Der Schatten von Caravaggio (2022)

HUREN UND HEILIGE

6,5/10


caravaggio© 2023 Filmladen Filmverleih / Luisa Carcavale


LAND / JAHR: ITALIEN / FRANKREICH 2022

REGIE: MICHELE PLACIDO

DREHBUCH: SANDRO PETRAGLIA, MICHELE PLACIDO, FIDEL SIGNORILE

CAST: RICCARDO SCAMARCIO, LOUIS GARREL, ISABELLE HUPPERT, MICAELA RAMAZZOTTI, LOLITA CHAMMAH, MICHELE PLACIDO, VINICIO MARCHIONI, GIANFRANCO GALLO, MONI OVADIA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Kunstgeschichte im Kino zu genießen kann zur immersiven Erfahrung werden. Was Filmemacher dabei gerne versuchen, ist, den Stil des zu beschreibenden Virtuosen in die Optik ihres Werkes einzubringen. Meister dieser Vorgehensweise ist zweifelsohne Peter Greenaway – Szenen seines exzentrischen Kunstfilms A Zed and Two Noughts muten an, als hätte Jan Vermeer höchstpersönlich seine Sicht auf die Welt auf die Leinwand gepinselt. Indirektes Licht aus unsichtbaren Fenstern oder nicht näher definierten Lichtquellen beleuchten historisches Interieur und im niederländischen Barock zu verortende Personen, stehend auf Schwarzweiß gemusterten Schachbrettböden. Für so viel Akkuratesse braucht es einen fast schon obsessiven Willen zur manieristischen Nachahmung. Des Weiteren beeindruckt sein Rembrandt-Krimi Nightwatching mit Set-Tableaus, die so manches Werk des Avantgardisten eins zu eins nachstellen.

Ein ähnliches Gemälde-Lookalike wagt Michele Placido, vorrangig bekannt als Hauptdarsteller der 80er-Fernsehserie Allein gegen die Mafia, in seiner teils wüsten und hemdsärmeligen Genius-Biographie Der Schatten von Caravaggio. Der Entstehung des Gemäldes Tod Mariä, welches als Teil der ständigen Sammlung im Pariser Louvre zu bewundern ist, schenkt Placido enorm viel Aufmerksamkeit – im Grunde beherrscht diese Erarbeitung des Meisterwerks den ganzen Film, denn die in rotem Leinen gehüllte Tote mag zwar titelgebend die Mutter Jesu Christi sein, als Modell gestanden soll dem Meister eine längst bekannte Prostituierte sein, die irgendwann später den Weg in den Tiber wählt und deren Leichnam von Caravaggio und seiner Entourage geborgen werden wird.

Diesen Versuch, oder besser gesagt, dieses aus der Sicht der Kirche zweifelsohne ketzerische Wagnis, die Ärmsten der Armen und sozial Ausgestoßenen in den Rang von Heiligen zu erheben, ihnen also einer Apotheose auszusetzen, die jedwede Hierarchie zusammenbrechen lässt, gleicht einer gesellschaftspolitischen Revolution. Caravaggio, eigentlich Michelangelo Merisi, ist als bärbeißiger Berserker seiner Zeit weit voraus. Das lässt sich allein schon am Stil seiner Bilder erkennen, die den viel späteren Expressionismus vorwegnehmen, die, so wie Rembrandt, einem kanonischen Ideal entsagen und Gesichter von der Straße, vom Bettler über den Säufer bis zum leichten Mädchen, für die Ewigkeit auf die Leinwand brachten. So wie Merisis Leben von Gewalt, Konflikten und letztlich des eigenen unnatürlichen Todes geprägt war, so spiegeln sich diese Umtriebe in seinen Bildern wider. Dort fließt das Blut, dort stürzt Saulus vom Pferd, dort kreischt das Haupt der Medusa ihren letzten Unmut ob ihrer Niederlage in die Gesichter der Betrachtenden. Caravaggio ist düster und ungefällig – die Kirche hat sein Kreuz mit ihm zu tragen. Und nicht nur die: Des Mordes beschuldigt, muss der Maler in Neapel im Hause Colonna Asyl suchen.

In gemäldehafter Optik erkämpft sich Riccardo Scamarcio (zuletzt gesehen in Kenneth Branaghs A Haunting in Venice) seine durch die kirchliche Obrigkeit andauernd bedrängte Freiheit – eitler Gegenpol ist Louis Garrel als Inquisitor des Papstes, der dem Künstler wie ein Schatten folgt, um diesen der Kirche auszuliefern. Bestehend aus diversen Rückblenden, die Caravaggios Werdegang beschreiben und seine Motivation für seine Arbeit erklären, legt Michele Placido letztlich ein unzimperliches Puzzle zusammen, das in betörend-schwülstiger Optik vor brutalen Spitzen und angedeuteten Orgien nicht Halt macht. Mitunter ist seine Aufarbeitung der Geschehnisse durch den scheinbar recht willkürlichen Wechsel zwischen den Zeitebenen sowie all der Schauplätze eine recht zerfahrene Angelegenheit. Wie ein Skizzenblatt im Wind geistert sein biographischer Thriller umher, schwer einzufangen, aber doch wert, ihm nachzujagen. Diese impulsive Fahrigkeit sorgt im späten Mittelteil für Ermüdung. Kann sein, dass der Film so einige Längen hat, die nochmal und nochmal Caravaggios Mentalität thematisieren wollen – dazwischen so einige kunstgeschichtliche Aha-Erlebnisse, die Kenner seines Oeuvres zum erhellten Flüsterer im dunklen Kinosaal werden lassen.

Eine exorbitant gelungenes Künstlerepos ist Der Schatten von Caravaggio nicht geworden, dafür aber macht dieser Blick auf die schmutzig-düstere Seite des Frühbarock Lust, so bald wie möglich wieder ins Museum zu gehen. An seinen Bildern haftet von nun an und zumindest für eine Zeit lang ordentlich Background, bevor die gefüllten Lücken in Sachen Themenbildung wieder aufgehen.

Der Schatten von Caravaggio (2022)

A Haunting in Venice (2023)

ALLES MIT RECHTEN DINGEN

5,5/10


A HAUNTING IN VENICE© 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: KENNETH BRANAGH

DREHBUCH: MICHAEL GREEN, NACH DEM ROMAN VON AGATHA CHRISTIE

CAST: KENNETH BRANAGH, TINA FEY, MICHELLE YEOH, JAMIE DORNAN, KELLY REILLY, CAMILLE COTTIN, RICCARDO SCAMARCIO, JUDE HILL, KYLE ALLEN, ALI KHAN, EMMA LAIRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Zum Dritten Mal schon wagt sich Kenneth Branagh als Hercule Poirot ans Unmögliche. Ob im Zug – Mord im Orient-Express – oder während einer Flussschiffahrt mit der Hautevolee, so gesehen im Tod auf dem Nil: Immer sind es Fälle, bei denen man sich fragt: Wie kommt der Belgier denn überhaupt auf all diese, aus wildwachsenden Indizien zusammengeschusterten Theorien, die obendrein noch stimmen, denn eins und eins lässt sich ja bekanntlich zusammenzählen. Detektivischen Scharfsinn muss man schon besitzen, denn andernfalls gelingt es kaum, auch nur irgendwann im Laufe der Ermittlungen diesem Kauz einen Schritt voraus zu sein. Noch undurchsichtiger und noch schwerer nachvollziehbar gestaltet sich die Ergründung eines Todesfalls inmitten der Nacht zu Allerheiligen in den Gemächern eines scheinbar verfluchten und daher wahnsinnig interessanten Palazzos irgendwo an einem Kanal in der Altstadt Venedigs. Klarerweise zieht ein Sturm auf, es donnert, blitzt und prasselt in den letzten Stunden des Oktobers, bevor es richtig düster wird und der November kommt. Zeitlich sind wir um einiges früher dran als Donald Sutherland, der in den Siebzigern seiner verstorbenen Tochter im roten Regenmantel folgen wird, denn dann tragen die Gondeln Trauer und so mancher verliert den Verstand.

Hercule Poirot allerdings ebenso, das möchte man nicht glauben. Einem kühlen Kopf wie diesen lässt sich nichts vorgaukeln – oder doch? Wir befinden uns im Jahre 1947 und der obsessive Schnauzbartträger hat sich längst im höchsten und stattlichsten Gebäude von Venedig, wie es scheint, samt Leibwächter zur isolierten Ruhe gesetzt. Da passiert es, und eine alte Bekannte, die Schriftstellerin Ariadne Oliver (Tina Fey, bereits durch Only Murder in the Building mit Krimi-Erfahrung gesegnet) lädt den Eigenbrötler zu einer Halloweenparty mit anschließender Séance ein, denn das muss der alte Mann mal mit eigenen Augen sehen – und folglich zugestehen, dass das Übernatürliche durchaus existiert. Das Medium Mrs. Reynolds (Michelle Yeoh) sei da wirklich ein Phänomen. Und ehe sich Poirot versieht, darf er auch schon dem Unerklärlichen folgen, wenn der Geist der hierorts gewaltsam ums Leben gekommenen Tochter von Gastgeberin Rowena (Kelly Reilly) plötzlich zu sprechen beginnt, und mit ihr der Kakadu, der seit ihrem Ableben kein Wort mehr gekrächzt hat. Die Sache fliegt als Humbug auf, zumindest teilweise. Der Krimi wäre zu Ende und die gruseligste Nacht des Jahres ein ernüchterndes Varieté, käme da nicht ganz plötzlich jemand zu Tode. Die grauen Gehirnzellen des altehrwürdigen Schnüfflers werden reaktiviert, wenn auch nur sporadisch. Denn irgendetwas geht ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Schatten, Erscheinungen und Gänsehaut-fördernde Stimmen, die nicht ertönen dürften, machen Poirot zu schaffen.

Dem Publikum hingegen weniger. Frei nach Agatha Christies Krimi Die Halloweenparty setzt Branagh seinen Whodunit-Zyklus fort und mixt ihn anscheinend mit den Zutaten diverser kauziger Gruselkrimis, die aus der Feder von Edgar Wallace stammen und in den Sechzigern haufenweise Schwarzweiß-Verfilmungen mit Stamm-Ensemble nach sich zogen. Edgar Wallace, das war schon was. Kuriose Titel machten neugierig auf kuriose Mystery, die wie bei den drei Fragezeichen anfangs um jeden Preis paranormal sein mussten, um sich letztlich den Gesetzen der uns bekannten Physik zu unterwerfen. Wie wird das bei A Haunting in Venice sein?

Branagh tut sich schwer mit dem Unheimlichen. Shakespeare mag zwar sein Steckenpferd sein, der Horror ist es nicht. Gediegen darf’s ein, nicht im Gewand eines kerzenhellen Gothic-Verwirrspiels, das zwar in ausladender Weitwinkeloptik üppige Gemächer ausleuchtet, den Geist im Spiegel aber dort einsetzt, wo ihn alle erwarten. Das Problem bei dieser Krimi-Ausgabe ist nicht das Ensemble, sondern vielmehr die Vernachlässigung von allerhand Details, die im Grunde ordentlich ins Gewicht fallen müssten, es aber nicht tun. Es ist der um alles in der Welt Agatha Christies durchzubringende Charakter des Poirot, der zwar seinen Augen und Ohren nicht mehr traut, der aber als oberste Instanz der Vernunft die Fahne hochhalten muss. Das nimmt dem Werk das Mysteriöse, und wenn auch dunkle Flure, feuchte Keller und verschlossene Türen alles mitbringen, um sich wohlig erschaudert zu fühlen: zu fahrig und unentschlossen prallen die Versatzstücke des Gruselkinos auf jene des Edelkrimis. Den Fluch rund um den Palazzo noch in Erwägung zu ziehen – davon lässt man bald ab. Ebenso vom Willen, Poirots Überlegungen zu folgen, denn das gelingt beim besten Willen nicht. Viel zu sehr wünscht man sich, dass das Paranormale dem distinguierten Herrn die Leviten liest.

Auf welche Art und Weise hätte sich Peter Ustinov wohl durch die knarzenden Räumlichkeiten geschoben? Es wäre zu einem Crossover mit Blacky Fuchsberger und Eddie Arendt, vielleicht auch Klaus Kinski gekommen. Frei nach dem Motto: Hier spricht… Agatha Christie!

A Haunting in Venice (2023)

Das Rätsel (2019)

DER URHEBER ALS MELKKUH

7/10


dasraetsel© 2023 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2019

REGIE: RÉGIS ROINSARD

DREHBUCH: ROMAIN COMPINGT, DANIEL PRESLEY, RÉGIS ROINSARD

CAST: LAMBERT WILSON, ALEX LAWTHER, OLGA KURYLENKO, RICCARDO SCAMARCIO, SIDSE BABETT KNUDSEN, EDUARDO NORIEGA, ANNA MARIA STURM, FRÉDÉRIC CHAU, MARIA LEITE, MANOLIS MAVROMATAKIS, SARA GIRAUDEAU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN 


Was ist das beste Beispiel für einen Millionenbestseller, um den sich der ganze Erdball einen sprichwörtlichen „Haxen“ ausreißt, um vielleicht an einen Leak zu kommen? Natürlich Harry Potter. So eine Exklusiv-Challenge hat sogar Eingang in den Film Der Teufel trägt Prada gefunden. Was für Sicherheitsvorkehrungen bezüglich der Übersetzung in – so mutmaße ich – fast alle Sprachen der Welt (bis vielleicht auf den Buschmann-Dialekt) es da gegeben haben muss. Vielleicht sogar solche, die jenen im vorliegenden Film Das Rätsel vielleicht nahekommen. Oder waren da vermutlich unterschriebene Verträge mit zahlreichen Klauseln alleine schon genug, um illegale Previews zu unterbinden?

In diesem Literatur- oder Belletristik-Thriller reicht kein Papierkram, um die Angst des Verlegers zu stillen. Dieser, dargestellt von einem mit eiskaltem Pragmatismus ausgestatteten Lambert Wilson, sperrt seine Übersetzer aus Ländern mit dem prognostizierten größten Umsatz an Buchverkäufen in den Keller seines Anwesens. Er will den dritten Band der Trilogie Daedalus weltweit und zeitgleich auf den Markt werfen, daher müssen neun Übersetzerinnen und Übersetzer in penibel abgestimmten Arbeitsschritten bis zu einem Stichtag ihre Sprachversionen fertigstellen. Insgesamt soll diese Schaffensphase zwei Monate dauern – jede (elektronische) Verbindung mit der Außenwelt wird unterbunden, damit auch keiner der Anwesenden in Versuchung kommt, auch nur irgendeine Zeile aus dem Bunker zu schmuggeln. Verleger Eric Angstrom muss hier bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben. Oder aber die Gier nach Umsatz ist ihm längst zu Kopf gestiegen. Trotz dieser extremen Vorsichtsmaßnahmen wird der Albtraum Realität: Ein anonymer Erpresser veröffentlicht die ersten zehn Seiten im Internet und droht mit den nächsten hundert Seiten, würden nicht beachtliche Geldbeträge den Besitzer wechseln. Angstrom stellt sein Ensemble zur Rede, will die Wahrheit gar erzwingen. Der Fall ist knifflig, und mutet an wie ein perfekt einstudierter Zaubertrick. Denn es scheint unmöglich, das so etwas hat passieren können.

Genauso unmöglich wie sämtliche Mordfälle aus der Feder Agatha Christies. Nur hier wird das Verbrechen nicht an einer Person, sondern an einem urheberrechtlich geschützten Werk begangen. Und an den Rechten, die Angstroms Verlag womöglich erlangt hat – oder auch nicht. Der Autor selbst nämlich hält sich bedeckt. Niemand kennt seine Identität, er arbeitet mit einem Pseudonym, was die verzwickte Situation noch erschwert. Das Publikum kann also im Laufe des recht eleganten Whodunit-Krimis Überlegungen anstellen und den Profiler geben, wenn die neun grundverschiedenen Charaktere ihren knapp gefassten Steckbrief an den Laptop heften. Das ist routiniertes Kino, aber insofern etwas anderes, da es keinen Mordfall und folglich auch keinen Mörder gibt. Régis Roinsard, der im Sommer letzten Jahres mit dem bittersüßen Psychodrama Warten auf Bojangles Virgine Efira zu Höchstleistungen antrieb, legt nun seine bereits vier Jahre alte Urheber-Moritat nach, dessen verspätete Erscheinung wohl kaum nur der Pandemie geschuldet sein kann, sonst wäre der andere Film genauso ein Nachzügler. Doch vielleicht ist der Grund dafür einfach nur jener, Prioritäten gesetzt zu haben. 

Vom Film selbst mag man sich anfangs vielleicht etwas gelangweilt fühlen, da die Figuren, welche sich selbst als sehr interessant empfinden, viel zu kalkuliert erscheinen. Ihre charakterlichen Besonderheiten mögen etwas aufgesetzt wirken, und auch der dem Leak nachfolgende Psychokrieg will prickelnder und mitreißender sein, als er letztlich ist. Was aber nicht heißen soll, dass Das Rätsel eine vergebliche Investition von 105 Minuten sein muss. Eigentlich ganz im Gegenteil, und all die Defizite räumt Roinsard letztlich vom Tisch.

Im letzten Drittel fügt dieser unerwartet geschickt so einige Story-Twists ein, die er schon am Anfang anteasert, von denen man aber nicht allzu viel erhofft. Sein Film ist dann kein Mysterykrimi von der Stange mehr, sondern eine Konfrontation des Urhebers mit seinem Nutznießer. Der Verlag wird zur parasitären Institution, zum blutsaugenden Zeck, der das geistige Eigentum an sich reißen möchte. Der Urheber wird zum Verfechter eben jenes abstrakten, unantastbaren Guts, das im Zeitalter der KI kurz davorsteht, aufgeweicht und hinterfragt zu werden, bis die Idee des Einzelnen dem Kapitalismus mit Haut und Haaren zum Opfer fällt. Dafür findet Das Rätsel am Ende nicht nur geistreiche Worte, sondern auch spannende Bilder, die die Frage, wie sich Erfolg definieren soll, auf eine zwar plakative, aber treffende und auch unmissverständliche Weise beantwortet.

Das Rätsel (2019)