Der schlimmste Mensch der Welt

DAS LEBEN IM KONJUNKTIV

7/10


schlimmstemenschderwelt© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, FRANKREICH, SCHWEDEN, DÄNEMARK 2021

REGIE: JOACHIM TRIER

BUCH: JOACHIM TRIER, ESKIL VOGT

CAST: RENATE REINSVE, ANDERS DANIELSEN LIE, HERBERT NORDRUM, MARIA GRAZIA DIE MEO, HANS OLAV BRENNER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Kennt ihr den Begriff Hättiwari? Ist natürlich was typisch Österreichisches. Ein Wort, dass sich zusammensetzt aus „Hätte ich“ und „Wäre ich“. Ein Hättiwari ist jemand, der sichtlich Schwierigkeiten damit hat, sich für die eine oder andere Sache zu entscheiden und entweder gar nichts tut oder das, was er tut, ganz plötzlich abbricht. Auf diese Art kommt man im Leben kaum vorwärts, denn entschließt man sich mal für eines, bleibt das andere auf der Strecke. Was aber, wenn das andere besser gewesen wäre als das eine? So stehen diese Menschen vor geöffneten Türen, die alle recht einladend wirken, die sich jedoch, sobald eine Schwelle übertreten wird, für immer schließen. So ein Mensch ist auch das Fräulein Julie – eine gerade mal 30 Lenze zählende junge Frau, die verschiedene Dinge bereits ausprobiert hat – vom Medizinstudium über Psychologie bis hin zur Fotografie und dazwischen ein bisschen bloggen. Julie steht oft neben sich, crasht mitunter sogar Partys, zu denen sie gar nicht eingeladen wurde und liebt einen Comiczeichner, der es mit der Sprunghaftigkeit seiner Partnerin allerdings gut aushält. Der viel weiß und gerne erklärt. Der irgendwann aber auch nicht mehr tun kann, als zuzusehen, wie Julie den Entschluss fasst, auch in Sachen Beziehung die Schwelle zu wechseln. Kann ja sein, dass Frau etwas versäumt.

Wenn Cannes Preisträgerin Renate Reinsve (Beste Darstellerin 2021) als Julie nach dem Einwerfen von Magic Mushrooms den Boden unter den Füssen verliert, sagt das sehr viel über ihr Leben aus. Warum, fragt sich Joachim Trier, und nimmt seine charmant und gewinnend lächelnde Protagonistin unter die Lupe. Dabei hat seine Julie, anders als Thelma in seinem gleichnamigen, etwas anderen Coming of Age- Mysterydrama, keinerlei anomalen Fähigkeiten, stattdessen aber viele Eigenschaften, die sie fahrig und unentschlossen machen. Eine Figur, wie sie zum Beispiel Greta Gerwig gerne verkörpert hat – als herzensgut, freundlich, unaufdringlich intellektuell und ordentlich verpeilt. Und nicht nur Renate Reinsve erinnert an die US-amerikanische Schauspielerin, die nunmehr lieber Regie führt: Der schlimmste Mensch der Welt entscheidet sich für einen Stil, der sehr an Noah Baumbach erinnert. Es wird viel geredet und diskutiert; die soziale Inkompetenz, die sich aus dem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Trends ergibt, entscheidet über Ende und Anfang von Beziehungen. Zwischen hippen Bobos, die sich im Mansplaining ergehen, und den Selbstverwirklichungen anderer hängt Julie als jemand, der nicht fähig ist, Selbstvertrauen zu entwickeln, in den Seilen. Für dieses Psychogramm nimmt sich Joachim Trier Zeit und entwickelt Geduld, ohne jene des Publikums zu strapazieren. Auch wenn sich in diesem Beziehungsdrama vieles im Kreis bewegt und nicht wirklich im Sinn hat, eine Geschichte vorwärtszubringen, die einen Wandel beschreibt, bleibt Julie als eine kleine Ikone nachstudentischer junger Erwachsener attraktiv und interessant genug, um tatsächlich und wirklich erfahren zu wollen, was genau sie zögern lässt.

Der schlimmste Mensch der Welt ist pointiert geschrieben, unaufgeregt und spontan. Mit kleinen inszenatorischen Spielereien und sanfter Symbolik illustriert er Julies Leben ein bisschen wie eine Graphic Novel. Mit mehr als einer Prise erotischer Freiheit, die wiederum mit dem französischen Erzählkino der Novel Vague kokettiert, beobachtet Triers Portrait eines Lebens im Konjunktiv einen Zustand, aus dem es mit eigener Kraft kein Entkommen gibt. Was bleibt, ist, wie am Ende des Films lakonisch illustriert, die Fähigkeit, sich vorzustellen zu können, was gewesen wäre.

Der schlimmste Mensch der Welt

Playground

SCHLACHTFELD SCHULE

7,5/10


playground© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: LAURA WANDEL

CAST: MAYA VANDERBEQUE, GÜNTER DURET, KARIM LEKLOU, LAURA VERLINDEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Die Welt der Peanuts ist eine, in der es so gut wie keine Erwachsenen gibt. Was nicht heißt, dass sie nicht ab und an auftreten, doch meist unsichtbar und aus dem Off unverständliches Zeug brabbelnd – Worte, die ein Kind nicht wirklich tangieren, es sei denn, sie werden direkt angesprochen und müssen Pflichten erledigen, die für ihr zukünftiges Fortkommen durchaus, so sagen andere, relevant sind. Charles M. Schulz hat mit seinen Comics also eine Welt kreiert, die nur den Kindern gehört. In welcher deren Regeln gelten und psychosoziale Mechanismen aus dem eigenen kindlichen Antrieb heraus entstehen. Dennoch würde Schulz womöglich niemals sagen, dass den Kindern das Kommando gegeben werden soll, wie es einst Herbert Grönemeyer in einem großen Missverständnis juveniler Psychologie gegenüber lauthals singend verlautbart hat.

Den Kindern das Kommando zu geben ist ein falscher Weg. Kindern aber die Möglichkeit zu geben, aus eigenem selbstbestimmtem Handeln heraus komplexe zwischenmenschliche Probleme erst zu verstehen, um sie dann zu lösen, ist notwendig. Das beste Biotop dafür: Die Schule. Dort passiert alles, was uns später genauso und immer noch widerfährt, nur kennen wir die Mechanismen zur Deeskalation womöglich besser – die Emotionen, die dabei im Spiel sind, verleiten aber immer noch dazu, sich aufzuführen wie ein Kind.

Playground von Laura Wandel ist wie die Peanuts, nur ohne charmanter Ironie – es ist härter, brutaler, gnadenloser. Was bei Wandels erster Regiearbeit zunehmend irritiert, ist der eng gesteckte Radius der Wahrnehmung, kurze Brennweiten und die Perspektive auf Augenhöhe der zentralen Filmfigur Nora. In Playground gibt es kein Rundherum, nur Kantine, Pausenhof und Klassenraum. Erwachsene erscheinen, sofern sie sich nicht auf Augenhöhe der Kinder begeben, als Fragmente von Körpern, die sich fast schon übergriffig und dominant ins Bild schieben. Playground ist ein Spiel mit den Hierarchien, nicht nur zwischen den Mitschülern, sondern auch und vor allem zwischen Kind und Aufsichtsperson. Fast gleicht dieses Schülerdrama einem Gefängnisfilm, in dem wilde Regeln gelten und das Recht des Stärkeren, Beliebteren.

Die Problemlage des Films ist es überdies wert, in weiterem Vorgehen ergründet zu werden: Die siebenjährige Nora beginnt ihren ersten Schultag an der Schule ihres Bruders Abel und muss sich ihr eigenes soziales Umfeld von der Pike auf neu errichten. Das scheint für den Anfang gar nicht so schwer – doch als sie merkt, dass Abel von drei Buben zusehends und immer heftiger gemobbt wird, findet sie sich in einer Zwangslage wieder: Soll sie nun, gegen den Willen von Abel, angesichts dieser psychischen und physischen Gewalt intervenieren und ihre Beliebtheit aufs Spiel setzen? Oder das Drama zu eigenen Gunsten ignorieren?

Wandel rückt keinen Millimeter von ihrer Kinderdarstellerin Maya Vanderbeque ab. Sie ist das Zentrum des Films, alles dreht sich um sie, all der Lärm vieler Stimmen, all die Gemeinheiten und all der Spott, auf dem die lern(un)willige Klassengesellschaft errichtet wird. Vanderbeques natürliches Spiel ist großartig und es ist wieder mal verblüffend anzusehen, was Filmemacher aus solchen Jungdarstellern herausholen können. Das erinnert mich an Jeremy Milikers Performance in Die beste aller Welten, einem der stärksten österreichischen Filme der letzten Jahre.

Es ist auch verblüffend, wie sehr das Verhalten von Kindern dem von Erwachsenen gleicht, nur lässt sich hier, in diesem schmerzlichen Kammerspiel, die ganze Dynamik ungefiltert beobachten. Geschickt setzt Wandel aber Wendepunkte in diesem Geschehen, bei welchen den Erwachsenen mehr oder weniger die Hände gebunden sind, und folgt dem steinigen Weg kindlicher Selbstfindung auf erzählerisch wuchtige, hochdramatische Weise.

Playground

Liebe

BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET

7,5/10


Liebe© 2012 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2012

BUCH / REGIE: MICHAEL HANEKE

CAST: EMMANUELLE RIVA, JEAN-LOUIS TRINTIGNANT, ISABELLE HUPPERT, ALEXANDRE THARAUD, WILLIAM SHIMELL, RITA BLANCO U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Zehn Jahre hat es gedauert, bis ich mich imstande sah, mir Michael Hanekes wohl erfolgreichstes filmisches Werk zu Gemüte zu führen. Liebe ist schließlich kein Streifen, welchem man sich einfach so zwischendurch oder gemütlich, nach einem anstrengenden Tag, aussetzen möchte. Liebe ist auch nichts zur Unterhaltung oder zur Zerstreuung, sondern etwas, das dem Zuseher eine gewisse Bereitschaft abverlangt, das zu Sichtende entsprechend zu fokussieren. Das Kammerspiel um die Opferbereitschaft von zwei alten Menschen birgt überdies Inhalte, die so sehr mit dem realen Alltag zu tun haben, dass man selten bereit dazu sein mag, die eigene Freizeit mit derlei Problemen zu belasten. Denn wer kennt sie nicht: die eigenen Eltern oder Großeltern, daheim oder im Heim darniederliegend und wartend auf das Grande Finale, auf den Wechsel vom Diesseits in eine andere Daseinsform, weil das Diesseits überhaupt nichts mehr besitzt, wofür es sich zu atmen lohnt. Da sind eine ganze Menge Emotionen mit im Spiel, Trauer und Verlustangst, bittere Melancholie und vielleicht auch Wut. Vor allem aber Verzweiflung und Tränen. Diese alten Menschen hier könnten frappante Ähnlichkeiten mit der eigenen weiter gefassten Biographie aufweisen – doch das sind nur Zufälligkeiten. Nicht aber für Michael Haneke selbst, der seine Geschichte autobiographisch gefärbt hat. Und man darf sich von einem nicht in die Irre führen lassen: dass Haneke, der mit vielen seiner Filme schon verstört hat, dieser Ambition auch nicht immer folgen will. Das verhält sich so ähnlich wie David Lynch und seinem tragikomischen Ausreißer The Straight Story. Auch Lynch kann anders – warum nicht auch Haneke? Und dem ist auch tatsächlich so: Liebe ist des Meisters zugänglichster und behutsamster Film. Er schockiert nicht, übertreibt nicht und quält nicht. Er mag zwar in seiner fortlaufenden Handlung radikale Maßnahmen ergreifen, doch je genauer man diese betrachtet, um so mehr setzt Liebe auf eine nonkonforme, aber nüchtern betrachtet zutiefst humane Schrittsetzung. 

Haneke, der gerne französisch filmt, vereint in einer noblen Wohnung irgendwo nahe des Zentrums von Paris ein Leinwandehepaar, deren Namen Filmkenner in den Ohren klingeln: Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva (Durchbruch mit Alain Resnais Hiroshima, mon amour). Für beide dürfte dieses Konzept eines um die elementarsten Dinge des Lebens handelnden Kammerspiels ein Anliegen gewesen sein – vielleicht auch, um eigene Ängste und Sehnsüchte zu verarbeiten. Beide lassen, sofern sie diese je gehabt haben, Eitelkeiten und Allüren vor der Haustür und sind, was sie sind: aufs Wesentliche reduzierte Liebende. Evira, deren Schauspiel hier kaum zu toppen ist, gibt die pensionierte Klavierlehrerin Anne, die eines Morgens am Frühstückstisch einen Schlaganfall erleidet – dies führt zu einer missglückten Operation, die den verheerenden Fortschritt einer solchen Krankheit letztlich auch nicht aufhalten kann. Anne ist halbseitig gelähmt und wird zum Pflegefall, will aber partout in kein Krankenhaus. Georges respektiert dies, will seine bessere Hälfte auch nicht umstimmen, und tut, was in seiner Macht steht, um seine Lebenspartnerin im letzten Abschnitt ihres Daseins zu pflegen. Was sogar machbar gewesen wäre, würde es nicht rapide bergab gehen. In diesem degenerativen Mahlstrom sieht sich Georges gezwungen, zum Äußersten zu greifen. Im Sinne seiner großen Liebe.

Es gestaltet sich schwierig, einen Film, der von Kritikern lobgepriesen und mit Auszeichnungen überhäuft wurde, unvoreingenommen zu betrachten. Sind da andere Meinungen überhaupt möglich, ohne dass impliziert werden kann, diese Art Kunst nicht verstanden zu haben? Diese Frage muss ich mir zum Glück nicht beantworten – Liebe ist ein präzise ausformuliertes, streng komponiertes Ereignis und soweit vom Kitsch und anderen Sentimentalitäten entfernt, dass man diesen Film fast schon einem anderen Genre zuordnen möchte. Michael Haneke ist ein Meister der Reduktion – hier treibt er das Weglassen offensichtlicher narrativer Elemente an die Spitze. Seiner Vorliebe für das indirekte Spiel, Stimmen außerhalb des Blickfelds und halb geöffneten Türen gewährt er die Chance, ein strenges Alphabet zu kreieren, dass nichts dem Zufall überlässt. Bleiben Emotionen da außen vor? Zumindest solche, die aus Mitgefühl Mitleid heischen würden. Daher ist Liebe kein bleiernes Bestürzungsdrama, sondern unerwartet schwerelos und leicht, pragmatisch und von endgültigen Entscheidungen geprägt. Hanekes Film ist eine Begegnung mit dem Schicksal, ohne dieses zu verachten. Und genau in dieser Methode liegt überraschend viel Trost.

Liebe

Atlantique

WO SIND ALL DIE MÄNNER HIN?

7,5/10

 

atlantique© 2019 Netflix

 

LAND: SENEGAL, FRANKREICH, BELGIEN 2019

REGIE: MATI DIOP

CAST: MAMA SANÉ, IBRAHIMA TRAORE, AMINATA KANE, ABDOU BALDE, IBRAHIMA MBAYE, AMADOU MBOW U. A. 

 

Immer wieder stößt man vor allem bei weniger beworbenen Produktionen, die vielleicht gar nie bei uns im Kino liefen und wenn, dann nur zu Festivals, auf ausgesuchte Überraschungen. Eine solche Überraschung ist dieser Film aus dem frankophonen Afrika. Genauer gesagt aus dem Senegal. Afrikanische Filme werden ohnehin viel zu selten in den Kinos gezeigt, zum Glück gibt’s das Votivkino mit ihren frankophonen Filmwochen. Atlantique wurde übrigens bei den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes präsentiert. Und kam in die Endauswahl für die goldene Palme. Die ging, wie wir wissen, an Bong Joon Ho. Blieb immer noch der Große Preis der Jury, den dieses filmische Kleinod gewann. Geradewegs weg von Cannes ging dieser Film dann mal auf Tauchstation, um wieder über die letzte Viennale bei Netflix zu erscheinen. Und nach Roma dürfte Atlantique wohl das künstlerisch Bemerkenswerteste sein, was dieser Streamingriese derzeit zu bieten hat.

Schauplatz ist Dakar. Die Hauptstadt des Senegal ist diesmal nicht das Ziel eines Racings quer durch die Wüste. Dakar, diese Metropole an der Küste, die wird in Atlantique dominiert von einem futuristischen Hotelgiganten als Symbol einer Zukunft, ganz im Stile des Burj al Arab in Dubai. Dieses Gebäude steht natürlich nicht wirklich dort, sieht obendrein noch aus wie ein gelandetes Raumschiff, fast so wie in Arrival. Um diesen Komplex herum wird eifrig gebaut, und dazu braucht es Männer, junge Männer, die aber schon drei Monate auf ihren Lohn warten und kurz davor sind, auf die Barrikaden zu steigen. Angesichts ihrer Schulden und ihrer ausweglosen Situation beschließen sie, den Sprung nach Europa zu wagen – mit einem Boot über den Atlantik, wie es sowieso schon viele junge Menschen aus Afrika tun. Zurück bleiben die Frauen, die jungen Mädchen. Zerrissen werden Beziehungen, Liebschaften, Freundschaften. Auch die der beiden Verliebten Ada und Suleiman. Doch Suleiman verschwindet, und Ada bleibt alleine zurück. Wie es ihr wohl geht, lässt sich kaum schwer nachvollziehen. Noch dazu wird sie zu einer arrangierten Heirat genötigt, mit einem neureichen Schnösel, der scheinbar alles hat, aber nur eines nicht – Seele. So zumindest scheint es. Was wird Ada wohl tun? Ihrem Geliebten hinterher reisen? Auf ihn warten? Sich selbst behaupten und beginnen, auf eigenen Beinen zu stehen? Doch bevor sich das junge Mädchen diese Fragen selbst beantworten kann, passiert etwas, was nicht zu erwarten ist, und das Diesseits bekommt Besuch.

Was dann eben eintritt, war nicht zu erwarten. Es ist eine Überraschung, aber wie durch ein Wunder eine, die auf Basis einer afrikanischen Lebens- und Geisteshaltung völlig selbstverständlich scheint. Afrika, das ist ein Kontinent, in welchem der Spiritismus zuhause ist, das Zwischendimensionale, das Mystische. Atlantique wird zu einem ebensolchen Parcourlauf, wobei sich die Frage stellt, ob das Paranormale, das hier Einzug in den Alltag hält, nicht sowieso immer schon da war. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul kennt, wird wissen, was ich meine. In Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben ist der Zustand einer Grauzone zwischen den Dimensionen etwas völlig Normales. Das Zusammenleben mit Geistern und Dämonen nichts, wovor sich der Mensch zu fürchten hat. Er hat es nur zu verstehen. Und das ist gar nicht mal so einfach. In Ulrich Köhlers Schlafkrankheit passiert Ähnliches. Auch hier ist das Aufeinandertreffen von Mystik und Realität ein ganz eigenes Erlebnis, das über die Definition des Phantastischen hinausgeht, oder eine ganz eigene, bodenständige Richtung nimmt. Weil es fast schon glaubhaft erscheint. Weil man bei solchen Filmen tatsächlich das Übernatürliche dahinter als evident vermuten könnte. Regisseurin Mati Diop geht aber in ihrem augenscheinlichen, narrativ fast klassischen Liebesfilm noch einen Schritt weiter als nur filmische Seancen zu halten: Sie macht aus ihrem bezaubernd fotografierten, vom Staub der Straßen durchdrängten und gleichzeitig himmlisch funkelnden Kunstwerk eine Allegorie über den Ursprung einer Landesflucht, über den Beweggrund der Flüchtenden und das Ausmachen der Schuldigen. Wie Diop all diese verträumte, schlaftrunkene Symbolik zusammenmontiert, ist erstaunlich aufgeweckt, klug und mit viel Sympathie für ihre Figuren erzählt. Antlantique ist auch melancholisch, hat durchaus Suspense, lässt das Unbekannte aber nicht zwingend bedrohlich erscheinen. Dafür ist zu viel Liebe im Spiel, zu viel Sehnsucht. Atlantique ist unglaublich erfrischend, und das nicht nur aufgrund der Nähe zum Meer. Der Film setzt interessante, neue Impulse und wenn sich die beiden Liebenden in den Armen liegen, getaucht ins Licht einer Strandbar, dann ist das pure Filmpoesie von einem Kontinent, indem mehr das Sein als der Schein die konstante Devise ist.

Atlantique