Ghosted (2023)

NEHMT EUCH EIN ZIMMER!

4/10


ghosted© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: DEXTER FLETCHER

BUCH: RHETT REESE, PAUL WERNICK

CAST: CHRIS EVANS, ANA DE ARMAS, ADRIEN BRODY, TATE DONOVAN, AMY SEDARIS, TIM BLAKE NELSON, ANTHONY MACKIE, SEBASTIAN STAN, JOHN CHO, MARWAN KENZARI, RYAN REYNOLDS, MIKE MOH U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Niemanden interessiert wirklich, was den Antagonisten – umgangssprachlich den Bösewicht – so antreibt. Da kann Adrien Brody gar nichts dafür, er muss die Rolle nehmen, wie sie ist. Niemanden interessiert, worum es eigentlich geht und warum denn nun schon wieder das Schicksal der Welt auf der Kippe steht, womöglich wegen irgendeiner Superwaffe, die unter der Hand verschachert wird. Beides interessiert selbst die Drehbuchautoren nicht mal wirklich. Sie schmücken ihr Star-Vehikel mit Versatzstücken aus, die man aus dem Setzkasten pult, und die so generisch sind, dass sie wie ein Blindtext vorgefertigte Layoutseiten füllen. Kurz gesagt: Das ist langweilig. Vor allem dann, wenn sich ein derart gestalteter Plot zum Hauptthema aufbläst und man ohnehin schon längst weiß, wie es enden wird.

Ana de Armas und Ex-Captain America Chris Evans wollten es anscheinend so. Beide haben den Film produziert, und beide wollten sich selbst in Screwball-Rollen sehen, die in ihren Interaktionen ungefähr so charmant und gewitzt sein hätten sollen wie damals Katherine Hepburn und Humphrey Bogart, später Kathleen Turner und Michael Douglas und noch viel später Jamie Lee Curtis und Arnold Schwarzenegger, die in True Lies jenem Konzept mit Selbstironie auf die Sprünge halfen, welches eben jetzt, in Ghosted, den Akteuren zugrunde liegt. Eine gemähte Wiese, könnte man meinen. Spielplatz für das, was sich neckt und in Wahrheit liebt. Doch beide, de Armas und Evans, sind in ihrem Bestreben, filmreife Gefühle füreinander zu entwickeln, zu sehr von Parametern abgelenkt, die die Actionkomödie vorantreiben sollen. Also hetzen sie von einer Szene zur anderen, nachdem sich die beiden storybedingt aus den Augen verlieren, damit einer von beiden überhaupt erst – wie der Titel schon sagt – geghostet werden kann.

Chris Evans hat als Cole Turner also die bildhübsche und kluge Sadie kennengelernt. Sie verbringen einen Tag und eine Nacht und am nächsten Morgen gehen sie auseinander. Cole tippt brav seine Chat-Nachrichten inklusive Emojis, doch Antwort kommt keine mehr. Ist Mann zu aufdringlich? Braucht Frau Zeit für sich? Wie jetzt, schon nach einer Begegnung? Cole, der noch nie im Ausland war, packt die Gelegenheit mein Schopf und will Sadie dort überraschen, wo sie sich gerade aufhält – in London. Doch wie es der Zufall so will, wird der unbedarfte und bald sehr aufgebrachte Zivilist von Verbrechern entführt, die ihn für jemand ganz anderen halten. Sadie funkt dazwischen, bevor Blut fließt – und entpuppt sich als CIA-Agentin. Fortan müssen beide, ob sie wollen oder nicht, allerlei Abenteuer bestehen, die nach James Bond oder Mission Impossible, wohl eher aber nach einem x-beliebigen Agententhriller aussehen, den man schnell vergisst.

Was einem von diesem ganzen lauen Tamtam in Erinnerung bleibt, sind vielleicht diese auffallend vielen Cameo-Auftritte, die gemeinsamen den geheimen Star des Films stellen. Wie sich Ryan Reynolds, Sebastian Stan oder Anthony Mackie in Einzelszenen und mit viel Humor verheizen lassen, ist sehenswert. Der Rest nicht.

Ghosted (2023)

November (2022)

DIE GEHETZTEN VON PARIS

6,5/10


november2022© 2022 Studiocanal


LAND / JAHR: BELGIEN, FRANKREICH 2022

REGIE: CÉDRIC JIMENEZ

BUCH: OLIVIER DEMANGEL

CAST: JEAN DUJARDIN, ANAÏS DEMOUSTIER, SANDRINE KIBERLAIN, JÈRÉMIE RENIER, LYNA KHOUDRI, STÉPHANE BAK, CÉDRIC KAHN U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Statt des 11. Septembers 2001 war es der 13. November 2015, ein Freitag. Dass die ominöse Zahl noch dazu mit einem Freitag zusammenfiel, war reiner Zufall. Denn wenn das Böse zuschlägt, nimmt es vor allen Dingen keine Rücksicht auf irgendwelchen Aberglauben. Auf die Uhrzeit leider schon. Denn genau dann, wenn ganz Paris nach Dienstschluss und vor dem Wochenende irgendwo auf kulturellen Events verweilt oder im Lokal der Wahl entspannte Gespräche führt, gilt es für die kranken Köpfe des Terrors, zuzuschlagen. Und das taten sie auch. Dieser 13. November war für Frankreich ungefähr das, was Herbst 2001 für die USA bedeutet: ein beispiellos tiefer Messerstich ins Herz einer aufgeklärten, friedfertigen Zivilisation. Und wie auch beim 11. September weiß ich noch genau, wo ich gewesen bin, als die ersten Infos noch als Fußleiste über den Fernsehbildschirm liefen. Sondersendungen würden folgen.

Sieben Jahre später hat sich das Trauma insofern in einen wiedergewonnenen Alltag integriert, dass nun die Filmwelt Frankreichs auf den verkrusteten Wunden der Tragödie herumtasten kann. Die USA war da eher bereit: Michael Moore stanzte vier Jahre später mit Fahrenheit 9/11 gleich den ersten thematisch verwandten Film aus dem aschegrauen Boden der jüngsten Vergangenheit, um George W. Bush den Kampf anzusagen. Viele weitere Produktionen, vorrangig Spielfilme, sollten folgen. Mit November brachten die letztjährigen Filmfestspiele von Cannes kein Betroffenheitskino an die Öffentlichkeit, sondern einen akribisch recherchierten Tatsachenthriller, der ganz klar nur eines zeigen will: Den dringlich umgesetzten Willen, all die Drahtzieher besagter Nacht zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu musste man dieser erst habhaft werden. Geht natürlich nicht so leicht. Diese Leute wissen, wie man sich unsichtbar macht, wurden sie doch sehr wahrscheinlich genau auf ihre Rolle vorbereitet, sei es nun in irgendeinem Camp im Nahen Osten oder in einem Hinterzimmer irgendwo im längst unübersichtlich gewordenen Moloch von Paris, der Stadt der Liebe, die ängst ihren Status verspielt hat. Viel zu sehr drängt das an der Peripherie wabernde soziale Chaos langsam aber doch in den Mittelpunkt. Filme wie Die Wütendens – Les Misérables oder der auf Netflix veröffentlichte Anarcho-Actioner Athena bringen die Problematik überhöht zwar, aber doch auf den Punkt.

Cédric Jimenez (Der Unbestechliche – Mörderisches Marseille) schwebt allerdings ein Film vor, welcher dem fröstelnden Exekutiv-Pragmatismus von Kathryn Bigelow folgt, die in Zero Dark Thirty einer gefährlich unterkühlten Jessica Chastain jene Werkzeuge in die Hand gelegt hat, die später zur Eliminierung des Oberschurken Osama Bin Laden führen sollten. Ein beinharter Thriller ist das geworden, dunkel und voller Nachtsicht-Optik, doch sehr distanziert, was an der Chronologie der Fakten liegt. Filme wie diese sind Tatsachenberichte in Kinoform, die zeigen, was war, aber nicht, welche Menschen dahinterstehen.

November ergeht es genauso. Im Zentrum steht Jean Dujardin, der niemals schläft und auf 1000 Sachen läuft; der sich Ausruhen nicht leisten kann, der danach womöglich zusammenbrechen wird, denn kein menschlicher Organismus hält auf Dauer eine Anspannung wie diese aus. Die Anti-Terror-Abteilung SDAT stellt nach den Attentaten somit alle menschlichen Bedürfnisse auf Pause, um keine Zeit zu verlieren. Regisseur Jimenez tut dasselbe, und hat auch nicht vor, über gewohnte Spielfilmlänge hinauszugehen, denn niemand würde nach zwei Stunden Fakten- und Indiziengewitter noch auf Spur bleiben wollen. So komprimiert er die Chronik der Ereignisse auf eine Handlungsdichte herunter, die keinerlei Luft lässt für Charakterentwicklung oder dafür, die Lage der Nation stimmungsmäßig zu erfassen. Hier wird ausgeschwärmt, spioniert und gestürmt, was das Zeug hergibt. Hier wird verhaftet und wieder freigelassen. Hier wird gehetzt, gewittert und in Augenschein genommen. Es schaltet sich die CIA dazu und es drängt die Regierung. An Dujardins Seite zeigt Anaïs Demoustier jenseits roter Sommerkleider und französischer Lebenslust – so gesehen in Der Sommer mit Anaïs – Vorzeichen hochgradiger Erschöpfung bei so einem Arbeitssoll.

Klar bleibt der Film spannend und hochinteressant. Gerade gegen Ende, wenn November vorhat, seine Jagd zum Ziel zu bringen, entwickeln sich dann doch so einige zwischenmenschliche Momente, wenn die Bekannte einer der Verdächtigen sich zur Mithilfe entschließt und zwangsläufig ihren bisherigen Bekanntenkreis verrät. Da wird die Notlage so richtig fühlbar, während man im Rest der Zeit gar nicht dazu kommt, das gehetzte Handeln zu reflektieren. Ein Film also wie ein Examen auf Zeit – besser schnell Taten setzen, die Besprechung gibt’s nachher.

November (2022)

The Contractor

AM ARBEITSMARKT FÜR VETERANEN

7/10


thecontractor© 2022 Leonine Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: TARIK SALEH

CAST: CHRIS PINE, BEN FOSTER, GILLIAN JACOBS, EDDIE MARSAN, KIEFER SUTHERLAND, J. D. PARDO, NINA HOSS, FLORIAN MUNTEANU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


In The Gray Man erzählen Joe und Anthony Russo von einem Ex-Sträfling, der als Auftragskiller vom CIA rekrutiert wird – und irgendwann die moralische Integrität des Geheimdienstes hinterfragt. Schlecht für ihn, denn kurz darauf sind die besten Killer hinter ihm her, um den vermeintlichen Whistleblower auszuschalten. Entstanden ist ein Thriller, der als teuerster Netflix-Film aller Zeiten gilt und nebst gut aufgelegten Schauspielern allerdings eine recht seichte und oft kopierte Story erzählt. The Contractor mit dem sympathischen Chris Pine in der Titelrolle konstruiert eine ganz ähnliche Geschichte, nur weitaus weniger auf Hochglanz und lässt viel mehr Raum für psychologische Entwicklungen. Kurz gesagt: The Contractor ist der bessere Film. Auch wenn das Szenario im Grunde nicht ganz neu ist, gelingt dem Schweden Tarik Saleh, der mich bereits mit dem Politthriller Die Nile Hilton Affäre überrascht und beeindruckt hat, das differenzierte Psychogramm eines Mannes, der wohl in Sylvester Stallones Expendables-Runde gerne angeheuert hätte und auch dort nicht groß aufgefallen wäre. Nur hier, in diesem Thriller, hat selbstironischer Humor keine Bühne, was weise entschieden wurde, denn Augenzwinkerei hätte dem Film seine Intensität genommen.

Als physisch angeschlagener Nahost-Kriegsveteran bemüht sich der ehemalige Special Forces Soldat James Harper mit allen Mitteln – und sind es auch Aufputschmittel aller Art – wieder in den aktiven Dienst aufgenommen zu werden. Körperliche wie seelische Belastungen haben allerdings ihren Tribut gefordert, und so bleibt dem eigentlich gebrochenen Familienvater und Ehemann nichts anderes übrig, das Angebot eines ehemaligen Kollegen anzunehmen, in einer Söldnertruppe anzuheuern, die gutes Geld bringt. Bitter nötig hätte er es, stapeln sich doch die unbezahlten Rechnungen auf dem Küchentisch. Der erste Einsatz in Berlin wird dann auch gleich zum Wendepunkt im Leben des ewigen Kämpfers, der sich plötzlich von allen Seiten verraten fühlt und versuchen muss, während er permanent auf der Flucht ist, die finsteren Machenschaften seines Auftraggebers aufzudecken.

Neben Chris Pines überzeugendem Spiel, welches ihn aus meiner Sicht ohne weiteres (und gemeinsam mit seinem Auftritt in Der Anruf) in die engere Auswahl zum nächsten James Bond manövriert, sammeln sich noch andere Charakterdarsteller, die mitunter undurchschaubar agieren, so wie Ben Foster oder Eddie Marsan. Am offensichtlichsten nicht ganz astrein und recht konventionell bleibt Kiefer Sutherlands Figur – doch immerhin freut es, das Zugpferd aus 24 Hours auch mal auf der anderen Seite und abgesehen davon überhaupt wieder in einem Film zu sehen. Als europäische Ergänzung darf Nina Hoss als zugeknöpfte Mittelsfrau agieren – alles in allem also ein stimmiges Ensemble in ebenso stimmigen und manchmal auch gnadenlos konsequenten Szenen, die sich davor hüten, gefällige Drehbuchversatzstücke zu integrieren und sich dahingehend zu bequemen, etwaige Wendungen an den Haaren herbeizuziehen. Dadurch erhält The Contractor genug Ecken und Kanten, wenn schon nicht die Ambivalenz der Figuren für die Gewährleistung eines Thrillers, der am Schlachtfeld globaler Verstrickungen als schwer einzunehmende Bastion gilt, ausreichen würde.

The Gray Man kann man sich ohne weiteres ansehen. The Contractor aber ist erdiger, schmutziger und zehrt außerdem mehr an den physischen Ressourcen der überrumpelten Figuren. Wenngleich der Showdown wie über den Kamm geschoren wirkt und tatsächlich mehr zu Stallone passen würde, kommt zumindest die Action letzten Endes auch nicht zu kurz. Ein Umstand, der die vielleicht manchmal zu lakonische Dramaturgie aus der Reserve lockt.

The Contractor

The Gray Man

DIE PFUSCHER VOM (GEHEIM)DIENST

5,5/10


grayman© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANTHONY & JOE RUSSO

CAST: RYAN GOSLING, CHRIS EVANS, ANA DE ARMAS, BILLY BOB THORNTON, REGÉ-JEAN PAGE, WAGNER MOURA, JESSICA HENWICK, DHANUSH, JULIA BUTTERS, ALFRE WOODARD U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Ryan Gosling muss seine Identität nicht wechseln. Dafür hat er eine Nummer. Sierra 6. Oder so ähnlich. Netflix will nämlich auch gerne sein eigenes Agenten-Franchise haben, doch irgendwie mag es damit nicht so recht funktionieren. Vielleicht zäumt der derzeit unter einigem Kundenschwund leidende Streamingriese sein Pferd von der falschen Seite auf. Des Rätsels Lösung scheint nämlich nicht, jede Menge Superstars einzukaufen, die dann als abrufbares Haus-und-Hof-Ensemble zur Verfügung stehen. Wir haben Ryan Reynolds, Dwayne Johnson, Gal Gadot, Ana de Armas schon des Öfteren. Mark Wahlberg, Jamie Foxx und jetzt auch zur Freude aller Fans von Nicolas Winding Refn, der ihn mit Drive so richtig stoisch in Szene gesetzt hat: eben Ryan Gosling. Das muss doch funktionieren, denken sich die Verantwortlichen von Netflix und feiern sich und den Actionthriller The Gray Man als neues Ei des Columbus, dessen um der Standfestigkeit willen in Mitleidenschaft gezogene Unterseite mehr Brüche quer durch den Film verursacht als anfänglich in Kauf genommen.

Denn was hat The Gray Man denn eigentlich wirklich Besonderes zu bieten – neben des Casts natürlich? Die Antwort ist nicht leicht zu finden. In der Story ruht sie jedenfalls nicht. Zugrunde liegt dieser ein x-beliebiger 08/15-Roman aus der Feder von Tom Clancys gehostetem Sidekick Mark Greaney, der gegenwärtig die Jack Ryan-Reihe munter fortführt. Um nicht dauernd dasselbe in Grün zu schreiben, gibt’s auch anderen Stoff – eben The Gray Man um einen angeblich lautlosen Killer eingangs erwähnter Nummer, der irgendwann aus dem Gefängnis geholt wird, um für die CIA als nicht ganz legaler Mister Saubermann zu arbeiten, mit einem Ticket rund um die Welt und einer Verpflichtung auf lebenslang. Die CIA und andere Geheimdienste nutzen zwar wiederholt gut ausgebildete, steuerfreie Schergen zur bequemen Beseitigung potenziell weltverschlimmernder Individuen, wollen aber andererseits natürlich nicht, dass irgendwo in den Rechtsstaaten etwas davon durchsickert. Eine oft benutzte und noch öfter variierte Grundlage für das Thriller Entertainment, sei es nun im Kino oder als Serie. Bei Hanna hat das gut geklappt, bei den Bourne-Filmen ebenso. Bei The Gray Man – nun ja. Die Art und Weise, wie die Einsatzgruppe Scriptwriting hier die Belletristik adaptiert hat, lässt darauf schließen, dass Netflix wirklich nur auf Prominenz setzt.

Der Thriller hat inhaltlich nichts zu bieten. Also zumindest nichts Neues. Die Handlung bemüht sich, auf Spielfilmlänge zumindest so auszusehen, als hätten alle Beteiligten die Sache durchdacht. Und zwar auf kreative Weise. Mit Achterbahnfahrten quer durch Europa (gar nicht mal so exotisch – für die USA vielleicht, in uns Europäern weckt das nicht so sehr das Fernweh) und hineingezwängten Wendungen, die gestressten Nine-to-Five-Jobbern gleich bei stoßzeitlicher U-Bahnüberfüllung auch noch hinter die Tür des abgefertigten Zuges wollen. Dabei entstehen Logiklöcher, die, auch wenn man will, nicht oder nur schwer zu übersehen sind. Tom Cruise schafft in seinen Mission Impossible-Filmen trotz all der kuriosen Schauwerte immer noch sowas wie Plausibilität – den Russo-Brüdern, die mit den beiden Infinity-Filmen aus dem MCU wirklich zeigen konnten, was sie drauf haben, bleibt angesichts des schalen Plots kaum Füllstoff, um dramaturgischen Wendungen nicht den Sinn zu rauben.

Und dennoch: Die Rechnung von The Gray Man ist nicht eine, die gar nicht aufgeht. Wir haben den mimisch recht einsilbigen, aber sympathischen Gosling, der mit Gaze-Auflagen Scherenstiche heilt und Herumballern als diskrete Killermethode bezeichnet. Und den freudvoll aufspielenden Chris Evans jenseits von Captain America, der mit Pornobalken und enger Hose gerne mal den Ungustl gibt. Ana de Armas bleibt da außen vor – ihre guten Momente sind zum Beispiel in der ebenfalls auf Netflix veröffentlichten Agenten-Biopic Sergio zu finden. Und die Action? Spricht nicht für den teuersten Netflix-Film aller Zeiten. Obwohl ich kein Fan bin: Michael Bay hätte diese wohl prächtiger inszeniert. Wobei die krachige Straßenbahnsequenz in Prag außerplanmäßigen Intervallen infolge einer Zugstörung neue Bedeutung verleiht.

The Gray Man

Curveball – Wir machen die Wahrheit

MÜNCHHAUSEN BRINGT DIE WELT ZU FALL

8/10


curveball© 2021 Polyfilm Verleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2020

BUCH / REGIE: JOHANNES NABER

CAST: SEBASTIAN BLOMBERG, DAR SALIM, MICHAEL WITTENBORN, THORSTEN MERTEN, VIRGINIA KULL, FRANZISKA BRANDMEIER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Wenn es nicht so erschütternd wäre, würde man ja wirklich von Herzen darüber lachen. Es läge auch der Verdacht nahe, dass, wenn diese Geschichte hier nicht eben wahr wäre, die Coen-Brüder, Steven Soderbergh oder Adam McCay (Vice) bei diesem Film ihre Virtuosität von der Leine gelassen hätten. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, so etwas wie Burn After Reading zu verfolgen, voller grotesker Wendungen und einem heillos überforderten Anti-Helden, der langsam, aber sicher, mitbekommt, wie sehr sein anfangs kaum abschätzbares Zutun dazu geführt hat, dass die Welt ins Wanken gerät. Doch es bleibt der ernüchternd bittere Geschmack im Mund zurück, nachdem klar wird, dass Curveball – Wir machen die Wahrheit alles andere als eine Politsatire mit zynischen Vermutungen über Politik und Geheimdienst darstellt, die jemand einfach mit enorm viel Schadenfreude niedergeschrieben hat. Curveball ist nicht erfunden. Denn sowas – denkt man länger darüber nach – kann man gar nicht erfinden. Die Realität, die schreibt wieder mal die krassesten Geschichten, und so folgt man Sebastian Blomberg als Biowaffenexperte Wolf durch ein zum Fremdschämen eskalierendes Schmierentheater voller Eitelkeiten und boshafter Geltungsgier, die mit Gerechtigkeit nur mehr wenig zu tun hat.

Längst weiß die Welt ja, was schlussendlich der Funke an der Zündschnur gewesen war, die die Invasion der Amerikaner in den Irak legitimiert hat. Aalglatte Fake News, die niemals validiert wurden, und die, falls sie geprüft worden wären, nichts mehr mit den ursprünglichen Aussagen zu tun gehabt hätten, die sowieso nur einer der Flüchtlinge aus dem Irak von sich gegeben hat, der mit einem deutschen Pass seine Familie nach Deutschland holen will. Natürlich nutzt man die Gunst der Stunde und den Umstand, dass im Irak gerade niemand seinen Geheimdienst herumschnüffeln lässt, um das zu sagen, was alle hören wollen: nämlich die Sache mit den Biowaffenfabriken auf Rädern, tödlichen Tests und Unfällen mit Anthrax. Biochemiker Wolf, der als erste Ansprechperson der Quelle namens Curveball fungiert, freundet sich mit dieser sogar an und hat kurze Zeit später Behauptungen zu präsentieren, die sich der Bundesnachrichtendienst sofort an seine Fahnen heftet, um endlich aus dem Schatten aller anderen Geheimdienste zu treten. Nur: diese Behauptungen sind allesamt falsch. Doch wen schert das – die Wahrheit scheint was für Luschen. Mit den Lügen allerdings haben alle was davon.

Was ist Wahrheit?, lässt Blomberg am Anfang des Films fragen. Und: Was sind wir ohne das Ringen um Wahrheit? Nach Filmen wie diesen kann man getrost zu dem Schluss kommen, dass Politik wirklich das Letzte sein muss. Und das ihr innewohnende Machtpotenzial eine Verhaltensanarchie legitimiert, bei der sich eitle Fassadenkletterer immer noch in den Spiegel schauen können, ohne sich selbst zu sehen. Die Frage nach der Wahrheit hat schon der Politiker Pontius Pilatus im alten Rom gestellt. Die Antwort wissen wollte er genauso wenig wie seine Fachkollegen der Neuzeit. Das teuer erkaufte Image ist das, woran alle Rechtgläubigen abgleiten. Johannes Naber hat diese händeringende Ohnmacht gegenüber denen von ganz oben in einen präzisen, zynischen Politfilm gepackt, der nicht viel tun muss, außer den Fakten zu folgen und der selbst fassungslos dabei zusieht, wie die Weltordnung sich selbst verrät. Für diesen vorzüglich verfassten Streifzug durch die Niederungen nicht nur deutscher Politik findet Naber ein Ensemble, das immer wieder Lust hat, seine realen Vorbilder zu karikieren. Curveball – Wir machen die Wahrheit bleibt immer mit einem gewissen Ernst bei der Sache, kann aber oft nicht anders, als manches einfach nur noch als Realsatire zu sehen, denn der pure Ernst würde sonst zu sehr einer weitreichenden Desillusion folgen. Deutschland hat wieder einmal mehr bewiesen, dass es sich im Genre des politischen Kinos befreiend wohl fühlt. Ein Must-See, so genau und gleichzeitig erfrischend sentimental auf den Punkt gebracht, dass das bisschen weltpolitische Interesse in einem selbst ausreicht, um traurigen Tatsachen wie diese ins Auge sehen zu müssen.

Curveball – Wir machen die Wahrheit

James Bond 007 – Keine Zeit zu sterben

DIE EINSAMKEIT DER DOPPELNULL

5/10


notimetodie© 2021 DANJAQ, LLC AND MGM.  ALL RIGHTS RESERVED.


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: CARY JOJI FUKUNAGA

CAST: DANIEL CRAIG, LÉA SEYDOUX, LASHANA LYNCH, RAMI MALEK, BEN WISHAW, RALPH FIENNES, NAOMI HARRIS, ANA DE ARMAS, JEFFREY WRIGHT, CHRISTOPH WALTZ, BILLY MAGNUSSEN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Es ist ja fast so, als könnte man anhand lange verschobener Filmpremieren die globale Lage in Sachen Corona ablesen. Wenn Filme wie Dune oder eben James Bond 007 – No Time to Die in den Kinos starten, fühlt sich das an wie ein in der Economy-Class händeringend erwarteter Take Off ins Urlaubsland. Von da an kann es nur noch bergauf gehen. Und es ist auch fast so, als wäre der Rückstau im Kinoprogramm damit endlich durch. Von nun an könnte man vielleicht doch eher stressfrei durch die Kino-Agenda gleiten.

Was auch lange braucht, oder sagen wir: dort, wo die Nachfrage am größten ist, könnte auch wirklich Großes verborgen sein. Natürlich, schließlich geht es um nichts anderes als das James Bond-Franchise, das sein Kinopublikum seit den Sechzigerjahren bei der Stange hält. Bond ist Kult, wandelnder Zeitgeist und gleichzeitig hartgesottener Held im maßgeschneiderten Anzug und im Rahmen seiner Missionen über dem Gesetz.

Mit diesem lukrativen Garanten für volle Kinosäle kommt sich eine wie Barbara Broccoli natürlich mächtig vor. Allerdings ist sie das auch. Wie Kathleen Kennedy bei Disney ist auch Broccoli eine toughe Macherin, der man sicherlich kein X für ein U vormachen kann. Entsprechend geschäftstüchtig denkt sie auch – und legt den letzten Bond mit Daniel Craig in die Hände von Cary Joji Fukunaga, der sich längst mit anspruchsvollen Filmen wie Beasts of No Nation bewährt hat. Den Künstlern ihre Arbeit, den Wirtschafterin die ihre, möchte man meinen. Nur – so einfach ist das nicht. Wer zahlt, schafft an – und pocht auf seine Ideen im Drehbuch. Dieses wird längst nicht mehr von einem wie Dalton Trumbo geschrieben, sondern da sind viele, die das Script für eine filmische Wollmilchsau dahingehend optimieren und mit den Entwürfen anderer Besserwisser vermengen, sodass ein verhobenes Konstrukt aus Reminiszenzen, Charakterentwicklungen und bodenhaftender Standard-Action entsteht. Im Finale soll alles vorhanden sein, was Bond ausmacht.

Der Kreis schließt sich also, so wie bei Star Wars. Statt „Ich bin alle Jedi“ heißt es diesmal „Ich bin alle Bonds“. Und es scheint gar, als würde No Time to Die dieses Versprechen erfüllen. Wir sehen und hören anfangs subtile Anspielungen auf frühe Klassiker, im Aston Martin rauschen Craig und Léa Seydoux über Italiens Landstraßen. Vor dem obligatorischen und diesmal im Stil etwas unentschlossenen Intro, gesungen von Billie Eilish, die ein gehaltvolles Flüstern entfacht, allerdings keine Shirley Bassey ist, atmet der Bond-Kult aus allen Poren, verlässt sich auf sein nostalgisches Repertoire, wirkt aber dennoch zeitgemäß. Womöglich stammt der Anfang gar von Autor Fukunaga selbst. Oder aber von Purvis & Wade? Oder Phoebe Waller-Bridge? Wie auch immer, viele Köche eben.

Was so schneidig und stilsicher beginnt, verliert sich in einem unter sichtbarem Bemühen in die richtige Richtung gelotsten Kompromiss aus wenig schlüssigen Handlungsfäden, frappanten logischen Fehlern und fragwürdigen Entscheidungen. Bond selbst versinkt in Trauer und Liebeskummer, hat aber dennoch so manche an Roger Moore erinnernde, verschmitzte Bonmots auf Lager. Craig versucht dabei, seiner legendären Rolle so gut es geht treu zu bleiben. Wäre da nicht das Hineinzwängen seiner Person in ein gnadenlos in die Länge gezogenes Patchwork-Abenteuer, das mit Rami Malek wohl eine der lächerlichsten Bösewichte auf dem Ian Fleming-Planeten aus der Mottenkiste holt. Viel Geschwurbel füllt leere Minuten, aus knackig wird gedehnt, und so gut wie alles, was in diesem Eventkino zum Einsatz kommt – sei es Setting oder Action – war im eigenen Franchise einfach schon mal dagewesen, und zwar viel besser. Selbst so integre und in ihrer Rolle fast schon autark agierende Nebenrollen wie Christoph Waltz oder Lashana Lynch ziehen sich irgendwann zurück, um beim Finale fassungslos zuzusehen, was an pathetischem Kitsch eigentlich alles möglich ist.

Nachher braucht man einen Martini. Geschüttelt oder gerührt ist auch schon egal.

James Bond 007 – Keine Zeit zu sterben

Der Spion

IM OSTEN WAS NEUES

7/10


derspion© 2021 24 Bilder


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2020

REGIE: DOMINIC COOKE

CAST: BENEDICT CUMBERBATCH, MERAB NINIDZE, RACHEL BROSNAHAN, JAMES SCHOFIELD, JESSIE BUCKLEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Ein Grund zum Jubeln für alle Cumberbitches: der idealen Besetzung sowohl für den neuzeitlichen Superdetektiven als auch für Marvels Dr. Strange gelingt auch der Spionagefilm mit links. Hier gibt sie einen, der geheime Informationen aus dem Osten in den Westen schmuggelt. Mit Hut, Mantel und Oberlippennbart ist Benedict Cumberbatch die Inkarnation des rückgratvollen Geheimniskrämers, und das ist auch der Grund, warum Der Spion (im Original: The Courier) nicht nur ein weiterer Geschichtsfilm nach üblichem Schema geworden ist. Hier würzt der charismatische Schauspieler mit seinem unverwechselbarem Timbre und prägnantem Konterfei die Chroniken eines politischen Kraftakts mit darstellerischer Raffinesse. Ein Job, der wohl zu seinen bislang besten gehört.

Cumberbatch schlüpft in die Rolle des unbescholtenen und durchschnittlichen Geschäftsmann Greville Wynne, der im Osten das große Geld wittert, und, ehe er zweimal Russland sagen kann, plötzlich am Tisch mit dem MI6 und der CIA Platz nimmt, die ihn, und gerade ihn, unbedingt als Kurier engagieren wollen. Garantiert würde er sich dabei schadlos halten. Der russische Geheimdienst würde keinen Verdacht schöpfen, wenn Wynne nur so tut, als würde er mit Oleg Penkowski, einem Wissenschaftsoffizier, diese oder jene Verträge abschließen. In Wahrheit aber soll Penkowski seinem neuen Geschäftspartner alle möglichen Informationen übermitteln, die hinter dem Säbelrasseln der Russen stecken. Irgendwann ist dann auch die Sache mit Kuba mit dabei. Brandheisse Informationen also, die zu beschaffen natürlichen ihren Tribut fordern.

Filme über die Kuba-Krise gibt es so einige. In erster Linie natürlich Thirteen Days, Roger Donaldsons eingängige Aufbereitung der Fakten aus Sicht der Amerikaner. Als feines Ergänzungsprogramm lohnen sich nun Dominic Cookes Betrachtungen von der anderen Seite des Atlantiks. Und es passiert eigentlich zeitgleich, zumindest in manchen Momenten des Films, der eine ganz schöne Zeitspanne abdeckt, bis kurz vor dem großen Knöpfedrücken, das damals, in den 60er Jahren, über Ende und Verbleib unserer Zivilisation entschieden hat.

Dominic Cooke, im Grunde Theaterregisseur, hat schon mit der Literaturverfilmung Am Strand (mit Saoirse Ronan in der Titelrolle) viel Gespür für das Zusammenspiel von Charakteren bewiesen. Diese Gabe macht eben auch Der Spion sehenswert, denn es ist nicht nur Cumberbatch, der groß aufspielt und der (vermutlich mit reichlich CGI nachgeholfen) gehörig an Gewicht verliert, was für die Biographie von Wynne leider unentbehrlich bleibt. Dabei teilt er seine Figur in drei emotionale Landschaften, die aber fließend ineinander übergehen. Anfangs gibt er sich ängstlich, naiv und bürgerlich, später übt er sich als Kurier par excellence, den der Jagdinstinkt antreibt – und am Ende gibt er als Insasse im russischen Gefängnis den ungebrochenen, aber traumatisierten Gepeinigten. Da sieht man wieder, was der Mann alles kann. Ihm zur Seite steht Merab Ninidze als einer, der fast schon zu Wynnes Freund wird: Verschlossen, freundlich, gleichermaßen besorgt. Ein erbauliches Gespann, diese beiden. Und letzten Endes erstaunlich, was das für Leute waren, die mitgeholfen hatten, die Welt zu retten.

Der Spion

Aus nächster Distanz

AGENTEN STERBEN ZWEISAM

3/10


ausnaechsterdistanz© 2018 NFP marketing und distribution

LAND / JAHR: ISRAEL, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2018

REGIE: ERAN RIKLIS

CAST: GOLSHIFTEH FARAHANI, NETA RISKIN, DORAID LIDDAWI, DAVID ALI HAMADE, AUGUST WITTGENSTEIN, MARK WLASCJKE, HALUK BILGINER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Gute Regie ist, wenn der Film so wirkt, als würde all das, was zu sehen ist, auf eine gewisse Weise tatsächlich passieren oder es wäre eben gut vorstellbar, dass genau das passieren könnte. Gute Regie ist, wenn es leichtfällt, sich in welche Filmwelt auch immer so einzuklinken, als wäre man zwar nur als Beobachter, aber doch, unsichtbar für die Protagonisten des Films, in das Geschehen involviert. So einen Fokus des Zusehers zu erzielen – das ist gute Regie. Natürlich auch ein gutes Drehbuch. Und letzten Endes, aber nicht zuletzt, Schauspieler, die diesen Zustand ermöglichen, weil man bei ihnen nicht das Gefühl hat, da ist wer, der eine Rolle spielt, sondern die Rolle vergessen lässt, dass sie einen Schauspieler hat.

Umso interessanter ist es, in einem Film wie Aus nächster Distanz zu beobachten, wie genau all diese Dinge nicht passieren. Das israelische Spionage-Kammerspiel mit Golshifteh Farahani ist eine Inszenierung nach Zahlen, bei der die Arbeit hinter der Kamera deutlicher wird als die davor. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch das unempfundene Spiel von Schauspielerin Neta Riskin, die als Ex-Agentin des Mossad wieder reaktiviert wird, um auf Informantin Mona aufzupassen, die in Hamburg in einem geheimen Unterschlupf des Geheimdienstes darauf wartet, dass ihre Gesichts-OP gut genug verheilt, um mit neuem Namen untertauchen zu können. Bis dahin steht sie auf der Abschussliste der Hisbollah. Der Feind könnte an jeder Ecke lauern oder ganz plötzlich auftauchen. Umso nervöser wird Naomi, umso inniger die Beziehung dieser Zweckgemeinschaft.

Spüren lässt sich diese Verschwisterung allerdings nicht. Eben, weil Neta Riskin so performt, als wäre sie jemand, der sich nichts darunter vorstellen kann, wie Agenten eigentlich ticken. Ihre Version einer solchen jedenfalls scheint keinerlei Erfahrung gesammelt zu haben und agiert wie eine unbescholtene Bürgerin, die wie Jamie Lee Curtis in True Lies ganz plötzlich in ein Spionageabenteuer verwickelt wird – nur ohne humoristischer Note. Durch dieses Spiel und auch durch das laienhaft wirkende Abdrehen einer herbemühten Story gerät Aus nächster Distanz zu einer uninspirierten Arbeit, die sich auf ungelenke Art durch die Szenen quält, bei denen Regisseur Eran Riklis jedesmal froh gewesen sein muss, sie hinter sich zu haben. Denn leicht ist ihm dieser Film im Gegensatz zu einem anderen seiner Werke, nämlich dem weitaus professionelleren Lemon Tree, scheinbar nicht gefallen.

Aus nächster Distanz

Tenet

BE KIND REWIND

7/10

 

tenet© 2020 Warner Bros. GmbH

 

LAND: USA 2020

REGIE: CHRISTOPHER NOLAN

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, ROBERT PATTINSON, ELIZABETH DEBICKI, KENNETH BRANAGH, MICHAEL CAINE U. A. 

LÄNGE: 2 STD 30 MIN

 

Time is on his side: wenn Christopher Nolan über die Zeit nachdenkt, dann ist das garantiert nicht so, als würden Marty McFly und sein väterlicher Freund Doc Brown darüber nachdenken. Nein, es mag schon, gelinde gesagt, einen Tick komplizierter sein. Nolan, der denkt nicht nur darüber nach, er brütet vor sich hin. Sinniert, philosophiert. Jedenfalls versucht er, wie viele andere auch (die womöglich daran gescheitert sind), diesem Mysterium Zeit mithilfe eines logisch scheinenden Testversuchs auf die Spur zu kommen. Sorry, lieber Akribiker, du wirst letzten Endes scheitern. Denn die Zeit, die mag zwar in deinen Filmen stets auf deiner Seite sein – sobald man ihr ernsthaft auf den Grund kommen will, ist sie dein einziger Feind. Und ja, in Tenet (lat. für Grund- oder Glaubenssatz) ist sie das wirklich, sowohl storytechnisch als auch letzten Endes als Stich in die gedankliche Zeitblase.

Egal ob Memento, Inception, Interstellar, ja sogar in Dunkirk – das temporäre Gefüge, die linear ausgerichtete Entropie, ist für Nolan stets der gordische Knoten, den er nicht, wie Alexander der Große, einfach zerschneiden will. Er will ihn auseinanderfriemeln. Jedes Mal versucht er es aufs Neue, und jedes Mal sind es andere Ansätze. In Tenet findet er wieder einen komplett neuen Zugang, wie aus dem Ei gepellt. In seinem bereits vom Covid-müden Kinopublikum heiß ersehnten Science-Fiction-Thriller bekommen Dinge und Personen nämlich die Möglichkeit, zu invertieren. Das heißt, sie und ihre freigesetzte Energie werden zeitlich umgekehrt, laufen rückwärts. Der Zeitstrahl dürfte bei Tenet dabei linear verlaufen – von Paralleluniversen, die das Großvater-Paradoxon aushebeln könnten, ist eigentlich keine Rede. In diesem linear verlaufenden, entropischen Zeitstrahl also kann man sich selbst zurückspulen. Das heißt – man schafft keine andere Vergangenheit oder Zukunft, diese bleiben konstant. Verändert wird nicht das große Ganze, wie eben in Zurück in die Zukunft oder The Butterfly Effect. Die Zeit wird in Tenet erstmals in der Geschichte des Films zu einem – sagen wir mal so – nutzbaren Gegenstand, wie eine Waffe oder ein Werkzeug. Und verblüfft dabei das Publikum mit einem der ältesten Tricks des Kinos. Noch dazu spricht im global umherhetzenden Tenet einiges dafür, das Agenten-Franchise eines James Bond jemand ganz anderem zu vererben: einem Protagonisten namens John David Washington, der eine ausgesprochen charismatische Figur macht. Blöd nur, dass Nolan ihn vorweggenommen hat, sonst wäre er nach Daniel Craig der ideale Kandidat.

Der Geheimagent aus Tenet jedenfalls packt die Sache enorm integer an, nimmt die Möglichkeit einer Zeitumkehr gebührlich ernst, ohne aber aufs Augenzwinkern zu vergessen. Vergessen sollte man auch nicht, dass das Mindfuck-Kino mit Tenet auch seinen Zenit erreicht hat. Darüber hinaus wird’s dann nur noch verschwurbelt und das Publikum könnte verärgert den Hut draufhauen, weil es von Anfang bis Ende nicht mehr mitkommt. Tenet ist inhaltlich entsprechend herausfordernd, die Parameter der Zeit bieten ordentlich viele Leos für Logikhürden, die nicht gemeistert werden können, fallen aber wenig ins Gewicht. Kann sein, dass man hin und wieder den Faden verliert, dass man auf Details am Rande, die untergehen, zufrieden pfeift, weil die ausgearbeitete Strenge des Films mit all seinem typisch erdfarbenen Nolan-Kolorit und dem Rohbau-Kubismus ohnehin fasziniert. Ganz verstehen wird Tenet ohnehin niemand, man kann die Komplexität, die vielleicht auch nur vorgibt, eine solche zu sein, ohnehin nicht ergründen. Und vielleicht soll das auch gar nicht der Fall sein, da der Mystizismus um die vierte Dimension in diesem Film ein stilvoll servierter Appetizer ist, der als Spielwiese obskurer Gedankengänge voller verbogener Logik Gusto aufs Grübeln macht.

Tenet

Der Fall Richard Jewell

DER ÜBLICHE VERDÄCHTIGE

8/10

 

richardjewell© 2020 Warner Bros.

 

LAND: USA 2019

REGIE: CLINT EASTWOOD

CAST: PAUL WALTER HAUSER, KATHY BATES, SAM ROCKWELL, JON HAMM, OLIVIA WILDE U. A. 

 

Wer ist eigentlich Paul Walter Hauser? Würde mich nicht wundern, wenn hier jetzt einige von euch fragend nach dem Namen googlen. Womöglich erscheint hier ganz oben bei den Ergebnissen ein gewisser Film namens I, Tonya, jener True Story über besagte Eiskunstläuferin, die ihre Konkurrentin sabotiert haben soll. Eine der Nebenrollen, die hier im Gedächtnis geblieben sind, war jene des selbsternannten Agenten Shawn Eckhardt. Auch in BlackKlansmann fiel er als eher unterbelichteter Neonazi auf, beides handfeste Performances, die wohl auch Clint Eastwood aufgefallen sind. Denn der hat ihn kurzerhand für seinen neuesten Film engagiert, und zwar nicht für eine Nebenrolle, sondern gleich für die ganz große One-Man-Show, in der er Richard Jewell verkörpert, dessen Name vermutlich nun auch durch den Suchfilter laufen wird, denn jenseits des Atlantiks sind die Schlagzeilen rund um einen mehr schlecht als recht vereitelten Anschlag auf die Olympischen Spiele in Seattle entweder längst in Vergessenheit geraten oder gar nicht mal in solchem Ausmaß durchgedrungen wie zum Beispiel jenes Wunder vom Hudson River, das Flugzeugpilot Sully vollbracht hat. Diesen gewissenhaften, integren Charakterkopf kann man nach wie vor durchaus als Held bezeichnen, obwohl Helden selber von sich niemals so sprechen würden. Held ist auch ein relativ „gefährliches“ Wort, ich sage mal so, denn ein Held scheint unfehlbar zu sein, und diese implizierte Unfehlbarkeit ruft in relativ kurzer Zeit jede Menge Gegenstimmen auf den Plan, und so wird die Perfektion einer guten Tat schnell zu einem ungläubigen Wunder, dass, hat man es nicht selber gesehen, im Zweifel für des Menschen guten Charakter niemals passiert sein kann. Nach Sully ist Der Fall Richard Jewell der zweite Film zur Analyse von Alltagshelden anhand wahrer Geschichten. Die Ambivalenz eines solchen Geschehnisses, diese graue Wolke, die solche Menschen in ihren unnachahmlichen Taten umgibt, dürfte das sein, was Clint Eastwood fasziniert. Überhaupt sind es diese Portraits außergewöhnlicher Amerikaner, denen sich Clint Eastwood schon die längste Zeit gewidmet hat und vermutlich noch widmen wird. Er beobachtet sie innerhalb ihrer Zeitkapsel aus Ruhm und Zweifel, um sie dann wieder in ihre Anonymität zu entlassen. Doch bemerkenswert sind sie alle. Und ganz besonders dieser Richard Jewell, den Paul Walter Hauser eben so grandios verkörpert. Als wäre das die Rolle, auf die er Zeit seines Lebens hingearbeitet hätte, stünde er nicht erst am Anfang einer großen Karriere, die hiermit womöglich ihren ernsthaften Anfang nimmt.

Zugegeben, Richard Jewell dürfte damals ein Sonderling gewesen sein. Einer, der bei seiner Mutter wohnt (ebenfalls grandios: Kathy Bates), Waffen sammelt und für den Recht und Ordnung über alles geht. Das klingt schon mal verdächtig – aber warum eigentlich? Recht und Ordnung ist schon mal notwendig, wenn jemand so ein Verständnis dafür hat, warum sollte nicht gerade der einen Job in der Exekutive haben? Weil er über die Stränge hinausschlägt? Manches zu ernst nimmt? Über nichts hinwegsieht? Im Nachhinein ist es gut, das Jewell über nichts hinweggesehen hat, denn der oftmals gekündigte und scheel beobachtete Junggeselle hat als erster diesen herrenlosen Rucksack bemerkt, der unter einer Bank im Areal des Olympia-Parks lehnt. Natürlich war das eine Bombe, und natürlich ist sie explodiert, doch dank Richard Jewell hat diese weniger Schaden angerichtet als geplant. Der Mann wird zum Helden, wird in so gut wie fast allen Medien zum Interview geladen und durch die Gegend hofiert wie ein Popstar. Bis dem FBI die Sache spanisch vorkommt, ist doch der Bursche das exakte Ergebnis einer Faustformel fürs Täterprofil. Pech für ihn, ein üblicher Verdächtiger, und im Namen aller Profiler fraglos schuldig. Inquisition verlief im tiefsten Mittelalter nicht anders, aber das nur am Rande. Der Retter wird also zum Täter hochstilisiert. Was dann beginnt, sind quälende Wochen aus Bespitzelung, Hausdurchsuchung und Schmutzkübelmedien, die aus dem Paulus einen Saulus machen.

Mit Der Fall Richard Jewell ist Clint Eastwood mit knapp 90 Jahren wohl einer seiner besten Filme gelungen. Dieses unfassbar wahre Paradebeispiel einer mediengemachten Hexenjagd der Neuzeit ist Schglagzeilenkino vom Feinsten, alleine schon aufgrund seines grandios aufspielenden Ensembles bis in die Nebenrollen, die von Eastwood mit sicherer Hand und ohne allzu viel Druck aufs Set geschickt werden. Bei so viel dramatisierter Erniedrigung klappt einem durchaus die Kinnlade herunter, und zwischenszeitlich ertappt man sich selbst dabei, der investigativen Meinungsmache stattzugeben. Doch Jewell, der dürfte ein aufrichtiger Bursche gewesen sein (und ist es so denke ich heute noch), und dabei zuzusehen, wie ein ebenfalls begnadeter Sam Rockwell als schrulliger Anwalt seinem Klienten aus der Misere hilft, ist packend, unglaublich menschelnd und kurios zugleich.

Der Fall Richard Jewell