Mission: Impossible – The Final Reckoning (2025)

WIE MAN EINE KI FÄNGT

7/10


© 2025 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 2025

REGIE: CHRISTOPHER MCQUARRIE

DREHBUCH: CHRISTOPHER MCQUARRIE, ERIK JENDRESEN

CAST: TOM CRUISE, HAYLEY ATWELL, SIMON PEGG, VING RHAMES, ESAI MORALES, POM KLEMENTIEFF, GREG TARZAN DAVIS, HENRY CZERNY, ROLF SAXON, SHEA WIGHAM, ANGELA BASSETT, MARIELA GARRIGA, MARK GATISS U. A.

LÄNGE: 2 STD 50 MIN


Was hat er denn diesmal wieder angestellt, dieser ewig junge Sunnyboy, der bereits mehr als sechzig Lenze zählt? Tom Cruise scheint wie in Edge of Tomorrow tatsächlich in einer Zeitschleife festzustecken, in welcher er jedes Mal einen neuen Mission: Impossible-Film mitgestalten und produzieren muss. Zum Glück übernimmt die Regie Christopher McQuarrie, der das Franchise längst im Blut hat und selbst im Halbschlaf das Go für den Sprint seines Stars quer durch London erschallen lassen kann. Dieser Sonnyboy, der fährt diesmal nicht mit einem Motorrad über die Klippe. Diesmal hängt er an einem Vintage-Doppeldecker fest, während ihm der Fahrtwind die Wangen massiert und das freche längere Haar nach hinten wehen lässt.

Man sieht auch im Film, dass Tom Cruise unmöglich nur getan hat, als würde er an einem Flugzeug hängen. Die Anstrengung steht ihm ins Gesicht geschrieben, und nicht nur einmal hat ihn dieser Stunt so viel abverlangt, dass er vom Set getragen werden musste. Mit dieser minutenlangen Verfolgungsjagd in den Lüften und knapp über dem Gelände eines wilden Südafrikas hechelt und hechtet das Grande Finale der Mission: Impossible-Reihe – und zwar The Final Reckoning – seiner Superlative entgegen, dem Nonplusultra eines schwindelerregenden Stunt-Zirkus, um welchen das ganze narrative Konstrukt des letzten Teils herumgebastelt wurde. Dabei hat McQuarrie, der auch am Drehbuch mitschrieb, nicht vergessen, dass es auch inhaltlich ein „rien ne va plus“ geben muss, einen absoluten Peak, den Achttausender, den Everest aller kniffligen Lagen, aus denen Ethan Hunt und sein Team (stets mit dabei: Ving Rhames und Simon Pegg, zwei Tausendsassa) jemals herauskommen mussten.

Obwohl die Doppeldecker-Szene die sogenannte Mitternachtseinlage des Films sein soll, gibt der Tauchgang im Polarmeer noch viel mehr her als eine traditionell-analoge Flugshow. Das Kapitel um ein versenktes U-Boot, dessen Inhalt das Schicksal der Welt entscheidet, ist das eigentliche Herzstück, denn weder davor noch danach ist Mission: Impossible – The Final Reckoning jemals besser. Wir haben also das Eiswasser und den Himmel über Afrika, rundherum türmt sich eine haarsträubende Bedrohung wie Gottes Sintflut über allem auf, was auf zwei Beinen läuft. Und was würde sich für diese nicht besser anbieten als eine wahnsinnig gewordene künstliche Intelligenz, die die Menschheit vom Planeten tilgen will, um einen Reboot einzuläuten. Das darf natürlich nicht passieren, und wenn wir uns an Mission: Impossible – Dead Reckoning erinnern, hat dort auch alles angefangen. Erinnern wir uns nicht, erhält der Spaß am Film dadurch kein Defizit. Cruise und McQuarrie haben ihren Schlussakkord so konstruiert, dass es wenig Vorwissen braucht, um einer leider sehr austauschbaren Geschichte zu folgen, die in haarsträubender Überdimensionierung einer Gefahr den James Bond-Eskapaden aus der Ära des Kalten Krieges fast schon das Wasser reichen kann.

Kann es denn wirklich so weit kommen, dass eine KI den ganzen Cyberspace infiltriert, um alles, was irgendwo in einem Netzwerk hängt, irgendwann selbst zu steuern? James Cameron bekommt angesichts dessen seinen nächsten Albtraum, und Skynet feuchte Augen, wenn es denn welche hätte. In diesem absoluten Bedrohungsszenario, in welchem die USA wieder im Zentrum steht, diesmal aber eine integre Angela Bassett anstelle einer jähzornigen Orange auf besagten Knopf drücken muss, ist Ethan Hunt der Auserwählte, der Weltenretter schlechthin – Tom Cruise eben, der glaubt und hofft, auch das Kino zu retten. Unter dieser bibbernden Last der Verantwortung und mit einem Blick zurück auf sieben vorangegangene Teile, angesichts dieser, wie „Luther“ Ving Rahmes beteuert, niemand etwas bereuen muss, zerstört sich das Pathos eines Agentengottes nach fünf Sekunden leider nicht selbst. Andererseits: Kenner der Reihe sind gewohnt und wissen, was auf sie zukommt. Die gleiche Rezeptur wie sonst auch, zwischen Tarnen, Täuschen, Masken und Munition geht es irgendwann nur noch um einen Wimpernschlag, der alles entscheidet. Ganze Sekunden der Entscheidung sind da fast schon gähnend langweilig.

Mission: Impossible – Dead Reckoning – das muss man zugeben – ist deutlich raffinierter und knackiger als der Alles-in-einem-Topf-Wurf des Grande Finales, bei dem alles, was noch in den Schubladen geblieben war, mit verarbeitet werden konnte. Eine Schwäche, die nicht nur dieses Franchise spürt. Der siebte Teil musste auch noch nicht der Ambition folgen, alle vorangegangenen Teile in einem Licht dastehen zu lassen, als wären sie nur das Vorspiel des einzigen letzten großen Films gewesen. Ein Kniff, der nicht funktioniert, und bei dem man merkt, dass der rote Faden erst im Nachhinein eingeflochten wurde.

Doch wie man die Mission: Impossible-Reihe auch dreht und wendet: In solch einem Handwerk analoger Agenten-Action wummert Aufwand, Anstrengung und Ambition. Und die unbändige Lust, etwas zu beweisen. Tom Cruise hat es schon wieder getan, und er wird, was man so liest, nicht müde werden.

Mission: Impossible – The Final Reckoning (2025)

Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins (2023)

DAS HÜTCHENSPIEL ALS ACTIONKNÜLLER

8/10


missionimpossible7© 2023 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE / DREHBUCH: CHRISTOPHER MCQUARRIE

CAST: TOM CRUISE, HAYLEY ATWELL, SIMON PEGG, VING RHAMES, REBECCA FERGUSON, VANESSA KIRBY, HENRY CZERNY, SHEA WIGHAM, FREDERICK SCHMIDT, ESAI MORALES, POM KLEMENTIEFF, CARY ELWES, GREG TARZAN DAVIS U. A. 

LÄNGE: 2 STD 44 MIN


Wir alle kennen es, dieses ohnmächtige Gefühl, wenn uns siedendheiß einfährt, dass wir den Schlüssel verloren haben. Die Suche nach dem extra fürs eigene Schloss geschliffenen kleinen Werkzeug gestaltet sich meistens schwierig, und nicht selten auch mit Jähzorn. Im schlimmsten Fall erfährt die Haustür dann noch ein Sicherheits-Upgrade, denn was weiß man schon, wie fix manche Langfinger sind, wenn heimatloses Sperrutensil zur freien Entnahme auf der Straße liegt. Ähnlich ergeht es Agent Ethan Hunt und seiner IMF. So ergeht es dem MI6, der CIA und gefühlt allen anderen geheim operierenden Organisationen, die zwar nicht den Schlüssel zum Eigenheim, aber immerhin den Schlüssel zum Wohle der Welt suchen. Wie Tom Cruise und Christopher McQuarrie – der Regisseur seines Vertrauens, der dem Star alle Wünsche von den Augen abliest – aus der Plot-Essenz rund um ein High-Tech-Artefakt eine hyperventilierende Action-Sensation kreieren, ist erstaunlich. Das zeugt von Planung und punktgenauer Umsetzung.

Zugpferd ist natürlich der ewig junggebliebene Sunnyboy mit fragwürdiger Scientology-Affinität, die, betrachtet man die öffentliche und offene Person, gar nicht passt. Weit weg von jeglicher Ideologie will der, der alles kann, auch wirklich zeigen, wie weit er für sein Publikum gehen will. Tom Cruise ist ein Entertainer. Er kennt das Kino und weiß, wie Filme mit Erfolg funktionieren; worauf es ankommt, und wie sehr man vermeiden sollte, andauernd more of the same zu erzählen. Bei Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins könnte man ja fast vermuten, die Action-Franchise hat sich ähnlich ausgeleiert wie jene von Stirb langsam. Die Plots werden immer dünner, die Stunts immer generischer, Autoverfolgungsjagden die Hunderttausendste. Nicht so bei Mission: Impossible. Denn Cruise arbeitet so, als würde er einen James Bond-Film drehen. Neuer Kontext, neuer Plot, neue Figuren und doch auch Bewährtes. Die Figur des Ethan Hunt ist eine Konstante, mit ihr kämpfen die Buddys Luther und Benji (Ving Rhames und Simon Pegg, die man immer wieder gerne sieht), ab und an auch Rebecca Ferguson als Elsa Faust. Alles andere drum herum ist in Bewegung – und erfindet sich, wie auch in Dead Reckoning Teil Eins, zum sechsten Male neu. Dabei muss darauf geachtet werden, nur nicht die Haben-Seite in neuem Gewand nachzuimitieren, sondern aus einer völlig anderen Richtung das Damoklesschwert über alles und jeden zu erheben und dabei auch den Nerv der Zeit zu treffen, die mit der Parade Künstlicher Intelligenzen völlig überfordert scheint. Zu aller Bedrohung ist da noch die Büchse der Pandora, die unbedingt geöffnet werden will. Wenn diese in die falschen Hände gerät, reicht selbst der elegante Sprung von der Klippe nicht mehr – ein Stunt, der in den Zirkus gehört, nur ist kein Zelt groß genug. Daher: ab ins Kino.

Viel über den Inhalt, der als straffes Libretto für die Actionoper dient, sollte ich gar nicht ausplaudern. Zu wissen ist nur: dieser Schlüssel, das kleine. glänzende Objekt der Begierde, hat bald ein Eigenleben. Und irgendwann weiß niemand mehr, wer wann wie oft und wo eben diesen unter seinem Hütchen verbirgt. Derer gibt es mehrere, und sie werden so lange hin und hergeschoben, bis einem schwindelig wird. Warum das Teil plötzlich dort auftaucht, wo es keiner vermutet – nun, das ist der Trick. Auf Basis der Philosophie dieser auf Fußgängerpromenaden gern gesehenen Abzocke ersinnt nicht nur die Mission: Impossible-Reihe neue Parameter, sondern auch das totgelaufene Genre des Actionfilms bekommt die Adrenalinspritze. Es geht also doch. Und es gibt sie noch: Szenen, die man so kaum jemals gesehen hat. Selten war eine Autoverfolgungsjagd so witzig. Selten entfesselte ein Eisenbahncrash einen derartigen Dominoeffekt, so, wie er hier auf Spannung setzt und Murphys Gesetz bedient. Cruise und McQuarrie sind Showrunner, die ihr Spektakel mit Herzblut erarbeitet haben; mit Spaß am Improvisieren und Selbermachen. Irgendwann sind Tom Cruises Hemdsärmel dann aber auch genug aufgekrempelt – so ganze ohne CGI geht’s dann doch auch nicht. Gesprengte Brücken sprengen schließlich das Budget.

Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins ist ein Genre-Genuss, da gibt es keine Zweifel. Mag sein, dass die Menge an unwahrscheinlichen Koinzidenzen das logische Verständnis strapaziert, doch das Überzeichnen des Thrillers ist Part of the game. Wer schon die unmögliche Masken-Mechanik akzeptiert, wird auch den Rest akzeptieren. Solche Szenarien sind aber das, was  Actionkino ausmacht. Mission Impossible ist irreale Fiktion und spannendes Theater, zwischen Agentenkrimi und Science-Fiction. Tom Cruise holt für den ersten Teil des Grande Finale alles raus, was noch geht. Und wird für das Ende vom Ende noch einige Asse im Ärmel haben. Sein Schlüssel zum Erfolg, der passt.

Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins (2023)

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

MAN LEBT NICHT NUR ZWEIMAL

7,5/10


drstrange_multiverse© 2022 Marvel Studios / Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: SAM RAIMI

CAST: BENEDICT CUMBERBATCH, ELIZABETH OLSEN, XOCHITL GOMEZ, BENEDICT WONG, RACHEL MCADAMS, CHIWETEL EJIOFOR, PATRICK STEWART, HAYLEY ATWELL, LASHANA LYNCH, JOHN KRASINSKI, ANSON MOUNT, BRUCE CAMPBELL U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Keine Sorge! Das, was leicht hätte passieren können, tritt zum Glück nicht ein. Nämlich, dass Kevin Feige bei der Planung seines MCU völlig den Faden verliert, was schließlich durch die Einbringung der Multiversum-Komponente verführerisch genug gewesen wäre. Nein, Kevin Feige zeigt sich besonnen. Und weiß, was für und wieviele Fäden er bereits in der Hand hält. Er weiß auch, dass es nicht ratsam wäre, wirklich viel Neues hinzuzutun. Er knüpft also mit den Fäden, die er hat, eine Reihe neuer Muster in seinen epischen Marvel-Wandbehang, auf dem schon so viele Helden und Antagonisten aus den Comics ihren unverrückbaren Platz besetzen. Mehr ist über manche von ihnen nicht mehr zu erzählen. Andere hingegen, die durch den Streamingdienst Disney+ auch in so mancher Serie gut weggekommen sind und noch etwas zu sagen hätten, finden wieder zurück auf die Leinwand. So zum Beispiel Wanda Maximoff aka Scarlett Witch, die wir als Scarlett Witch aber noch nicht kennengelernt haben, es sei denn, die originelle Mindfuck-Dramedy Wandavision kann bereits als gesehen ad acta gelegt werden. Und falls dem nicht so ist, und Doctor Strange in the Multiverse of Madness in den nächsten Tagen ansteht, empfehle ich, diese neun Folgen womöglich an einem Binge-Wochenende noch schnell von der Watchlist zu streichen, ist sie doch die einzig relevante Storyline zwischen all den anderen, die unterstützend dazu beiträgt, Elisabeth Olsens Handeln als Superhexe auch wirklich, in all seiner Dramatik, nachvollziehen zu können.

Die letzte Sache mit Spidey hoch 3 ist mehr oder weniger Geschichte. Dr. Stephen Strange erwacht  nach einem heftigen und sehr real anmutenden Alptraum in seinem Schlafzimmer irgendwann nach Spider-Man: No Way Home an einem normalen Tag im MCU Universum, wo gerade mal sonst nichts passiert – außer die Hochzeit seiner Ex Christine Palmer. Die Feier crasht ein einäugiges Tentakelmonster – womöglich der entfernte Verwandte von Starro, dem Eroberer aus Suicide Squad – das sich durch die Straßen wälzt und auf der Suche nach einem Mädchen namens America alles platt macht. Das mit speziellen Fähigkeiten ausgestattete Wunderkind ist Dr. Strange überdies im Traum erschienen, was folglich einige Fragen aufwirft. Was für Besonderheiten bringt Miss America mit sich? Wie relevant ist das für die Stabilität der Wirklichkeiten? Und warum mischt sich plötzlich Wanda Maximoff ein, hält sie doch ein Buch in ihren Händen, welches womöglich aus demselben Regal entnommen wurde wie H.P Lovecrafts Necronomicon oder eben das Naturon Demonto aus Tanz der Teufel, mit welchen wirklich fiese Dinge angestellt werden können.

Tanz der Teufel? Da wird jemand wie Sam Raimi hellhörig, hat der doch diesen Horrorschocker Anfang der Achtziger inszeniert. Womöglich hat sich der Altmeister gar nicht lange bitten lassen, in Anbetracht der Tatsache, abermals Dämonen und Untote umherbewegen zu dürfen. Aber Marvel und Horror? Geht das überhaupt zusammen? Dabei muss man die Definition von Horror neu überdenken. Horror kann tatsächlich jugendfreundlich sein, ohne groß zu verstören und dennoch zu vergnügen, ähnlich einer Geisterbahnfahrt am Rummel. In Doctor Strange in the Multiverse of Madness setzt Raimi auf Basis eines wirklich astrein überarbeiteten und von unnötigen Schnörkeln befreiten Skripts auf eine attraktive Balance zwischen den bewährten Franchise-Qualitäten, die alle State of the Art sind, und düsterer, aber erfrischend aufgeweckter Dark Fantasy, die in alten Mythen wie Dantes Inferno herumwühlt, liebevolle Hofknickse vor entschärften Evil Dead-Elementen macht und tatsächlich auch den Geist alter Roger Corman-Filmklassiker wie Der Rabe – Duell der Zauberer beschwört. Das Zitieren der coolen Anthologieserie What if… mit allerlei Alternativ-Helden hat überdies Schmackes; die Settings, Kreaturen und das intensive Aufspielen von Elizabeth Olsen ebenso, dagegen wirkt Rachel McAdams geradezu unbeholfen. 

Dieser neueste Beitrag in einer satten und bereits über mehrere Jahrzehnte kausal zusammenhängenden Welt unbegrenzter Möglichkeiten bremst sich dort ein, wo vieles aus dem Ruder hätte laufen können, und eröffnet nur gezielt neue Storylines für spätere Abenteuer. Andere könnten darin das Fahren mit Handbremse sehen, und zugeben muss man schließlich, dass der konveniente Erzählduktus des MCU so erwartbar schmeckt wie ein McDonalds-Burger egal wo auf der Welt. Raimis kluge Regie aber, und die Freude an den Möglichkeiten, auch die etwas dunkleren Seiten des Phantastischen zu bedienen, lassen das metaphysische und stellenweise packende Abenteuer irgendwie anders erscheinen – nur nicht als müden Zaubertrick.

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

Christopher Robin

VON NICHTS UND IRGENDWAS

7/10

 

null© 2018 Disney Enterprises, Inc. All Rights Reserved.

 

LAND: USA 2018

REGIE: MARC FORSTER

CAST: EWAN MCGREGOR, HAYLEY ATWELL, TOBY JONES, MARK GATISS, ADRIAN SCARBOROUGH U. A.

 

„Dummer alter Bär“, wird er von seinem Besitzer gerne genannt. Freundlich ist das nicht. Doch Christopher Robin, der Junge in den seltsamen Hosen und Riemenschuhen, darf ihn getrost so nennen. Das macht dem tapsenden Honigbären nichts aus. Denn Winnie Puuh oder nur Puuh, der stellt keine Ansprüche. Erwartet sich nichts. Lebt jeden Tag, als wäre es sein Lieblingstag, denn das ist immer Heute. Doch wenn zum Beispiel Gestern noch dazu Morgen ist, dann wäre das schon zu viel Tag. Was jetzt etwas kompliziert klingt, aber seine Logik hat, obwohl Winnie Puuh alles andere als eine Geistesriese ist. Wenn Hunde sprechen könnten, wäre Winnie Puuh einer dieser unendlich treuen Vierbeiner, die bedingungslose Freundschaft leben und zur Stelle sind, wenn sich Kummer breit macht. Den kleinen Bären mit den herzzerreißend dreinblickenden Knopfaugen und der sanften Stimme umgibt eine Art meditative Aura der inneren Einkehr, der Ruhe und des Rückzugs, wo der umtriebige Mensch, ob Alt oder Jung, sein Denken und Handeln wieder rebooten kann und vielleicht draufkommt, was wirklich wichtig ist im Leben. Winnie Puuh weiß das natürlich auch nicht, andererseits aber irgendwie schon. Und wirkt dadurch manchmal richtig weise, wie Yoda, nur ohne Lichtschwert, stattdessen mit Honig ums Mäulchen.

Erst viele Jahre später nach dem Abschied von Christoper Robin vom 100 Morgen Wald und nach zügig durchblätterten Kapiteln lässt gleichnamiger Film seine Handlung überhaupt erst beginnen. Der Hüter seiner Stofftiere ist jetzt erwachsen und ein Arbeitstier, ohne Zeit für Frau und Kind, und ohne einen verschwendeten Gedanken an seine Spielgefährten von damals, alleine deswegen, weil es an Zeit fehlt. Puuh und Konsorten geraten in Vergessenheit, dementsprechend unwirtlich sieht’s im Wald der Heffalumps und Wusels auch aus. Als der Haussegen der Robins so richtig schief hängt, findet der kleine Honigbär wie durch Zufall den Weg zu seinem Meister – wie ein Wink des Schicksals, der dann auf Umwegen vieles wieder geradebiegt.

Regisseur Marc Forster, der schon mit Dramen aus unterschiedlichsten Genres experimentiert hat, betritt mit Christopher Robin nicht unbedingt Neuland – ein ähnlicher Film über das Schaffen von Peter Pan-Erfinder James Matthew Barry zählt bereits zu seinem Oeuvre. Dennoch ist dieser Film hier irgendwie anders. Einerseits könnte Christopher Robin die Fortsetzung zur ebenfalls in diesem Jahr erschienenen und sehr sehenswerten Biografie Goodbye Christoper Robin sein, andererseits aber auch der allumfassende Epilog zu allen bisher erzählten Zeichentrickabenteuern, die Winnie Puuh und seine Freunde so erlebt haben. Etwas metaphysisch Biographisches, ein phantastischer Film längst nicht nur für Fans jüngeren Semesters. Forster erzählt vom Erwachsensein, vom Verlust der Kindheit und vom Ernst des Lebens, ja sogar ansatzweise vom Krieg. Dinge, mit denen die ganz Kleinen, die Winnie Puuh´s gezeichnete Abenteuer kennen, nicht allzu viel anfangen können. Schulkinder allerdings, die von Pflicht, Eigenverantwortung und einer gewissen Eigendynamik des sozialen Lebens so ihre Ahnung haben, werden Christopher Robin als einen Film genießen, der garantiert nicht unterfordert und neben all dem unbekümmerten Spaß auch melancholische, fast schon traurig tönende Saiten anschlägt.

Denn diese Stofftiere, diese Seelenbären und Seelentiger, mieselsüchtigen Esel und ängstlichen Schweinchen, diese Verkörperungen all der Gefühlswelten eines Kindes im Erwachsenen, sind so dermaßen ansprechend zum Leben erweckt, dass ich es kaum glauben kann. Winnie Puuh als Realfilm – meine Skepsis dazu hat sich im Vorfeld relativ lange gehalten. Nach Sichtung dieses Films weiß ich, wie gewissenhaft und mit wie viel Liebe zum Detail und Respekt zur Vorlage Ikonen des Kinderzimmers aus der zweiten Dimension hervorgeholt werden können – hinein in eine unglaublich reale Welt, erdfarben und von schwindendem Tageslicht. Das regennasse, graue London und der nebelverhangene Märchenwald zaubern eine poetische Tristesse, mittendrin eine zusammengenähte Menagerie, abgenutzt und reif für den Flohmarkt, gleichermaßen aber so unbezahlbar wertvoll wie eine Erinnerung an die Kindheit, die man niemals missen möchte. Da trotten sie dahin, entkitscht bis zum Gehtnichtmehr, maximal das Ferkel strahlt in abgewetztem Altrosa, jedes dieser herzensguten Wesen in seiner eigenen Welt. Forster findet mit seinem begnadeten Kameramann Matthias Koenigswieser atmosphärische Bilder eines entrückten Alltags, dazwischen, wie Sternschnuppen aus dem Augenwinkel, das so Schräge wie Zauberhafte aus alten Spielzeugkisten. Die Kultfiguren aus Milne´s Feder erleben literaturadäquat unaufgeregte Abenteuer voll kauzigem Slapstick und charakterlichen Pointen. Spenden Trost, Zuversicht und eine unerschütterliche Zuflucht vor den Widrigkeiten, die ein Leben so mit sich bringt. Da wäre es ja mehr als angebracht, nach dem Besuch im Kino wieder das eigene alte Stofftier vom Dachboden zu holen, um es wieder mal so richtig durchzuknuddeln.

Christopher Robin