Für immer hier (2024)

LÄCHELN GEGEN DEN TERROR

6,5/10


© 2024 Polyfilm


ORIGINALTITEL: AINDA ESTOU AQUI

LAND / JAHR: BRASILIEN, FRANKREICH 2024

REGIE: WALTER SALLES

DREHBUCH: MURILO HAUSER, HEITOR LOREGA

CAST: FERNANDA TORRES, SELTON MELLO, FERNANDA MONTENEGRO, ANTONIO SABOIA, VALENTINA HERSZAGE, MARIA MANOELLA, LUIZA KOSOVSKI, BÀRBARA LUZ, CORA MORA, GUILHERME SILVEIRA, MARJORE ESTIANO U. A.

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Familie ist wirklich alles, das weiß auch Walter Salles, brasilianischer Filmemacher und seit Central Station längst bekannt als Beobachter eines jüngeren Südamerika zwischen Individualität und biographischen Notizen, zwischen stillem Aufbegehren und der Charakterbildung einer Revolution, wie sie Che Guevara salonfähig machte (Die Reisen des jungen Che), und zwar so weit, bis sie einging in die Popkultur. Weniger bekannt ist aber das Schicksal und Leben der Menschenrechtsaktivistin Eunice Paiva, die, bevor sie sich als Aktivistin eines Namen machte, als fünffache Mutter das Familienglück in Rio de Janeiro am Laufen hielt: Die malerische Bucht inklusive Jesus stets vor Augen, das strahlende, heiße tropische Wetter, der immerwährende Sommer auch in den Gemütern der Kinder und des Ehemannes Rubens (Selton Mello), ehemaliger Kongressabgeordneter und Kritiker des Militärregimes von Brasilien Anfang der 70er Jahre.

So ein Verhalten, das hätte Rubens wissen müssen, weckt irgendwann den Argwohn der Mächtigen. Hinter der Fassade einer glücklichen Familie, deren Zuversicht man kaum fassen kann, brodelt der kleine Widerstand. Es gibt Botengänge unter der Hand, die dem Regime sicher nicht in die Hände spielen. Irgendwann klopfen die Schergen der Regierung an die Tür des trauten Heims und nehmen Papa kurzerhand mit, um ihm „ein paar Fragen zu stellen“. Aus der Zusage, Rubens wäre bald wieder in der Obhut seiner Liebsten, wird nichts. Die Familie aber, sie bricht nicht auseinander. Eunice versucht, alles zusammenzuhalten, wird sogar selbst verschleppt und landet im Verhörgefängnis an einem unbestimmten Ort, muss Qualen erleiden und um ihre Kinder bangen.

Desaparecidos nennt man jene Menschen, die der Staatsapparat verschwinden lässt. Vor dem Hintergrund dieser grauenhaften Ereignisse, die sich scheinbar zur selben Zeit am ganzen Kontinent abspielen, errichtet Walter Salles das sehr intime und subjektive Portrait einer Familiengemeinschaft mit Mutter Eunice als jemand, der erhobenen Hauptes der Tragödie trotzt. Europa ist dabei weit entfernt von der Geschichte eines Kontinents, der nicht mal ansatzweise seinen Weg in die Schulbücher findet und auch sonst und vorallem angesichts der eigenen tragischen Geschichte nicht viel Platz im Bewusstsein der alten Welt einnimmt. Filme wie diese tun da ihre Pflicht und setzen ein künstlerisch definiertes Ausrufezeichen, machen aufmerksam auf etwas, dass passiert sein mag, das man hierzulande aber maximal zur Kenntnis nimmt als etwas, das genauso nicht hätte sein dürfen wie das Nazi-Regime. Hinzu kommt eine Familie, die, so scheint es, gerne unter sich bleiben würde und sein Publikum nur pflichtbewusst ins Innere blicken lässt.

Anfangs fällt Salles fast schon ungefragt mit der Tür ins traute Eigenheim und stiftet Verwirrung inmitten einer Großfamilie samt unzähliger Freunde und Bekannter, die wir alle nicht kennen. Dieses Bildnis des satten Wohlstands tangiert wenig, es wird gefeiert, und das nicht zu kurz. Der Mittagstisch biegt sich, es gibt Soufflé, dann geht es an den Strand, auch dort eine geschlossene Gesellschaft. Für immer hier lässt sich ordentlich Zeit, um sein Publikum mit dieser Familie bekanntzumachen. Statt Effektivität verliert sich Salles Film aber in einem langwierigen Anlauf. Schon klar, die intakte Gemeinschaft darzustellen, dafür benötigt es Zeit und erzählerischen Raum. Die Methode geht vorerst nach hinten los. Nach einer zähen halben Stunde redundanter Alltagsdarstellungen geht das Drama in den Absprung über – und setzt die oscarnominierte Fernanda Torres als erschütterte, aber stets erhobenen Hauptes lächelnde Matriarchin groß in Szene, umringt von ihren Töchtern und Söhnen. Langsam nähert man sich auch emotional dem ganzen Desaster, spürt die Bedrohung, empfindet Verlust und Sehnsucht nach einem geliebten Menschen, der fortan eine große Lücke bei allen Anwesenden hinterlassen wird.

Die Zeit heilt in Für immer hier niemals alle Wunden. Salles konzentriert sich dabei auf den Mikrokosmos, auf das Einzelschicksal und wechselt niemals die Perspektive. Nicht das Regime, das Konstrukt der Familie ist die eigentliche Politik, das eigentliche System, das funktionieren muss. Je stärker sich Salles fokussiert, umso besser wird der Film, bis nur noch Torres übrigbleibt, die die Flucht nach vorn wählt und den Entschluss fasst, sich für jene einzusetzen, die ähnlich gelitten haben wir ihr Ehemann. Dann aber folgt ein großer Zeitsprung – Für immer hier spart den Werdegang von Eunice Paiva ebenfalls aus wie das Dokumentarische hinter dem Psychodrama. Ob sich Salles hier nicht mit den Prioritäten etwas vertan hat, mag man als Frage in den Raum stellen. Klar ist: Gegen Ende sind die Gefühle groß, wächst die Einheit der Familie umso mehr. Das sind die geglückten Szenen eines melodramatischen Films, der nicht zu allem den nachfühlbaren Zugang gewährt. Und vorallem dann punktet, wenn man Parallelen zur eigenen Familiengeschichte entdeckt.

Für immer hier (2024)

Murer – Anatomie eines Prozesses (2018)

ALS WÄRE DAS ALLES NIE GEWESEN

7/10


murer© 2018 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG 2018

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN FROSCH

CAST: KARL FISCHER, KARL MARKOVICS, ALEXANDER E. FENNON, URSULA OFNER, RAINER WÖSS, GERHARD LIEBMANN, KLAUS ROTT, SUSI STACH, MENDY CAHAN, MATHIAS FORBERG, ROLAND JAEGER, MELITA JURIŠIĆ, INGE MAUX, HEINZ TRIXNER, CHRISTOPH KRUTZLER, FRANZ BUCHRIESER, ERNI MANGOLD U. A.

LÄNGE: 2 STD 17 MIN


Im Freisprechen sind die Österreicher Weltmeister, insbesondere im Freisprechen ehemaliger NS-Verbrecher, die sich nach Kriegsende auffällig leise verhalten und ihr biederes Gemeinwohlleben wieder aufgenommen haben. Das geht dann so weit, dass sie als integrer Teil der Gesellschaft unentbehrlich werden. Menschen wie diese, die während des Hitler-Regimes die Freiheit hatten, straflos über anderes, vermeintlich minderwertiges Leben zu richten, sind perfide genug, um so zu tun, als wäre nichts gewesen. Die verlederhoste Trachten-Gemütlichkeit, von der selbst Elfriede Jelinek schon geschrieben hat, beschert dem gern als Opfer unbequemer Zeiten angesehenen Provinz-Spießer die wahre Glückseligkeit. Einer wie Franz Murer, der ist ein Halbgott des Österreichtums, ein geselliger, bisschen kauziger Großgrundbesitzer mit Einfluss auf die Gemeindepolitik, umgeben von rechten Freunden und freundlichen Rechten. Der, so sagt er, sich niemals etwas zuschulden kommen ließ. Schließlich war Murer immer woanders, nur nicht dort, wo Verbrechen passiert sind.

Manche nannten ihn den Schlächter von Wilna. So ein namentlicher Appendix, der kommt nicht von irgendwoher und auch nicht aus dem Nichts. Als Fleischhauer wird er wohl nicht in die Geschichte eingegangen sein, denn schließlich war Murer Oberaufseher des litauischen Juden-Ghettos, und als Machtperson vor allem einer, dessen lockerer Finger am Abzug gar Frauen und Kindern das Leben gekostet hat. Ein Mann wie er hat Schaden und Schmerz verursacht, dass es ärger nicht hätte gehen können. Ein Mann wie er ist in den Sechzigern zum angesehenen Bürger geworden, wie viele andere auch in diesem schönen Land. Mit Simon Wiesenthal hat dann aber keiner gerechnet. Und so hat es dieser nach seinem Bravourstück mit Adolf Eichmann auch schließlich geschafft, diesen Franz Murer vor Gericht zu bringen.

Da sitzt der feiste Mittfünfziger mit kaltem Blick und wehleidiger Mine als einer, der nicht glauben kann, was ihm vorgeworfen wird. Ein Gesicht wie dieses, wenn es denn mordet, vergisst wohl niemand von denen, die dabeigewesen waren. Da ist es nicht wichtig, ob die Uniform grün oder schwarz oder dunkelbraun oder hellbraun gewesen war. Was zählt, ist das Konterfei, die ausdruckslose Mine, die Unerbittlichkeit willkürlichen Machtgebrauchs. Die Verteidigung sieht das anders, sie baut ihre Gegenargumentation auf Details wie diese auf. Und vermutet gar eine Verschwörung gegen den Angeklagten, der eine Lobby hinter sich weiß, die bis in die damalige österreichische Regierung reicht. Der Populismus war damals schon en vogue, und so gerät unter der Regie des Filmemachers Christian Frosch die Chronik eines Prozesses zur Leistungsschau autoritär Gesinnter, die als bereitwillige Mitläufer den Nazis eifrig zugearbeitet hätten – oder haben. Denn in den Sechzigern ist das Grauen in Europa bereits schon – oder erst – zwanzig Jahre her. Mord verjährt nie, und eine Anklage will gut vorbereitet sein. In einem Grazer Gerichtssaal wird der Zuseher Zeuge eines bereits im Vorfeld äußerst rechtslastigen Verfahrens, zu dem jüdische Zeugen, die im Ghetto von Wilna auf Murer stießen, geladen und angehört werden. Der Ausgang dieses Prozesses steht in den Annalen der österreichischen Gegenwartsgeschichte: Freispruch in allen Anklagepunkten.

Für die Rekonstruktion der Ereignisse konnte Frosch eine ganze Menge bekannter Gesichter gewinnen – Karl Fischer gibt das leutselige, scheinbar harmlose Monster im gedeckt grünen Jagdschloss-Look, bei den Zeugenaussagen spielt seine Mimik alle Stücke, während er versucht, nicht der zu sein, für den ihn viele halten. Karl Markovics darf in die Rolle Simon Wiesenthals schlüpfen. Klaus Rott, Susi Stach oder Gerhard Liebmann (grandios in Eismayer) sind drei der acht Geschworenen, Inge Maux zum Beispiel wütet als gedemütigte Jüdin gegen den schierpas erstaunten Murer, der im Heischen nach Mitleid ertrinkt. Dank dieses Ensembles führt Christian Frosch trotz seines nüchternen Inszenierungsstils die eigentliche Ambition hinter Murer – Anatomie eines Prozesses an ihr Ziel: Den authentischen Entwurf eines latent antisemitischen Dunstes, der durch den Gerichtssaal zieht. Zunehmend wird es unbequem, den Aussagen zu folgen, doch weniger wegen der Gräuel, von denen berichtet wird, als vielmehr von der grassierenden Verlachung von Tragödien. Statt Zeugen anzuhören, werden diese verhöhnt, erlittenes Unglück beschwichtigt. Wenn die Exekutivorgane der Justiz beim Freispruch des Schuldigen aus der Befürwortung dessen kein Hehl mehr machen, weiß man, was es geschlagen hat. Murer ist eine fröstelnd machende Bestandsaufnahme eines braun unterwandernden Österreich. Der Advokat des Teufels mag zwar am Ende geläutert sein – die Realität holt jede Fiktion dennoch ein und erzeugt vor einer unbequemen Klangkulisse einen Kloß im Hals, der einhergeht mit der Gewissheit, dass längst noch nicht alles gut ist.

Murer – Anatomie eines Prozesses (2018)

Die Schneegesellschaft (2023)

SCHLACHTFELD ANDEN

6,5/10


schneegesellschaft© 2023 Netflix Inc. 


LAND / JAHR: URUGUAY, SPANIEN, CHILE 2023

REGIE: J. A. BAYONA

DREHBUCH: J. A. BAYONA, BERNAT VILAPLANA, JAIME MARQUES & NICOLÁS CASARIEGO, NACH DEM ROMAN VON PABLO VIERCI

CAST: ENZO VOGRINCIC, MATÍAS RECALT, AGUSTÍN PARDELLA, ESTEBAN KUKURICZKA, FRANCISCO ROMERO, RAFAEL FEDERMAN, TOMAS WOLF U. A.

LÄNGE: 2 STD 23 MIN


Tunlichst sollte man vermeiden, diesen Film zu konsumieren, kurz bevor man selbst abhebt: Im Nachhinein könnte es passieren, und das obligate Ruckeln im Flieger bei so manchen Luftlöchern lässt das Herz stillstehen und das Bordmenü, sofern es eines gibt, schmeckt noch weniger als sonst. Tatsächlich sind Turbulenzen nur selten der Grund für einen Absturz. Fliegt der Pilot allerdings über eine Bergkette, um auf die andere Seite zu gelangen, wären ein paar Höhenmeter mehr zwischen Felsgrat und Fliegerbauch durchaus ratsam. In diesem Fall allerdings, der sich 1972 zugetragen hat und der bereits von Frank Marshall Anfang der 90er mit dem Titel Überleben! verfilmt wurde, wird ein tieffliegender Vogel der Fuerza Aerea Uruguay mit vierzig Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern niemals mehr an seinem Zielort ankommen. Irgendwo in den verschneiten Anden reißt es das Flugzeug in Stücke, das bugseitige Teil der Maschine pflügt sich schlittengleich durch den Tiefschnee, bis es in der Senke eines Gletschers zum Stehen kommt. Gleich zu Beginn das erste Wunder: Die meisten der Passagiere, darunter auch die Spieler einer Rugby-Mannschaft, haben den Crash vorerst überlebt. Eisiger Wind, Schnee und Schmerzen, womöglich der Geruch von Blut und quälende Schreie sind das erste, was der Erzähler des Films, Numa Turcatti, und seine Freunde in die Realität zurückholt. Bereits zuvor, in der Darstellung der großen Katastrophe, beginnend mit der siedend heiß aufsteigenden Angst unter den jungen Leuten, bevor sie noch alle ihr Schicksal ereilt, gibt sich und uns J. A. Bayona (Das Waisenhaus, The Impossible) die komplette Breitseite eines Unglücks. Er filmt das Zittern, das Jammern, das Verkrampfen im Sitz. Er filmt die Gebete, er filmt das Auseinanderbrechen des Fliegers von innen. Wir sehen, wie es das Heck nach hinten reißt, wie Passagiere, an ihre Sitze gegurtet, ins weiße Nichts fallen. Die Kamera wird zum Passagier, zum Überlebenden. Es ist, als sähen wir mit den Augen eines Verunglückten, plötzlich Blackout und dann nichts mehr.

Während Frank Marshall in seinem Film die unaussprechliche Notmaßnahme des Verzehrs von Menschenfleisch ins Zentrum rückt, schenkt Bayona diesem Tabu nicht die größte Wichtigkeit. Natürlich, ohne der posthumen Hilfeleistung der toten Kameraden hätte niemand überlebt. Ungefähr gleichwertig gesellt sich der menschenunwürdige Zustand immerwährender Kälte hinzu, diesem folgt mit Nachdruck die verheerende Gewalt heranrollender Schneemassen – das Ersticken und verzweifelte Luftholen, wenn ausgemergelte, schwer gezeichnete Körper aus der Schneedecke hervorbrechen. Der uruguayische Kameramann Pedro Luque (u. a. Don’t Breathe 1 und 2) rückt den wie in einem Schützengraben während eines Krieges aller menschlichen Grundbedürfnissen bis auf jene der sozialen Interaktion entledigten Gequälten mit Weitwinkelobjektiven so sehr zu Leibe, dass man sich auch hier – wie schon zuvor beim Absturz – der Situation stellen muss. Mit solchen Szenen wird Die Schneegesellschaft nach dem Roman eines Überlebenden zu einer Art Antikriegsfilm im Katastrophengenre. Weder verklärt noch beschwichtigt noch heroisiert Bayona auch nur irgendeinen Umstand oder irgendjemanden in seinem Film – stattdessen ist es der Schmerz und die Angst, die in der Ausgestaltung eines extremen Naturalismus das romantisierte Abenteuer in Stücke reißt.

Die Auseinandersetzung mit menschlichen Qualen ist eine Sache, die andere ist, dass man natürlich weiß, und zwar längst weiß, wie diese Geschichte ausgehen wird. Überlebt haben letztlich 16 Personen. Aufgrund der Menge an Charakteren, die sich trotz Bergszenario und Weitblick auf engstem Raum versammeln müssen, lässt sich mit keinem recht eine Verbindung aufbauen. All die Charaktere bleiben bestenfalls angerissen, grob skizziert, fast schon gegeneinander austauschbar. Trotz der Bemühung, Die Schneegesellschaft aus der narrativen Sicht eines einzelnen zu erzählen, wird das Individuum in dieser Schicksalsgemeinschaft zum kleinen Teil eines großen Ganzen. Wie der Titel schon sagt, ist vielleicht genau das beabsichtigt. Wieder ein Faktor, der an einen Kriegsfilm erinnert.

Die Schneegesellschaft (2023)

Can you ever forgive me?

FAKE IT OUT!

6/10

 

CAN YOU EVER FORGIVE ME© 2018 Twentieth Century Fox Film Corporation All Rights Reserved

 

LAND: USA 2018

REGIE: MARIELLE HELLER

CAST: MELISSA MCCARTHY, RICHARD E. GRANT, MARC EVAN JACKSON, BEN FALCONE U. A.

 

Würde ich Melissa McCarthy treffen, würde ich womöglich erkennen, dass sie gar nicht so viel anders ist als in ihren Komödien. Womöglich spricht sie, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sagt was sie denkt, lässt sich nicht gängeln, dafür aber gerne provozieren. Und kann sicher auch ordentlich keifen. Filmemacher Ben Falcone, ihr Mann, hat das ideale Händchen für die Dame – ob das, was dabei herauskommt, anderen gefällt, ist ambivalent. In den USA kommt McCarthy ausnehmend gut an. Ihr derbes Auftreten unterhält die breite Masse – hierzulande finden wohl deutlich weniger Leute ihre ulkigen Eskapaden entsprechend witzig. Das liegt aber auch an den Filmen, die ihr an den Leib geschneidert werden. Wie hieß noch gleich diese Krimikomödie, wo sich die mollige Lady eine Einkaufstüte über den Kopf zieht? Tammy – eigentlich ein zweifelhaftes Vergnügen, wie all die anderen flapsigen Komödien unter der Fuchtel ihres Gatten. Und den Muppets-Sexkrimi The Happytime Murders habe ich mir gleich ganz verkniffen, laut den Unkenrufen diverser Rezensenten eine gute Entscheidung.

Nach all diesem Einheitsbrei klamaukiger Eskapaden war es für die von all dieser Routine gelangweilte Wuchtbrumme wohl an der Zeit, sich selbst zu beweisen, dass es auch anders gehen kann. Dass nicht nur schmissige Oneliner und slapstickhafter Overkill die einzigen Skills sind, die McCarthy beherrscht. Da gibt es doch noch die Nische mit den anspruchsvollen Rollen, die, wenn es sich anbietet, sogar noch auf wahren Begebenheiten beruhen. Mal ausprobieren! Was soll schon schiefgehen bei einem Film wie diesen, den das Leben schrieb, das wieder einmal für die kuriosesten Geschichten sorgt, die drehbuchtechnisch überhaupt verfasst werden können.

Can you ever forgive me? ist erstens die Verfilmung eines Bestsellers, und zweitens die Chronik eines meisterhaften Verbrechens. Und damit meine ich nicht das edelmütige Kavaliersvergehen wie der Diebstahl edler Artefakte, das die Oceans-Clique in diversen Hochglanzmovies verharmlost haben. Damit meine ich die Kunst des Fälschens und Feilschens. Wer kommt schon auf die Idee, die Korrespondenz von Marlene Dietrich, Noël Coward oder Dorothy Parker um einige knackig formulierte Statements zu erweitern? Wenn die wüssten, was ihnen in den Mund gelegt wurde. Womöglich hätten sie sich amüsiert gezeigt. Und hätten gestaunt, wie viel Kohle so ein Stück Papier, geschrieben auf diversen alten Schreibmaschinen und auf brüchig getrimmt, in Sammlerkreisen eigentlich machen kann. Rein durch Zufall kommt die erfolglose Biographin Lee Israel, die ihre Miete nicht mehr zahlen kann und eben fristlos entlassen wurde, weil sie eben spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, auf diese moralisch fragwürdige Idee, alle Welt hinters Leselicht zu führen. Doch es ist eine Idee, die, wenn es jemand realisieren kann, relativ schnell zu reichem Ertrag führt. Und wo die Gelegenheit Diebe macht, sind manche davon auch Fälscher. Wie Lee Israel eben, aneckende Außenseiterin mit Köpfchen, die gemeinsam mit dem schwulen Lebenskünstler Jack die Sache mit den Fake-Briefen zum flächendeckenden Geschäft werden lässt.

Was Lee Israel während ihrer selbst bezeichneten „schönsten Zeit ihres Lebens“ eigentlich noch nicht wusste, ist, dass diese der Stoff für ihren späteren Durchbruch werden wird. Mit Can you ever forgive me? landete die Journalistin einen Bestseller. Ihre kriminelle Ära hat sich also im Nachhinein nochmal bezahlt gemacht. Marielle Heller (The Diary of a Teenage Girl) hat Melissa McCarthy eine Frisur Marke Vetter It verpasst, die gute Frau in relativ geschmacklose Sackkleidung gesteckt und zwischen resignierendem Trotz und resoluter Improvisation fahrig umherirren lassen. Keine Frage, die bislang genrefixierte Komödiantin macht ihre Sache gut, und in ernsten Rollen wie dieser hat sie eindeutig mehr Charisma als in ihren sonst üblichen kurzlebigen Zerrbildern emanzipierter Aufmüpfigkeit. Zu sehen, mit welcher Hingabe ihre Version der Lee Israel die Tuchent der Moral dehnt, streckt und wendet, und damit aus dem Schatten ihrer eigenen Existenzangst tritt, entbehrt nicht einer gewissen verschwörerischen Sympathie, so misanthropisch die Betrügerin auch sein mag. Ihr bis ins Detail durchdachtes Konzept der Fälschung erinnert an Dr. Fritz Knobel und dessen Hitler-Tagebücher, den Uwe Ochsenknecht in Helmut Dietls Schtonk! so süffisant verkörpert hat. Nur was in Schtonk! noch die Satire einer True Story war, gerät in Can you ever forgive me? zur trottoirschlendernden, relativ schmucklosen Dramödie zwischen Buchhandlung und Zinshaus und kämpft oft mit der Zugkraft seines Plots. Dann ist der in graubraunen Straßenstaub getauchte Film ungefähr so spannend wie das Abstauben antiquarischer Ladenhüter. Dazu stiehlt Schauspielkollege Richard E. Grant McCarthy fast schon die Show – mit seinem windigen, exaltierten Auftreten als drogenvertickender, charmanter Taugenichts zeichnet er den realen Charakter des Jack Hock detailverliebt nach. Da wirkt unsere – so wie Grant – für den Oscar nominierte Hauptdarstellerin zwischendurch manchmal von der Ambition, ihrer Rolle gerecht zu werden, sichtlich überfordert. Möglich aber, dass das Lügen und Betrügen so sehr an den Neven zerrt, dass alle Beteiligten am Ende froh sind, wenn alles ans Licht kommt. Dass die gefälschten Briefe aber irgendwann mal mindestens genauso viel wert sein werden wie die Originale der Künstler, wage ich vorsichtig zu prophezeien. Und damit meine ich ganz besonders Dorothy Parkers Brief aus dem Jenseits.

Can you ever forgive me?