, ohne dabei aber die Schlechtigkeit des Fortschritts zu plakatieren. Clearys Film macht hier mal eine wohltuende Ausnahme und wagt den Schritt eines ethischen Umdenkens. Das ist großartig ausformuliert und stringent erzählt, wenngleich Abschied und Neuanfang natürlich nicht ohne Tränen vonstatten gehen können. Liebesbekundungen und innige Momente steigern sich am Ende in zu viele Sentimentalitäten hinein, behalten aber das große Ganze dieses inhaltlich innovativen Filmkonzepts im Blick.

Schwanengesang

Death Note

AUF DIE SCHWARZE LISTE

5,5/10


deathnote© 2017 Netflix


LAND / JAHR: USA 2017

REGIE: ADAM WINGARD

CAST: NAT WOLFF, KEITH STANFIELD, MARGARET QUALLEY, WILLEM DAFOE, SHEA WIGHAM, MASI OKA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Dem bleibenden Eindruck folgend, welchen Godzilla vs. Kong bei mir hinterlassen hatte, musste ich mal in Erfahrung bringen, was denn Regisseur Adam Wingard sonst noch so Filmisches fabriziert hat. Dabei stieß ich neben dem Found Footage-Sequel Blair Witch auf die finstere Manga-Verfilmung Death Note, die derzeit auf Netflix abrufbar ist. Eine, wie es scheint, pechschwarze Final Destination-Variante, die allerdings den einzigen Unterschied hat, dass nicht der Tod höchstpersönlich manch Auserwählten ins Gras beißen lässt, sondern ein ganz normaler Mensch. Eins sei dabei angemerkt: dieser ganz normale Mensch, in diesem Fall Schauspieler Nat Wolff, kommt auch nicht aus heiterem Himmel auf die Idee, vor lauter Langeweile andere Menschen sterben zu lassen. Klar wünscht man ab und an rein impulsiv unangenehme Gesellen zum Teufel, doch damit, dass diese schnell erdachten Stoßflüche Wirklichkeit werden, rechnet niemand.

Wirklich nicht? Die seltsame Gottheit namens Ryuk schon, ein metaphysisches Wesen mit joker´schem Dauergrinser und finsterer Igelmähne, schwarz wie die Nacht und mit Augen wie glühende Kohlestückchen. Erdacht wurde diese phänomenale Kreatur von den Künstlern Tsugumi Ohba und Takeshi Obata für ihren titelgebenden Shōnen, einer Art japanischen Comic für männliche Young Adults – die am meisten verbreitete Art künstlerischer Bildergeschichten in Ostasien. Ergänzt mit Willem Dafoes sonorem Organ entsteht so eine den wortkargen Sensenmann in den Schatten stellende Spukgestalt, die so nervig, verführerisch und gleichermaßen erschreckend ist, dass von ihr eine Faszination ausgeht, der sich nicht nur Nat Wollf kaum entziehen kann. Ryuk, obwohl ein Todesgott, erfüllt hier die Ansprüche eines literarisch volkstümelnden Teufels. So wie bei all den anderen Gleichnissen, die von Pakten mit dem Antichrist berichten, denen ein ambivalent zu betrachtender Eigennutz zugrunde liegt, der nicht selten mit den sieben Todsünden korreliert, hat auch Death Note einen moralischen Anspruch zu verlieren.

Diesem Jungen also, Light Turner, fällt buchstäblich ein alter Schinken in die Hände, halb voll gekritzelt mit unzähligen Namen und Todesursachen. Bald darauf erscheint dem völlig verstörten Turner der uns bereits bekannte, nach Äpfeln gierende Shinigami, der ihm alsbald über seine Macht aufklärt. Eine Woche lang ist Turner, wenn er will, Herr über Leben und Tod. Sobald er einen Namen, dessen zugehöriges Konterfei er kennen muss, ins Buch schreibt und dazu noch die Art und Weise, wie derjenige umkommen soll, hat der Tod freie Bahn. Klar, dass so viel Verantwortung einen Otto Normalverbraucher überfordert. Aus wütendem Gelegenheitskiller wird moralischer Ritter. Kann das lange gut gehen? Es wäre kein Fantasyhorror wie dieser, würde das Universum unter diesen Voraussetzungen nicht aus dem Lot geraten.

Aller Anfang ist zumindest mal beeindruckend: Man wähnt sich bereits in einem morbiden Märchen voller explizit dargestellter Blut- und Beuschel-Tode, im Hintergrund der hämisch gackernde Riesenkobold, der seinen Senf dazu gibt. Da es sich hierbei um die Verfilmung eines Mangas handelt, ist es mit einem geradlinigen Plot aber nicht getan. Die ermittelnden Behörden kommen dazu. Einer von ihnen: ein dem Zucker verfallener Hoodie-Träger, der nicht schlafen, eine diabolische Freundin, die ihrem Loverboy das Buch abspenstig machen will. Das alles verstrickt und vertrackt sich zu einem ausladenden und folglich konfusen Mindfuck, der über seine eigenen Regeln stolpert; der sich schwertut, den Blick auf das Wesentliche zu behalten. Das mit dem Buch letzten Endes viel mehr möglich ist, als es scheint, ermattet zusätzlich die Ambition, allen Details folgen zu wollen. Mangas sind generell enorm komplex. Verfilmungen selbiger hinken dabei gerade mal so hinterher. Jüngstes Beispiel: der chinesische Fantasyfilm Animal World rund um eine tödliche Schere-Stein-Papier-Challenge. Auch hier bleibt man stellenweise ratlos zurück. Bei Death Note bleibt nur Ryuk selbst seinen Modi treu, während all das Getöse um Leben und Sterben lassen recht viel an Dynamik verliert.

Death Note

Soul

AUF DEN FUNKEN KOMMT ES AN

8,5/10

 

soul© 2020 Disney/Pixar. All Rights Reserved.

 

LAND: USA 2020

REGIE: PETE DOCTER, KEMP POWERS

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): JAMIE FOXX, TINA FEY, RACHEL HOUSE, ALICE BRAGA, PHYLICIA RASHAD, ANGELA BASSETT, WES STUDI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN

 

Auch wenn sich das Live Act-Kino immer mehr von philosophischen Träumereien entfernt, um nicht als kitschig, banal oder esoterisch belächelt zu werden – der Animationsfilm arbeitet dagegen. Denn Pete Docter, kreatives Mastermind bei Pixar, hat es schon wieder getan: er ist den Essenzen des Menschseins einmal mehr auf den Grund gegangen. In Oben war Altwerden und Einsamkeit das große Thema. Alles steht Kopf, einem Animationsfilm mit noch nie dagewesenem, teils abstraktem Plot, handelt von unseren grundlegenden Empfindungen. Und jetzt? Jetzt dürfen unsere Seelen mal zeigen, was sie können. In Soul gehen wir also mal davon aus, dass der Mensch diese sogenannten 21 Gramm tatsächlich besitzt. Unser Innerstes also. Das, was unsere Persönlichkeit ausmacht.

Im Zentrum des Geschehens steht ein Mittvierziger namens Joe Gardner. Seines Zeichens leidenschaftlicher Jazzpianist. Der fristet sein recht aussichtsloses Dasein als Musiklehrer an einer Mittelschule, die nicht wahnsinnig viele musikalische Talente birgt – bis auf ein paar Ausnahmen. Als er durch Zufall eine berühmte Jazzsaxophonistin von seinem Können überzeugen kann, wird er für einen Gig engagiert. Voller Freude tanzt Gardner über sie Straßen – bis er in einen Gully stürzt – und sein Leben verliert. Von einem Moment auf den anderen befindet sich die Seele von Gardner nun auf dem Fließband ins Jenseits. Aber eigentlich – ja eigentlich sollte er gar nicht hier sein, denn gerade jetzt wird doch das Leben erst richtig lebenswert?

Pete Docters Soul ist fast schon ein humanphilosophiosches Manifest. In keiner anderen Filmgattung wäre es sonst möglich, zugegeben stark simplifizierte, aber für uns unsichtbare und abstrakte Welten so ausgestaltet darzustellen. All die Seelen sind kleine, quallenartige Gespensterchens, manche tragen immer noch, nachdem sie gestorben sind, die Merkmale ihrer Person. Über allem steht die Quantenwelt in Form von zweidimensionalen Figuren, die an Strichzeichnungen von Picasso erinnern. Das Kreativteam von Pixar entdeckt wieder einmal die hohe Kunst der Gestaltung. Mit der liebevoll und bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Persönlichkeit des Jazzmusikers Gardner wäre es an der Zeit, für die Academy mal die Rubrik „Bester animierter Charakter“ ins Leben zu rufen. Wäre doch eine Idee? Nach dem alten Mann aus Oben oder zum Beispiel die Ratte aus Ratatouille wäre der von Jamie Foxx gesprochene Kerl ein garantierter Gewinner. Und auch abgesehen von diesen Raffinessen spielt Soul mit den Gedanken und Emotionen, lobt das Erdendasein und findet stille Momente der Einkehr. Doch es wäre nicht Pixar, würde sich die Ode an die Freude des Lebens in seifigen Sentimentalitäten verlieren. Soul bietet, Hand in Hand mit intellektueller Ernsthaftigkeit, jede Menge Humor, Situationskomik und eine drollige Bodyswitch-Komponente in feinster Ausarbeitung.

Dieses Streaming-Event ist tatsächlich ein Meisterwerk, dessen „Mood“ man gerne und auch unweigerlich mitnimmt. Zwischen Seelenfängern und verlorenen Seelen ist dieses phantastisch-hintergründige Stelldichein eine ausnehmend komplexe, pointenreiche Vision einer optimistischen Welt- und Weitsicht. Die man garantiert öfters sehen muss, um nichts zu verpassen. So wie die kleinen Dinge des Lebens.

Soul

Archive

ICH BAU‘ MIR MEINE FRAU ZURÜCK

4/10


archive© 2020 capelight pictures


LAND: GROSSBRITANNIEN, UNGARN, USA 2020

REGIE: GAVIN ROTHERY

CAST: THEO JAMES, STACY MARTIN, RHONA MITRA, TOBY JONES, PETER FERDINANDO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Okay, der Titel zu diesem Artikel klingt ja fast so, als hätten wir es hier mit einer Variation des Mythos von Doktor Frankenstein zu tun. Jein, dem ist nicht ganz so. Hier werden keine Leichen exhumiert und Körperteile aus der Anatomie entwendet. Hier baut sich ein Wissenschaftler tatsächlich seine Frau zurück. Wie das geht?

Wir schreiben das Jahr 2038. Der Tod ist für den Menschen nicht mehr das Ende aller Dinge. Es ist nun also möglich, sein Gedächtnis für eine geraume Zeit archivieren zu lassen – daher auch der Titel des Films. Irgendwann aber schließt sich auch dieses Zeitfenster und das Jenseits ruft. Bis dahin aber kann man als Verstorbener noch Dinge regeln, für die zu Lebzeiten keine Zeit mehr war. Abschiede fallen vielleicht leichter, der Übergang ins Ungewisse ist wie das Verklingen eines Orchesters. Robotiker George Almore (Theo James) hat allerdings das gewisse Know-How – zumindest denkt er das – um das noch vorhandene Bewusstsein seiner verstorbenen Frau in einen Androiden zu speisen. Und für die Ewigkeit zu konservieren.

Die Story vom High-Tech-Pygmalion erinnert ein bisschen an den Science-Fictioner Transcendence mit Johnny Depp, der, ebenfalls bereits Anfang des Films verblichen, seinen Geist in eine Maschine speist. Die Idee ist ganz originell variiert. Auch das Set-Design des Films von Gavin Rothery besticht durch klassische, bunkerähnliche Gangschluchten wie jene filmbekannter Raumschiffe und eine formschöne Setzkasten-Roboterfrau. Das Makeup kann sich sehen lassen. Die anderen Blechkameraden, die hier durch die Anlage watscheln, sind in Sachen Mimik etwas eingeschränkter, aber auch sie haben Gefühle. In diese tragische Liebesgeschichte zwischen Kabeln und Transformator fingern allerdings relativ zusammenhanglose halbgare Storylines aus dem dystopischen Umfeld mit hinein, die hochtrabend sein wollen, aber die mit onhaltlicher Relevanz eher geizen als den Plot voranzutreiben. Und dann – ja, dann weiß Rotherys Script nicht weiter. Was macht er? Er lässt sich von Filmemachern inspirieren, die das Geheimniss rund um punktgenau gesetzte Storytwists wirklich beherrschen – und knallt auch hier, bei seiner melancholischen Robotermär, die das Zeug hätte zum philosophischen Diskurs über Persönlichkeit und Künstlichkeit, eine zu sehr gewollte Kehrtwende ans Ende, die den ganzen vorangegangenen, betulich errichteten Storykomplex zum Einsturz bringt. Ein Film also nicht zur Gänze für den Elektroschrott, denn auch hier ließen sich noch einige Elemente recyceln. Es ließe sich vielleicht auch nochmal darüber nachdenken, wie die ganze Geschichte denn noch hätte enden können. Denn so wenig plausibel, wie sich Archive schließlich präsentiert, muss Science-Fiction mit Köpfchen wirklich nicht sein.

Archive

Du hast das Leben vor dir

LERNEN VON DER DIVA

5/10


lebennochvordir© 2020 Netflix


LAND: ITALIEN 2020

REGIE: EDOARDO PONTI

CAST: SOPHIA LOREN, IBRAHIMA GUEYE, RENATO CARPENTIERI, ABRIL ZAMORA, IOSIF DIEGO PURVU, BABAK KARIMI, MASSIMILIANO ROSSI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Da haben wohl die Wände der Cinecitta-Studios in Rom gewackeltt, wenn Sophia Loren mit ihrem unvergleichlichen Stimmorgan durch die Gegend wetterte. Nach Sandalenfilmen noch und nöcher – darunter auch Quo Vadis – brillierte sie in Filmen von Vittorio de Sica, spielte mit allen nur erdenklichen Größen des Films, war sogar – Celebrity-Kenner aus Österreich wissen – mit Baumeister Lugner am Opernball. Die Loren – das ist schon mehr eine Institution als nur eine Künstlerin. Jetzt, im Alter von stolzen 86 Jahren, ist die resolute Römerin nach fast elfjähriger Kinopause zwar nicht wieder auf der Leinwand zu sehen, dafür aber im Repertoire von Netflix zu finden. Wer, wenn nicht ihr eigener Sohn Edoardo Ponti (Papa ist der große, 2007 verstorbene Produzent Carlo Ponti) konnte die Grande Dame wohl am ehesten davon überzeugen, nochmal vorzutreten. Mit stattlicher, steingrauer Haarpracht, immer noch energisch im Auftreten, immer noch lautstark, aber letzten Endes ein Schatten dessen, was die Loren einmal war. Und es ist immer noch genug geblieben. Als ehemaliges Mädchen von der Straße ist die Monsignorina nun Aufpasserin diverser Bälger noch im Dienst befindlicher Arbeitskolleginnen. Eine Gemeinschaftspflicht, der Madame Rosa, wie sie sich nennt, durchaus nachkommen kann. Zeit und Muße sind ja vorhanden, was hat Frau sonst noch zu tun. Nicht ganz in den Kram passt ihr dann natürlich die Bitte einer ihrer Bekannten, den zwölfjährigen senegalesischen Jungen namens Momo bei sich aufzunehmen. Warum gerade dieser Bengel, hat der doch am Markt ihre Einkaufstasche geklaut? Der Junge entschuldigt sich, mehr dazu gezwungen als einsichtig. Mit Murren nimmt Rosa ihn auf, nichts ahnend, dass dieser noch ein ganz anderes Süppchen am Kochen hat, nämlich das Dealen von Drogen auf der Straße. Aus der Sicht des Jungen bleibt seine Unterkunftgeberin aber auch einige Erklärungen schuldig: Erstens die seltsamen, eintätowierten Zahlen auf ihrem Handgelenk, zweitens ihr immer wiederkehrendes Verschwinden im Keller des Hauses, und drittens ihre gespenstischen Blackouts.

Du hast das Leben vor dir beruht auf dem Roman des Franzosen Romain Gary. Eine erste Verfilmung in den Siebzigerjahren hatte damals gar den Oscar als besten fremdsprachigen Film gewonnen, Simone Signoret erhielt obendrein noch den Cesar. Madame Rosa muss für Sophia Loren eine Traumrolle gewesen sein. Die körperlichen und geistigen Tücken des Alters, kombiniert mit traumatischen Erinnerungen an den Holocaust und das ganze wieder verknüpft mit der aktuellen und akuten Problematik verwaister Flüchtlingskinder – eine Menge Stoff, um sich schauspielerisch ordentlich austoben zu können. Das tut die Loren dann auch. Lässt es teils ironisch derb, teils melancholisch, teils wahrhaftig werden. Edoardo Ponti muss begeistert gewesen sein von seiner immer noch stolzen Mama. So begeistert, dass er den Rest des Films irgendwie nebenher mitgedreht hat. Denn so richtig großes Kino ist sein Film nicht geworden. Immer dann, wenn Sophia Loren mal nicht im Bild ist, ruht der Streifen in konventioneller Problemwälzung, die nicht sonderlich engagiert wirkt. Die eben sein muss, denn sonst gäbe es keine Story rund um die sympathische Diva, die noch einmal zeigen will, was sie kann. Zu oberflächlich überfliegt Ponti seine existenzialistischen Themen, zu wenig verstehen will er das große Politikum zum Thema Immigration. Jungschauspieler Ibrahima Gueye macht auch nicht den Eindruck, irgendetwas an seinem Ist-Zustand verändern zu wollen. Erst ganz am Schluss brodeln lange erwartete Synergien zwischen Jung und Alt an die Oberfläche, ab dann wird’s tatsächlich packend, rührselig vielleicht auch, ja – allerdings nur kurz, weil Ponti sich viel zu viel Zeit gelassen hat, um den Plot voranzubringen, und um dort hinzukommen, wo die Essenz der Geschichte angezapft werden kann. Zu wichtig war ihm die Inszenierung seines ganz persönlichen Stars, um dramaturgische Prioritäten gerne außer Acht zu lassen.

Du hast das Leben vor dir

Der Flohmarkt von Madame Claire

NACHLASS ZU LEBZEITEN

5/10

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flohmarktmadameclaire© 2019 Neue Visionen

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LAND: FRANKREICH 2019

REGIE: JULIE BERTUCCELLI

CAST: CATHERINE DENEUVE, CHIARA MASTROIANNI, SAMIR GUESMI, LAURE CALAMY, OLIVIER RABOURDIN U. A.

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Ich kannte mal einen Nachbarn, der hatte bereits zu Lebzeiten noch damit begonnen, sein Hab und Gut in Bananenkisten zu schlichten – um den Erben die ganze Arbeit zu ersparen. Da saß er, inmitten seines Wohnzimmers in einem Fauteuil, umringt von Chiquita und Jaffa, darin all sein Besitz. Irgendwann ist´s gut, so meinte er. Irgendwann ist alles Materielle nur noch eine Last, die den Abschied schwieriger macht. Je weniger man im Alter besitzt, umso leichtfüßiger wird das Sterben?

Das denkt sich zumindest Madame Claire, die eines Nachts die Erkenntnis erlangt, nur noch einen Tag zu leben. Den Morgen danach stampft sie einen Flohmarkt vor ihrem Haus aus dem Boden und verkauft ihr gesamtes Interieur, das nicht aus irgendwelchem Ramsch besteht, sondern bemerkenswerten Antiquitäten, von mechanischen Puppen bis zu Kommoden aus der Gründerzeit. Ein fröhliches Fressen für Händler und Sammler, die dann auch alsbald eintrudeln, um der scheinber leicht verwirrten Dame zum Spottpreis schillernde Schätze abzuringen. Madame Claire ist das nur recht – der Preis ist symbolisch. Loswerden ist die Devise. Das sieht ihre Tochter allerdings mit anderen Augen, die ihrer Mutter der Prophezeiung vom plötzlichen Ableben natürlich keinen Glauben schenkt – und das eine oder andere Andenken aus der elterlichen Wohnung selbst gerne hätte.

Catherine Deneuve ist im Gegensatz zu Kolleginnen wie Brigitte Bardot, die ihre Filmkarriere Anfang der 70er bereits beendet hat, noch lange nicht filmmüde, und das nach über 70 Jahren. Mit 77 Jahren muss man als Künstlerin natürlich noch längst nicht leisetreten, da ist noch einiges drin. So richtig anstrengen muss sie sich aber auch nicht mehr, und leben davon schon gar nicht. Das merkt man. Es reicht, wenn „die Deneuve“ das Set betritt, in fast jeder Szene genüsslich am Glimmstengel zieht und verloren in die Ferne blickt. Da hat das französische Kino schon einiges auf der Habenseite. Schauspielerisches Engagement ist da fast nicht mehr erforderlich. Das übernimmt dann Filmtochter Chiara Mastroianni, die interessanterweise auch im tatsächlichen Leben Deneuves leibliche Tochter ist. Ihrem Vater Marcello ist sie dabei wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie umkreist also Madame Claire sorgenvoll und gleichsam nahvollziehbar entrüstet.  Und holt so manches verschüttete Trauma ihrer Familie wieder ans Licht.

Der Flohmarkt von Madame Claire ist, man kanns nicht schönreden und ich will es auch nicht, ein Film über das Sterben. Über die letzten Dinge, über das Unausgeprochene, das oftmals unfreiwillig mit ins Grab genommen wird. Wie schön wäre es für manche noch gewesen, in solchen Angelegenheiten reinen Tisch zu machen. Den reinen Tisch nimmt Regisseurin Jurie Bertucelli  wörtlich – und bringt mit all den alten, verstaubten Dingen, die vieles in den vier Wänden gesehen haben, die To do-Liste sämtlicher emotionaler Versäumnisse mit ans Tageslicht. Das ist gediegenes Antiquitätenkino, ein bisschen arg konstruiert und zu sehr verlassend auf Deneuves Kultstatus, die damit wie ein Denkmal aus ihrem eigenen Besitz inmitten einer bemühten Entourage thront, die versucht, dem Film ein bisschen mehr Lebendigkeit zu verleihen. Deneuve selbst jedenfalls tut sich sichtlich schwer, Emotionen zu zeigen. Dadurch gerät das ganze Szenario eines Abschieds zur wohnungsmuffigen Entrümpelung eines monoton traurigen Lebens zu Lebzeiten.

Der Flohmarkt von Madame Claire

The Farewell

DUMM GESTORBEN IST LÄNGER GELEBT

8/10

 

farewell© 2019 A24_DCM

 

LAND: USA 2019

REGIE: LULU WANG

CAST: AWKWAFINA, TZI MA, DIANA LIN, ZHAO SHUZHEN, LU HONG, JIANG YONGBO U. A. 

 

Wie gut, dass Oma Nai Nai eine Schwester hat. Sonst wäre sie selbst vor vollendeten Tatsachen gestanden – nämlich, dass sie Krebs hat, und zwar im Endstadium. Solche Nachrichten sind erschütternd, fast schon wie der Teaser zur eigenen Hinrichtung. „Sie haben nur noch wenig zu leben, regeln Sie ihre Dinge, bringen Sie alles zu Ende“. Mit so einer ähnlichen Message wurde damals meine Großmutter ins restliche Leben entlassen. Nai Nais Schwester hier in diesem Film hat das abgefangen. Nai Nai weiß von nichts – alle anderen schon. Im Grunde die ganze Familie, und auch Enkelin Billi, die mit ihren Eltern in den USA lebt, erfährt davon. Es tanzen also alle an, mit dem Vorwand, die Hochzeit von Enkel Hao Hao zu feiern, der seine Flamme erst drei Monate kennt. Die Frage, ob das nicht zu früh sei, stellt sich keiner. Viel eher aber jene, wie denn der Oma gutgelaunt gegenübertreten, nach einer Erkenntnis wie dieser für selbige? Anscheinend ist es in China üblich, die letzte Zeit eines Lebens für Schwerkranke insofern zu erleichtern, indem man ihnen vorenthält, was wirklich Sache ist. Natürlich: was ich nicht weiß macht mich nicht heiß – oder traurig. Aber ist das nicht eine Lüge? Ist das nicht moralisch verwerflich, wenn man erst mit der Wahrheit herausrückt, wenn das Unausweichliche selbst für den Betroffenen unübersehbar ist?

Wäre meiner Großmutter diese Nachricht mit anderen Worten oder vielleicht gar nicht übermittelt worden, hätte sie vielleicht länger gelebt. Auch in diesem extrem liebevollen, kuschelwarmen und gänzlich unpathetischen Familienfilm The Farewell ist es, so wird zitiert, vielmehr die Angst im Kopf das, was den Menschen viel eher lähmt und aufgeben lässt als die Krankheit selbst. Wäre das nicht die bessere Form des Umgangs? Den oder die Erkrankte eben nicht vorzeitig geistig sterben zu lassen? Wenn es kommt, dann kommt es ohnehin. Also dann doch lieber dumm als furchtvoll dahingehen. Mit diesen Gedanken meistern die meisten der ganzen großen Familie von Oma das Unterfangen, vorzugeben, so glücklich wie noch nie zu sein. Die Sache klingt absurd? Dennoch ist es eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, und eine bemerkenswert entspannte Tonart an die vermeintlich letzten Tage legt.

Filme übers Sterben, die sind meist superschweres Betroffenheitskino. Nicht aber The Farewell. Es geht auch anders, beweist dieses Kleinod mit Schauplatz China, Kandidat auf dem Sundance-Festival und Golden Globe-Gewinnerfilm für Hauptdarstellerin Awkwafina. Die Komikerin, Sängerin und Schauspielerin mit dem unaussprechlichen Namen (zuletzt aufgefallen in Jumanji – The Next Level) lässt ihre Filmfigur zwischen lakonischem Humor, Sehnsucht nach der Kindheit und übermannender Traurigkeit einen ganzen Tidenhub an Emotionen verspüren. Dennoch lässt sie ihren eigentlichen authentischen Charakter nicht außen vor, der angenehm natürlich und in seinem Empfinden von Glück und Melancholie ernüchternd trocken daherkommt, fast schon trotzig. Zwischen all diesen Höhen und Tiefen, die bei diesem langen, langen Abschied, der sich über mehrere Tage hinzieht (und Oma einfach nicht checkt, was Sache ist) und fast alle Familienmitglieder heimsucht, wird ganz viel und vor allem entschleunigt gegessen und getrunken. Das erinnert stark an Ang Lees Eat Drink Man Woman. Und so wie das taiwanesische Meisterwerk kostet auch The Farewell von allem möglichen, was Familien so eigen ist und was diese Art der Gemeinschaft erst so richtig ausmacht. Das ist berührend, volksphilosophisch und überraschend zuversichtlich. Warum? Weil Oma die einzige zu sein scheint, die wirklich glücklich ist. Das erzeugt eine gedankliche Wende im Kopf des Betrachters, das lässt ihn anders über das Ende nachdenken, ob es vielleicht doch möglich wäre, andere, vielleicht radikalere Schritte zu setzen, die Abschiede erleichtern und Wehmut zu Energie umwandeln können, wie Billi es am Ende des Films dann auch noch schafft. Mit einem lauten Ha! Wer hätte das gedacht, so aus einem stereotypen Schicksal herauszukommen und neue Paradigmen zu kreieren?

The Farewell