Oslo Stories: Liebe (2024)

DIE LUST AUF ANDERE

7/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: KJÆRLIGHET

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: ANDREA BRÆIN HOVIG, TAYO CITTADELLA JACOBSEN, MARTE ENGEBRIGTSEN, LARS JACOB HOLM, THOMAS GULLESTAD, MARIAN SAASTAD OTTESEN, MORTEN SVARTVEIT U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Nicht nur Richard Linklater kann den Dialogfilm. Wir erinnern uns noch: Before Sunrise, ebenfalls Teil einer Trilogie, in der es ums Reden, dann ums Reden und nochmals um Reden geht, ließ das Publikum nicht nur Wien bei Nacht betrachten, sondern etablierte eine intellektuelle Kunstform, in welcher weniger die Handlung den Film antreibt, sondern das gesprochene Wort. Und hier auch nicht der Monolog, sondern der Austausch an Meinungen, Erlebnissen und das gelebte Interesse am Gegenüber. In Anbetracht aktueller sozialer Tendenzen, die in Richtung Ich-Einkehr gehen und in denen das sogenannte Gegenüber lediglich zur tagebuchähnlichen Projektionsfläche wird, ist diese Art der selbstlosen Aufmerksamkeit eine seltene Eigenschaft, die im Gedankenkino wiederkehrt und sich etabliert, momentan und sehr auffällig vor allem in der Oslo-Trilogie, die zwar nicht ganz so radikal wie Linklater nur das Gespräch sucht, dafür aber einen gemeinsamen Nenner all dieser drei Filme freilegt: Sexuelle Normen und intime Identitäten.

Während Oslo Stories: Träume empfundene sexuelle Anziehung und das Verliebtsein in vielerlei Hinsicht und aus den Blickwinkel unterschiedlicher Menschen betrachtet, geht Oslo Stories: Liebe einen Schritt weiter und sieht sich an, wie gelebte Individualität mit unterschiedlichen Formen von zwischenmenschlicher Beziehung klarkommt. Auf der einen Seite ist da der homosexuelle Krankenpfleger Tor, der täglich mit der Fähre zur Arbeit pendelt und die Überfahrt dafür nützt, Kontakte für sexuelle Abenteuer zu knüpfen. Bis er auf den Psychiater Bjørn trifft – einem Mann, der ganz anders tickt (und als einziger auch in Oslo Stories: Träume vorkommt). Auf der anderen Seite haben wir Marianne, Urologin und Arbeitskollegin von Tor, die sich von diesem inspirieren lässt und, obwohl ihre Freundin sie mit einem alleinstehenden Familienvater verkuppeln will, der sehr wohl ihr Typ zu sein scheint, das Konzept der sexuellen Freiheit erprobt.

Sex und die Suche nach Vertrauen

Let’s Talk About Sex? Es geht bei weitem nicht nur darum. Es lässt sich gar erkennen, dass diese Form des Miteinanders im letzten Teil von Haugeruds urbaner Trilogie andere Prioritäten erlangt. Das müssen längst nicht die wichtigsten sein, können aber gewichtig werden, wenn der Begriff des Vertrauens in einer ganz gewissen Szene im Film kein einziges Mal Erwähnung findet. Und doch gibt es Lebensentwürfe, die ohne diesen Umstand klarkommen, die den Wert des Vertrauens und Vertrauen-Gebens nicht erfahren müssen oder wollen. In genau dieser Szene, wenn Marianne mit ihrer Fähren-Bekanntschaft für eine Nacht über das Fremdgehen philosophiert, denke zumindest ich unweigerlich an Karoline Herfurths geglücktem Episodendrama Wunderschöner. Dieser Moment passt da gut hinein, weitet sich das Gespräch auch noch insofern aus, da es die männliche Wahrnehmung von Frauen, die ihre Selbstbestimmung leben, kritisch, aber vorwurfsfrei thematisiert.

Vorwürfe gibt es in Oslo Stories: Liebe schließlich überhaupt keine, nur wahnsinnig viel Verständnis. Als wäre das Künstlermanifest Dogma 95 wieder auferstanden, lobt Haugerud den Dialogfilm als dokumentarischen, fast schon beiläufigen Austausch, ohne dabei allzu sehr abzudriften. Die Side Story um eine Osloer Jubiläumsfeier mag vielleicht trotz ihrer feministischen Thematik nicht ganz fertig und auch weniger relevant wirken für das, was den Film umtreibt – die parallel- und ineinanderlaufenden Charakterentwicklungen hingegen bestechen durch ihre sprachliche Raffinesse, die sogar jede Menge nonverbales Understatement zulässt, wenngleich Oslo Stories: Liebe in der norwegischen Originalfassung mit Untertiteln fast schon als halbes Buch durchgeht, mit vielen netten Bildern, auch vom Osloer Rathaus. Ein seltsames, kantiges, geometrisches Gebäude, scheinbar brutalistisch. Ein Kontrapunkt zur veränderlichen Gefühlswelt dieser experimentierfreudigen Liebenden.

Oslo Stories: Liebe (2024)

Oslo Stories: Träume (2024)

WIE MAN DIE GEFÜHLE DER ANDEREN SIEHT

7,5/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: DRØMMER

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: ELLA ØVERBYE, SELOME EMNETU, ANE DAHL TORP, ANNE MARIT JACOBSEN, INGRID GIÆVER, ANDRINE SÆTHER, LARS JACOB HOLM U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Was hätten wohl andere Filmemacher mit diesem Stoff gemacht hätten? Eine Schülerin verliebt sich in eine Lehrkraft. Großes Drama, großer Skandal. Tragödie, wenn wir so wollen. Das Melodrama wäre andernorts, mit anderem erzählerischem Temperament und anderen Prämissen gerne entfesselt worden – bei Dag Johan Haugerud haben diese Banalitäten keinen Spielraum. Der wird schließlich durch starke Charaktere eingenommen, die es eher weniger zulassen, dass sie selbst das Symptom ihres eigenen Schicksals sind. Von diesem ist Oslo Stories: Träume ebenfalls weit entfernt. Es genügt, wenn das geheime Begehren stark genug ist, da braucht es nicht das große Drama, das präzise Dialoge einem plakativem Szenario opfert. Die Liebe einer Schülerin zu ihrer Lehrerin – die bleibt. Was Haugerud aber daraus macht, ist etwas ganz anderes. Etwas viel Tiefergehendes, Komplexeres, Übereinanderlappendes.

Als Teil eines scharfsinnigen Triptychons unter dem Überbegriff Oslo Stories würden sich noch die Episoden Liebe und Sehnsucht dazugesellen – untereinander sind es völlig autarke Geschichten und erinnern in ihrer grundlegenden Konzeption sehr wohl auch an den Großmeister des polnischen Kinos, Krysztof Kieslowski, der mit seiner ganz eigenen, aber weitaus metaphysischeren und wuchtigeren Trilogie Drei Farben: Blau, Weiß und Rot die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – die französische Tricolore – als sinnbildliche Gleichnisse in die europäische Filmgeschichte einzementiert hat. Etwas Ähnliches dürfte Haugerud gelungen sein. Seine Begriffe sind weniger gesellschaftliche Werte als innere Gesamtzustände, relevante Emotionen, die ein ganzes Dasein bestimmen, die vorwärtsbringen, anleiten, vernichten. Die Seite an Seite mit Hoffnung und Verzweiflung funktionieren. Was tun diese Empfindungen mit uns? Und wie werden diese von einem bestimmten Gegenüber reflektiert? Woran erkennt man, dass der andere sie auch wahrgenommen hat? Lassen sich Sehnsüchte und Begehren spüren, wenn man das alles geheim hält? Gibt es da etwas, eine Aura, welche die richtigen Signale birgt?

Dabei ist Oslo Stories: Träume kein beobachtendes Kino, kein Experiment, sondern ein filmgewordenes Gespräch ohne Scheu vor Fragen, Rückfragen und mehreren Antworten gleichzeitig. Wie die siebzehnjährige Johanne damit umgeht, dass sie für Johanna Gefühle empfindet? Niemand leitet uns jemals dabei an, dieses Empfinden auch den Umständen entsprechend zu managen. Die Regeln der Gesellschaft gelten hier, die junge Johanne gibt sich bedeckt, schafft es aber, bei der weitaus älteren, faszinierenden Künstlerin anzuknüpfen, indem sie bei ihr die Fertigkeit des Strickens erlernt. Es scheint, als würde auch Johanna Gefühle hegen – ein Verdacht, den das Mädchen auf Papier bringt und am Ende dieser Erfahrung eine ganze Geschichte geschrieben hat, die Novelle einer Verliebtheit, die Impressionen eines Zustandes und die Beobachtung der Geliebten. Dieser Text fällt später in die Hände von Mutter und Oma, noch dazu ist er sagenhaft gut geschrieben – und bald ist das Werk nicht nur ein zu Papier gebrachter Lebensabschnitt, der niemanden etwas angeht, sondern ein kleines Verlagswunder, dass seine Leser findet.

Liebe, Träume, Sehnsucht – diese drei Adjektive bedingen einander oder sind gleichermaßen Teil des jeweils anderen Begriffs. Ohne Sehnsucht keine Träume, ohne Träume keine Liebe, ohne Liebe keine Sehnsucht. Dieses Dreieck des Begehrens analysiert gerade in dieser Episode den Umgang mit den eigenen Gefühlen und das erfüllende Beherrschen selbiger. Haugerud legt viel Gespür in das Schauspiel seines Ensembles, bemüht aber gleichzeitig einen gewissen Rationalismus, der zeigt, wie ein verliebter Mensch im zarten Alter eines Teenagers die Wirrungen seines Lebens durch Verschriftlichung bändigt.

In diesem sozialen Geflecht, das Haugerud mit reduzierter Farbpalette webt und nur in wenigen Szenen das sinnliche Kino entdeckt, finden sich Generationen, Positionen, Blickwinkel. Über allem steht der pragmatische Blick auf alternative Chancen und die Akzeptanz des Unmöglichen. Mit besonnener Klarheit und geschliffenen Gesprächen nimmt Haugerud eine Grundsituation wie diese, die für plakative Romanzen taugt, endlich mal ernst. Dieser Zugang ist wahnsinnig erwachsen, inspirierend und auf erfrischende Weise hinterfragend. Kino für Zuhörer und psychosoziale Hobbyforscher.

Oslo Stories: Träume (2024)

Handling the Undead (2024)

AUCH ZOMBIES SIND FAMILIE

5/10


Handling the Undead© 2024 TrustNordisk


LAND / JAHR: SCHWEDEN, NORWEGEN, GRIECHENLAND 2024

REGIE: THEA HVISTENDAHL

DREHBUCH: THEA HVISTENDAHL & JOHN AJVIDE LINDQVIST, NACH DESSEN ROMAN

CAST: RENATE REINSVE, ANDERS DANIELSEN LIE, BJØRN SUNDQUIST, BENTE BØRSUM, BAHARS PARS, OLGA DAMANI, KIAN HANSEN, JAN HRYNKIEWICZ, INESA DAUKSTA U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Nicht genug, dass durch irgendein metaphysisches Ereignis Norwegens Bevölkerung aus anderen Epochen plötzlich in der Gegenwart aufschlagen – so gesehen in der wirklich sehenswerten Miniserie Beforeigners, die schon 2 Staffeln zählt. Jetzt bringt ein anderes, nicht näher erläutertes und deshalb auch höchst dubioses Ereignis den Stromkreislauf des Landes zum Versiegen, währenddessen die kosmische Energie dafür verwendet wird, all die kürzlich Verstorbenen von ihrer letzten Ruhestätte zu vertreiben. Wer, wenn nicht John Ayvide Lindqvist, der für die Vorlage von Filmen wie So finster die Nacht oder Border sein Copyright hochhält, kann sich dieses Szenario ausgedacht haben. Eines, das auf den ersten Blick so wirkt, als hätten wir es mit einer schnöden Untotengeschichte zu tun. Bei Lindqvist gibt es da meist dieses Mehr an gesellschaftspolitischer Komplexität, er verortet seine fantastischen Komponenten stets in einem äußerst realen, gegenwärtigen und greifbaren Umfeld. Bei Lindquvist kann das Paranormale einen jeden treffen, weil diese Faktoren längst in unserem Alltagsleben inhärent sind.

Bei Handling the Undead sind die Toten immer noch jene, die zu den Familien der Trauernden gehören. Ihre Verwesung ist noch nicht so weit fortgeschritten, um sie als Monster zu deklarieren. Ihr Verstand verharrt zwar in einer somnambulen Stasis, doch das letzte bisschen Erinnerung und Persönlichkeit mag da noch an die Oberfläche gelangen wollen, um zumindest noch das ehemalige Zuhause zu erkennen, in welches die Schatten ihres früheren Selbst wie selbstverständlich reinschneien. Auf den ersten Blick freut das natürlich jene, die sich längst von ihren Liebsten verabschiedet haben. Hier nochmal mit einem zwar wortkargen, aber physischen Dacapo getröstet zu werden, mag die Tatsache einer völlig anderen Wesensart eines Zombies zumindest temporär verdrängen – alsbald schon liegen die Defizite zur früheren Person klar auf dem Tisch. Was also tun mit den lieben Verwandten, wenn sie durch ausgeprägt lethargisches Verhalten den Alltag erschweren und sich auch dazu hinreissen lassen, das tun zu müssen, was Untote eben tun: Gewalt anwenden.

Auf dem diesjährigen Sundance Filmfestival mit Handling the Undead debütiert, hat Regisseurin Thea Hvistendahl das vielfach bemühte Zombie-Thema nochmal so weit variiert, dass diese Idee passgenau in die Feiertagsthematik rund um Allerseelen passt. Im Gegensatz zum Tag der Toten in Lateinamerika als kunterbuntes Freudenfest (siehe Pixars Coco – Lebendiger als das Leben) ist dieser Film die depressive Bebilderung eines Jenseitsbesuches, der überhaupt nichts mehr Feierliches, Erhabenes oder Bereicherndes hat. Was da die Lebenden heimsucht, sind leere Hüllen, die als Ersatz der Vermissten nicht lange vorhalten. Genauso wie ihre Zombies hat Hvistendahl allerdings nur wenig Interesse daran, aus ihrem narrativen Minimalismus auszubrechen. Sie wagt oder will es nicht, auf gemeingesellschaftlicher Ebene die heimgesuchte Stadt Oslo im Ausnahmezustand darzustellen, um aus dem paranormalen Phänomen die Diskrepanz zwischen Leben und Tod auszuloten. Sie begnügt sich damit, die Toten atmen zu lassen. Das ist reichlich wenig für eine Anomalie, die eine Menge hergeben könnte, würde Handling the Undead den Fokus nicht nur sehr streng auf drei Einzelschicksale setzen, die untereinander nicht in Berührung kommen, um in fast schon semidokumentarischer Nüchternheit die Grundproblematik fremder Vertrauter zu variieren.

Das Potenzial also ungenutzt, schlurft der Film blutleer, bitterernst und grau seine abendfüllende Spielfilmlänge ab und hätte dabei aber als griffiger Kurzfilm wohl viel eher funktioniert. Wie in Slow Motion spult Hvistendahl ihre Szenen ab, lange Einstellungen wechseln mit überlangen Szenen, der ganze Film ist wie eine ausgedehnte Schweigeminute für Verstorbene, bei der man tunlichst vermeidet, Emotionen zu zeigen. In diese Tristesse kann man sich aber durchaus fallen lassen. Lebt man im Moment selbst nach diesem Modus der Verlangsamung und der Schwermut eines harten Lebens, könnte man von Handling the Undead aufgefangen und verstanden werden. Im Grunde ist die Idee schließlich reizvoll genug, um über Verlust, Trost und die Hürden des Abschieds nachzudenken.

Handling the Undead (2024)

Der schlimmste Mensch der Welt

DAS LEBEN IM KONJUNKTIV

7/10


schlimmstemenschderwelt© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, FRANKREICH, SCHWEDEN, DÄNEMARK 2021

REGIE: JOACHIM TRIER

BUCH: JOACHIM TRIER, ESKIL VOGT

CAST: RENATE REINSVE, ANDERS DANIELSEN LIE, HERBERT NORDRUM, MARIA GRAZIA DIE MEO, HANS OLAV BRENNER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Kennt ihr den Begriff Hättiwari? Ist natürlich was typisch Österreichisches. Ein Wort, dass sich zusammensetzt aus „Hätte ich“ und „Wäre ich“. Ein Hättiwari ist jemand, der sichtlich Schwierigkeiten damit hat, sich für die eine oder andere Sache zu entscheiden und entweder gar nichts tut oder das, was er tut, ganz plötzlich abbricht. Auf diese Art kommt man im Leben kaum vorwärts, denn entschließt man sich mal für eines, bleibt das andere auf der Strecke. Was aber, wenn das andere besser gewesen wäre als das eine? So stehen diese Menschen vor geöffneten Türen, die alle recht einladend wirken, die sich jedoch, sobald eine Schwelle übertreten wird, für immer schließen. So ein Mensch ist auch das Fräulein Julie – eine gerade mal 30 Lenze zählende junge Frau, die verschiedene Dinge bereits ausprobiert hat – vom Medizinstudium über Psychologie bis hin zur Fotografie und dazwischen ein bisschen bloggen. Julie steht oft neben sich, crasht mitunter sogar Partys, zu denen sie gar nicht eingeladen wurde und liebt einen Comiczeichner, der es mit der Sprunghaftigkeit seiner Partnerin allerdings gut aushält. Der viel weiß und gerne erklärt. Der irgendwann aber auch nicht mehr tun kann, als zuzusehen, wie Julie den Entschluss fasst, auch in Sachen Beziehung die Schwelle zu wechseln. Kann ja sein, dass Frau etwas versäumt.

Wenn Cannes Preisträgerin Renate Reinsve (Beste Darstellerin 2021) als Julie nach dem Einwerfen von Magic Mushrooms den Boden unter den Füssen verliert, sagt das sehr viel über ihr Leben aus. Warum, fragt sich Joachim Trier, und nimmt seine charmant und gewinnend lächelnde Protagonistin unter die Lupe. Dabei hat seine Julie, anders als Thelma in seinem gleichnamigen, etwas anderen Coming of Age- Mysterydrama, keinerlei anomalen Fähigkeiten, stattdessen aber viele Eigenschaften, die sie fahrig und unentschlossen machen. Eine Figur, wie sie zum Beispiel Greta Gerwig gerne verkörpert hat – als herzensgut, freundlich, unaufdringlich intellektuell und ordentlich verpeilt. Und nicht nur Renate Reinsve erinnert an die US-amerikanische Schauspielerin, die nunmehr lieber Regie führt: Der schlimmste Mensch der Welt entscheidet sich für einen Stil, der sehr an Noah Baumbach erinnert. Es wird viel geredet und diskutiert; die soziale Inkompetenz, die sich aus dem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Trends ergibt, entscheidet über Ende und Anfang von Beziehungen. Zwischen hippen Bobos, die sich im Mansplaining ergehen, und den Selbstverwirklichungen anderer hängt Julie als jemand, der nicht fähig ist, Selbstvertrauen zu entwickeln, in den Seilen. Für dieses Psychogramm nimmt sich Joachim Trier Zeit und entwickelt Geduld, ohne jene des Publikums zu strapazieren. Auch wenn sich in diesem Beziehungsdrama vieles im Kreis bewegt und nicht wirklich im Sinn hat, eine Geschichte vorwärtszubringen, die einen Wandel beschreibt, bleibt Julie als eine kleine Ikone nachstudentischer junger Erwachsener attraktiv und interessant genug, um tatsächlich und wirklich erfahren zu wollen, was genau sie zögern lässt.

Der schlimmste Mensch der Welt ist pointiert geschrieben, unaufgeregt und spontan. Mit kleinen inszenatorischen Spielereien und sanfter Symbolik illustriert er Julies Leben ein bisschen wie eine Graphic Novel. Mit mehr als einer Prise erotischer Freiheit, die wiederum mit dem französischen Erzählkino der Novel Vague kokettiert, beobachtet Triers Portrait eines Lebens im Konjunktiv einen Zustand, aus dem es mit eigener Kraft kein Entkommen gibt. Was bleibt, ist, wie am Ende des Films lakonisch illustriert, die Fähigkeit, sich vorzustellen zu können, was gewesen wäre.

Der schlimmste Mensch der Welt