Emancipation (2022)

DER MEUTE EINS AUSGEWISCHT

6,5/10


emancipation© 2022 AppleTV+


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANTOINE FUQUA

BUCH: WILLIAM N. COLLAGE

CAST: WILL SMITH, BEN FOSTER, STEVEN OGG, CHARMAINE BINGWA, GILBERT OWUOR, MUSTAFA SHAKIR, GRANT HARVEY, RONNIE GENE BLEVINS, TIMOTHY HUTTON U. A. 

LÄNGE: 2 STD 12 MIN


Nach dem Watschen-Eklat bei der letzten Oscar-Verleihung 2022 (ob er wohl heuer tatsächlich nicht eingeladen wird, trotz sichtbarer Reue?) präsentiert sich Will Smith erstmals wieder in einem Film aus dem Sortiment des Streamingdienstes AppleTV+ – weit, weit entfernt von seiner exaltierten Kunstfigur des Prinzen von Bel Air, dem Buddy aus Bad Boys oder dem Date Doctor, der Kevin James das richtige Werkzeug fürs Anbaggern in die Hände gelegt hat. Seit seinem Oscar-Triumph für King Richard – und auch schon längst davor – sieht der impulsive Charaktermime nur in wirklich ernsten, tieftragischen und verzweifelten Rollen die wahre und einzige Wiege guter Schauspielkunst. So wird auch das von Antoine Fuqua inszenierte Abenteuer- und Historienepos für Will Smith eine Rolle vorgesehen haben, die durch die Hölle gegangen sein muss und immer noch geht, die sich aber dadurch auszeichnet, dass sie wirklich allen Gräueln dieser Welt, allen Zumutungen und Entbehrungen letztlich widerstehen kann, einzig und allein durch den unerschütterlichen Glauben an einen gnadenvollen Gott der Christenheit.

Das klingt pathetisch, das klingt nach Märtyrer zur Zeit der Christenverfolgung, und in gewisser Weise scheint Emancipation auch so ein Film zu sein, der für die historische Figur des Whipped Peter, der aufgrund einer 1863 entstandenen Fotografie seines von Peitschenhieben vernarbten Rückens zu weltweiter Bekanntheit gelangte, eine Art Seligsprechung auszurufen gedenkt. Ein Vorhaben, dem Will Smith, womöglich selbst strenggläubig, nur zu gerne zum Ziel verhelfen mochte. Diesem Peter also, welchem die Flucht aus dem Arbeitslager tatsächlich gelang, folgt Emancipation auf historisch akkurate Weise, ohne scheinbar viel zu verfälschen. Um die Schrecken der Sklaverei auch zu übermitteln, wie es seinerzeit schon Steve McQueen mit Twelve Years A Slave getan hat, legt Fuqua enorm viel Wert auf Opulenz und Ausstattung, gönnt seinem Publikum großzügige Panoramabilder und elegante Drohnenfahrten über den Sumpf. Alles in so stark entsättigten Bildern, dass die Frage aufkommt, warum nicht von vornherein in Schwarzweiß gedreht wurde, wenn schon das bisschen Farbe überhaupt keine Notwendigkeit mehr hat. Das Grün der Vegetation des Sumpfes oder die Gesichter des Sklaven im Schein der Lagerfeuer erscheinen dann doch wie handkoloriert – ein Effekt, den man selten sieht, der für die Wahl der Optik aber ein Grund sein kann. Durch das Weglassen der Farbe bekommt aber auch die dargestellte Gewalt der weißen Herren den Farbigen gegenüber eine andere Dimension. Es entsteht ein Eindruck, als wäre man nicht in den USA, sondern in einem Konzentrationslager der Nazis – Assoziationen mit Schindlers Liste drängen sich auf, und Co-Star Ben Foster, der als wortkarger und gefährlich ruhiger Chefaufseher die bösartige Selbstverständlichkeit eines Amon Göth widerspiegelt, der als Morgensport mit dem Gewehr auf Häftlinge zielt, pfeift seine Hunde zum Halali. Doch hier, in dieser Hölle auf Erden, ist ein Schindler leider fünf Tagesmärsche durch den Sumpf entfernt – nämlich dort, wo Lincoln seine Armeen hat: in Baton Rouge. Peter gelingt es zu fliehen, mit ihm ein paar andere. Ihnen nach: eine vierpfotige Meute, die mit erstaunlicher Genauigkeit die Positionen der Flüchtlinge erschnüffeln kann. Oben im Sattel: Ben Foster, ebenfalls hinterher. Alle treibt es durch die Wildnis, und so sehr sich Peter auch bemüht, seine Verfolger abzuhängen – immer wieder kreuzen sich deren Wege.     

Ja, Will Smith ächzt und stöhnt wie Leonardo DiCaprio in Iñárritus The Revenant. Seine Gesichtszüge verraten Panik, Angst, Stress und Wut. Das Entsetzen und der Irrsinn des nackten Überlebens trägt Smith in dezentem Overacting zur Schau. Eine geschundene, aber willensstarke Seele, doch immer wie eine, die sich in einer Challenge mit der Wildnis messen mag. Fuqua will mit diesem Denkmal für eine Ikone der Emanzipation und dem Ende der Sklaverei aber nicht nur dessen Schicksal zelebrieren, sondern auch den Sezessionskrieg in prächtiger Ausstattung heraufbeschwören – was ihm gelingt. Zwar nicht spiefilmlang, sondern als letztes Kapitel, und von einem martialischen Naturalismus, welcher in der aktuellen deutschen Oscar-Hoffnung Im Westen nichts Neues seinen stilistischen Meister gefunden hat. Emancipation hat also alles, was es für ein Drama aus der finstersten Epoche der USA eigentlich braucht. Und tatsächlich gelingt es Fuqua, eine packende Geschichtslektion zu erteilen, wenn auch das christliche Pathos zu viel dem lieben Gott verdanken will.

Emancipation (2022)

Schachnovelle

ÜBERLEBEN IST EIN KÖNIGSSPIEL

7/10


schachnovelle© 2021 Studiocanal GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2021

REGIE: PHILIPP STÖLZL

CAST: OLIVER MASUCCI, BIRGIT MINICHMAYR, ALBRECHT SCHUCH, SAMUEL FINZI, ANDREAS LUST, LUKAS MIKO, MORITZ VON TREUENFELS, ROLF LASSGÅRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Einen Tag vor seinem Suizid brachte der nach Brasilien ausgewanderte Stefan Zweig sein letztes Manuskript zur Post, um es an seinen Verleger zu senden. Es handelte sich dabei um die Schachnovelle, dem knappen, intensiven Psychogramm eines Menschen, der mit allen ihm möglichen Mitteln dagegen ankämpft, gebrochen zu werden. Wenn man so will, ist das Buch nichts anderes als die Chronik einer psychischen Folterung, ein frühes Guantanamo, in welchem der Protagonist insofern gequält wird, indem ihm alles, was den menschlichen Geist am Leben erhält, entzogen wird. Wäre da nicht diese kleine Schachlektüre gewesen, hätte der im Buch als Dr. B bezeichnete Ich-Erzähler wohl seine Geheimnisse preisgeben müssen und hätte sich vermutlich der totalitären Gewalt gebeugt. So jedoch klammert sich der Gefangene statt an den lebensrettenden Strohhalm an zweiunddreißig Figuren, jeweils die Hälfte davon Schwarz und Weiß – und ackert das Büchlein von vorne bis hinten durch, erprobt Strategien und spielt gegen sich selbst. Zum Glück hat der Boden des Badezimmers quadratische Fliesen, und das Brot zur täglich gebrachten Suppe eignet sich wunderbar dafür, vom König bis zum Bauern all die Spielfiguren nachzubilden.

Ein Klassiker, diese Schachnovelle. Spätestens in der Oberstufe ist dieses Buch Teil des Deutschunterrichts und seit den Sechzigern auch Teil des deutschen Filmschaffens, denn eine Aufbereitung mit Curd Jürgens und Mario Adorf gibt es bereits. Die hat allerdings brav nach Vorlage ihre Hausaufgaben gemacht. Philipp Stölzl (Nordwand, Der Medicus) war das zu wenig, vielleicht auch zu langweilig, eine Rahmenhandlung wie in der literarischen Vorlage zu schaffen, und in diese eine gedehnte Rückblende zu betten, die das Martyrium von Dr. B. präzise schildert. Stölzl bricht Rahmenhandlung – eine Schiffsfahrt nach New York, also ins Exil – und Rückblende auf, so als würde man zwei Kartendecks frisch entfolieren und miteinander vermischen. Die Isolation im Wiener Hotel Metropol ist keine Erinnerung mehr, sondern ein gegenwärtiger Ist-Zustand, während die Fahrt auf dem Ozeandampfer meinem Resümee nach genau das gleiche darstellt. Beides findet zur selben Zeit statt. Beides ist Realität und Imagination, ist Wahnsinn und nüchterne Betrachtung.

Schachnovelle ist bei weitem kein herkömmlicher Geschichtsfilm, auch keine herkömmliche Verfilmung. Es lässt – bis auf die kurze Schlussszene – keinen anderen Blickwinkel zu außer jene subjektive Sicht des Gemarterten. Oliver Masucci, ehemals Hitler in Er ist wieder da oder zuletzt als Fassbinder, steigert sich in seine Rolle voller Inbrunst, Schweiß an der Stirn und wimmernder Verzweiflung. Dazwischen ab und an klare Gedanken, die eine neue Taktik fürs Überleben entwerfen. Masucci trägt den Film schauspielerisch im Alleingang, alle anderen sind Hirngespinst und begleitende Schatten gleichermaßen. Stölzls Interpretation des zeitlosen Manifests für das Unbeugsame gegen falsche Ideale gelingt es, die Zeit noch viel mehr einzukapseln und ad absurdum zu führen als Zweig selbst es getan hat. Natürlich sorgt dieses surreale Setting für Irritation und Verwirrung, erst sehr viel später ordnet sich das Gesehene zu einem schlüssigen Ganzen. Im Moment des Sehens jedoch fühlt man sich selbst in seiner Wahrnehmung hinters Licht geführt, und selbst der Stellenwert des Schachspiels ist ein wieder Erwarten deutlich geringerer, sodass sich rein aus der Geschichte nicht ableiten lässt, warum Dr. Josef Bartok so sehr die Perfektion des Spielens beherrscht.

Der Geist ist das einzige, wohin sich ein Mensch, wenn sonst nichts mehr bleibt, zurückziehen kann. Stölzl zeigt, wie eng und ausweglos es selbst da werden kann.

Schachnovelle

Raum

AUF DER ANDEREN SEITE DER WAND

7,5/10 


raum© 2015 Film 4


LAND / JAHR: KANADA 2015

BUCH: EMMA DONOGHUE, NACH IHREM ROMAN

REGIE: LENNY ABRAHAMSON

CAST: JACOB TREMBLAY, BRIE LARSON, JOAN ALLEN, WILLIAM H. MACY, TOM MCCAMUS, SEAN BRIDGERS, CAS ANVAR U. A. 

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Was gibt es nicht für menschliche Monster auf dieser Welt. Damit meine ich nicht mal Diktatoren und Kriegsherren, die das Schwarzbuch füllen, sondern der unscheinbare Otto Normalverbraucher, dessen Horizont maximal bis zur Befriedung des eigenen kaputten Egos reicht, und dessen Kindheit womöglich selbst ganz anderen unscheinbaren Otto Normalverbrauchern zum Opfer gefallen sein könnte. Jene, die sonst, wohin sie auch blicken, nur ihr eigenes Unvermögen erkennen, halten sich zwecks Kompensation dieses Umstands rechtlose Leibeigene, die in Isolation Wochen, Monate und Jahre damit zubringen, nicht gänzlich zu zerbrechen. Ich kann mich noch genau an das erste Fernsehinterview von Natascha Kampusch erinnern, die nach 3096 Tage in Gefangenschaft unter der Herrschaft eines gewissen Priklopil von ihrer geraubten Kindheit erzählt hat. Den ruinierten Seelen unter Peiniger Fritzl blieb so eine Medienkonvertierung erspart. Was Buchautoren aber, inspiriert durch diese skandalösen Zustände, nicht davon abgehalten hat, ähnliche Szenarien zu entwerfen. Zum Beispiel die Kanadierin Emma Donoghue. Ihre Vorlage Raum aus 2010 wurde zum Bestseller. Solche Inhalte stillen die Neugier am Schrecklichen, am geradezu Undenkbaren. So tickt die Psyche so mancher Leser und Seher nun mal – der Impact des Leidens anderer stillt die Furcht und relativiert die eigene Ohnmacht, die dann nicht mehr ganz so farbintensiv im Alltag verweilt.

Der irische Filmemacher Lenny Abrahamson, der vor seinem Durchbruch mit Raum Michael Fassbinders Konterfei im Künstlerdrama Frank hinter Fiberglas versteckt hat, wendet sich allerdings weitgehend davon ab, peinlich berührten Voyeurismus zu bedienen. Donoghues Drehbuch fokussiert von Anfang an jene Figur, aus dessen Sicht diese ganze Geschichte erzählt wird. Es ist nicht Brie Larson als die 7 Jahre in Gefangenschaft dahindämmernde Joy – sondern es ist der kleine, in ebensolche Isolation hineingeborene Jack, sagenhaft gut verkörpert von Jacob Tremblay, und der eigentlich den ganzen Film so ziemlich im Alleingang trägt, da kann selbst sein oscarprämierter Co-Star nicht viel ausrichten, obwohl auch Larson natürlich zeigt, was in ihr steckt. Bei Kinderdarstellern verblüfft so ein Umstand aber immer mehr: das war auch schon im österreichischen, äußerst sehenswerten Film Die beste aller Welten so, in der Jeremy Miliker den mimischen Realismus neu definiert zu haben schien. Tremblay macht das genauso. Und das Beste an Raum: Donoghue und Abrahamson geht es nicht in erster Linie, und auch nicht in zweiter Linie, um die Chronik eines Martyriums, dessen Ende und dessen Nachwehen, die sowieso nur halbherzig erörtert werden. Die Wahrnehmung der Welt und ihrer inhärenten Freiheiten ist das, was Raum so interessant macht. Nicht das Täter-Opfer-Gefüge. Sondern – wenn man so will – die Relativierung einer Realität mit all ihren Parametern zu einer nächsten, viel größeren. Eine Art Erleuchtung sozusagen. Und das einem Fünfjährigen!

Der Mensch bleibt angesichts seines nach oben hin offenen Erkenntnispools sowieso immer ein Kind. Zu entdecken gibt´s immer noch etwas. Tremblays Charakter des Jack ist wie die Art Höhlenbewohner aus Platons Gleichnis, der die Schattenbilder in seinem Raum wahrnimmt, sie als die alles umfassende Freiheit, als seinen Kosmos empfindet. Demzufolge scheint ihm nichts zu fehlen. Die Definition der Geborgenheit scheint anfangs auch in diesen kargen vier Wänden zu funktionieren. Was fehlt, ist das Wissen jenseits der Wände. Das Wissen über den Ursprung der Schatten, um bei Platon zu bleiben. Die Entdeckung dieses Neulands ist die zu bewältigende Aufgabe dieses Dramas, und Tremblay mittendrin. Larsons Rolle der Mutter ist da nur ein Leo, ein Fixpunkt, das Mutterschiff sozusagen.

Zum Glück holt dieser Film mehr als eine Handvoll dieser Gedanken an die narrative Oberfläche. Auch gelingt Raum, niemals seinem inhaltlichen Skandal zum Opfer zu fallen, indem er diesen Umstand geradezu als unkommentierte und fast wertfreie Gegebenheit hinnimmt. Raum ist überraschend objektiv, trotz all seiner Emotionen, die da hochkochen und überkochen. Trotz all dieser beruhigenden Melodien, die den grauenhaften Zustand so mancher panikmachenden Aussichtslosigkeit überspielen sollen. Tremblay bleibt aber über allen Dingen – als kindlicher Superheld, als ein Entdecker, der Übermenschliches leistet, um all die Ohnmacht umzukehren.

Raum