Godland

ISLAND SEHEN… UND STERBEN?

8,5/10


godland© 2022 Jour2fête


LAND / JAHR: ISLAND, DÄNEMARK, FRANKREICH, SCHWEDEN 2022

BUCH / REGIE: HLYNUR PÁLMASON

CAST: ELLIOTT CROSSET HOVE, INGVAR EGGERT SUGURÐSSON, ÍDA MEKKÍN HLYNSDÓTTIR, VICTORIA CARMEN SONNE, JACOB LOHMANN, WAAGE SANDØ U. A. 

LÄNGE: 2 STD 23 MIN


Keine Ahnung, wohin die eigentliche Reise geht, aber jene durch die Nachmittagstermine der diesjährigen Viennale hat gestern ihr Ende gefunden. Es ergibt sich daraus eine schmucke kleine Landkarte, die in Südkorea begonnen hat, über die Ostküste der USA, Belgien bis nach Irland ging und von dort bis in den Norden reichte – nach Island. Weiter geht’s diesmal nicht, und besser wird es ebenso wenig werden: Godland ist mein persönliches Highlight der von mir frequentierten Wiener Festspiele und lässt das lange vergangene Abenteuerkino eines Werner Herzog genauso aufleben wie die gemeinsame Geschichte Dänemarks und Islands, die bis fast in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hineinreichte und die vulkanische, unwirtliche, aber allseits beliebte Insel, eben weil sie so besonders ist, zu einem Schauplatz werden lässt, an welchem sich das europäische Festland in Gestalt eines Verlorenen die Zähne ausbeißen wird. Das bezieht sich auf die Art des Lebens, das kompromisslose Gesetz von Wind und Wetter und die menschenverachtende Wildnis, in die sich nur eingliedern kann, wer sich ihr hingibt. Wer mit alten Dogmen hier aufkreuzt, mit einem Sinn für Werte, der hier oben weder geschärft noch eingesetzt werden kann, stößt bald an seine eigenen Grenzen. Von so einem Kommen und Sehen, so einem Scheitern und Straucheln, von diesem Dilemma der Bezwingung radikaler Urkräfte – davon berichtet Hlynur Pálmason in seiner für ihn typischen Manier des distanzierten Betrachtens tragischer Umstände, die in wechselnden Witterungen stets andere Bedeutungen erlangen.

Im Zentrum des Geschehens steht ein dänischer Priester, der im 19. Jahrhundert, als Island noch unter der Fuchtel des dänischen Königshauses stand, dafür auserwählt wird, eben dorthin zu reisen, um im gottvergessenen Südosten der Insel eine Kirche zu bauen, am besten noch vor dem Winter. Um Land und Leute kennenzulernen und sich in seine neuen göttliche Aufgabe einzufügen, nimmt er eine Reise quer durch die Insel auf sich, begleitet von einem Vollblut-Isländer namens Ragnar (Ingvar Eggert Sigurðsson, der bereits auch in Pálmasons Weißer weißer Tag die Hauptrolle spielt und in der Netflix-Mystery Katla zu sehen ist), der alles Dänische skeptisch beäugt und den verknöcherten Festland-Geistlichen bis an seine Grenzen bringen wird. Für diesen verbissenen und niemals wirklich ausgetragenen Konflikt zwischen der längst nach Autonomie lechzenden Insel und dem arroganten, immer wieder in die Einsamkeit einfallenden Dänemark stehen die beiden grundverschiedenen Männer stellvertretend im Regen, für den es in Islands Sprache unzählige Bezeichnungen gibt. Der Trip durch eine fremde Welt, konfrontiert mit unorthodoxem Gedankengut, lässt Priester Lucas den Glauben an sich selbst verlieren und ihn alles verraten, was stets für ihn von Wert war.

Wie Werner Herzog eben, bis zum Äußersten. Mit einer Laufzeit von zweieinhalb Stunden lädt das im Format 4:3 gefilmte, elegische Drama zu einer faszinierenden Kurzweile ein, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Großzügig teilt Pálmason die Faszination für seine Heimat, dessen Bewohner als in sich ruhende Menschen ihre Autarkie feiern und von einer dogmatischen Person, wie Lucas sie darstellt, nichts erwarten wollen. Godland wird durch diese Prämisse zum teils nüchternen, dann wieder auf experimentelle Weise epischen Streifen, der die Fassungslosigkeit des aversiven Priesters bis zur rabiaten Wut steigert. Es ist die Nutzlosigkeit seiner Mission und die Beiläufigkeit seiner Entbehrungen, die wie Aguirre oder Fitzcarraldo den Wahnsinn bringt. Die Wucht einer in sich geschlossenen, genügsamen Welt vermittelt Pálmason in langsamen Kameraschwenks und im nüchternen Bobachten der Vergänglichkeit alles Lebens. Düstere Bilder, mystische Gleichnisse und das zündende Knirschen frischer Lava über begrüntem Boden – aus all dem entsteht ein Kino des Sich-darin-Vergessens, welches einen aus dem Auditorium holt, hinein in ein Szenario aus Entbehrung und Erkenntnis. Dinge, die eine Reise fernab von etablierter Ordnung eben mit sich bringen.

Ob dieser Film Aufnahme ins reguläre Kinoprogramm finden wird, ist fraglich. Doch wenn doch, dann sei hier diese ungewöhnlich erzählte, klassische Geschichte eines Mannes, der sich mit wimmerndem Zorn gegen ein ganzes Land stemmt, unbedingt zu empfehlen.

Godland

Monos

CHILDREN FOR THE REVOLUTION

7,5/10 


monos© 2020 DCM


LAND / JAHR: KOLUMBIEN, ARGENTINIEN, NIEDERLANDE, DEUTSCHLAND, URUGUAY, SCHWEDEN 2019

REGIE: ALEXIS DOS SANTOS & ALEJANDRO LANDES

CAST: JULIANNE NICHOLSON, MOISES ARIAS, SOFIA BUENAVENTURA, JULIÁN GIRALDO, KAREN QUINTERO, DEIBY RUEDA, SNEIDER CASTRO, PAUL CUBIDES U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Wohl eines der erschütterndsten und spannendsten Bücher, die ich je gelesen habe, ist die Leidensgeschichte der Politikerin Ingrid Betancourt, die als Geisel der kolumbianischen FARC jahrelang als wertvollster Besitz galt. Mit Geiseln, so die Rebellen, lässt sich politisch am meisten bewegen. Was das für Leute sind, beschreibt Betancourt mit fast schon sachlicher Genauigkeit. Der Film Monos von Alexis Dos Santos und Alejandro Landes nimmt so einen wilden Haufen junger Hunde ebenfalls unter die Lupe. Dafür steigt er hoch auf die unwirtlichen Hochebenen des südamerikanischen Landes, dort, wo man bereits über den Wolken weilt und auf ein Panorama blickt, dass erstens den Atem raubt und zweitens das unbändige Gefühl von Freiheit vermittelt.

Von dieser Freiheit hat die aus den USA stammende Journalistin, die als Geisel genommen wurde, leider überhaupt nichts. Sie dämmert hier oben, zwischen Gebirgssteppe und verfallenem Bunker (eine fast surreale Kulisse) mehr oder weniger vor sich hin, ohne Aussicht darauf, ersonnene Fluchtpläne in die Tat umzusetzen. Doch diese Doctora, wie sie genannt wird, ist an sich nur die Protagonistin im Hintergrund. Ganz vorne mit dabei, kalaschnikowschwingend und ständig am Feiern: eine achtköpfige Gang, die sich Monos nennt und die einer nicht näher benannten Rebellengruppierung angehört. Anführer dieser Soldaten ist ein muskelbepackter Zwerg, der den Greenhorns immer wieder die Leviten liest – und dann wieder verschwindet. Die Burschen und Mädchen müssen sich also allein organisieren und überdies auf eine Milchkuh achten, die ihnen zum Geschenk gemacht wird. Dass das schiefgeht, ist nur eine Frage der Zeit. Und irgendwann muss die Gruppe weiterziehen, runter ins Tal – in den tropischen Dschungel.

Monos war für mich einer der Filme, die letztes Jahr coronabedingt keine Kinoauswertung hatten. Glücklicherweise gab es dafür das Sommerkino, doch selbst diesen einen Termin konnte ich nicht wahrnehmen. Dabei wäre die große Leinwand für ein Werk wie dieses hervorragend geeignet gewesen, vor allem, weil das Rebellendrama so sehr mit der Opulenz und der Üppigkeit seiner Umgebung spielt. Monos ist allerdings kein klassischer Thriller, und folgt auch keiner gewöhnlichen Erzählweise. Lange Zeit bleibt vieles im Dunkeln, die einzelnen, teils clownesk agierenden Gestalten werden nach und nach bekannt, auch ihre Beziehungen zueinander. Ob hoch oben oder tief unten im stickigen Blätterwald – der spannungsgeladene Mikrokosmos zwischen den acht jungen Menschen und ihrer Geisel gebärdet sich als Psychostudie zwischen Herr der Fliegen und Coppolas Apocalypse Now, wenn man vom Aspekt der Geiselnahme absieht. Jeder einzelne, kaum Herr seiner Lage, versucht sich an die Macht zu boxen oder versucht, eine Lücke für seine eigene Macht zu finden. Nur die Zähen überleben hier, in diesem gesetzlosen Vakuum, in dieser schwül-düsteren Anarchie aus Ehrenkodex, Anbiederung und langsam übergreifenden Wahnsinn. Mensch und die Natur verschmelzen. Archaische Tänze ums Feuer, Gesichter hinter Schlamm- und Erdmasken, sei es zur Tarnung, sei es, um den eigenen erdachten Kult von jeder sonstigen bestimmenden Institution loszulösen.

Monos ist ein rauer, wilder Film ohne Sanftmut und Bedächtigkeit. Mag sein, dass diese unorthodoxe kleine Geschichte über das Wesen des Menschseins für manche schwer zugänglich ist. Mir ging’s anfangs ähnlich, doch mit der Zeit, wenn die Rolle der Doctora sich aus dem sozialen Gefüge herauszuschälen versucht, wird aus dem Gruppenportrait ein spannender Survivalthriller, der die Wildheit Kolumbiens in satten, schweren Bildern anhimmelt und das Ganze noch mit einem hypnotischen, kunstvoll verzerrten Folklore-Score ergänzt. Dieser Trip ins Herz der Finsternis und wieder hinaus lohnt sich.

Monos

Niemals Selten Manchmal Immer

TEENAGER WERDEN MÜTTER

7/10


niemalsseltenmanchmalimmer© 2020 Universal Pictures International Germany


LAND: USA 2020

BUCH & REGIE: ELIZA HITTMAN

CAST: SIDNEY FLANIGAN, TALIA RYDER, THÈODORE PELLERIN, SHARON VAN ETTEN, AMY TRIBBEY, RYAN EGGOLD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Nicht nur österreichische Filmemacher haben die Tristesse fürs Kino neu erfunden. Das ist auch den Amis gelungen, vorzüglich im Independent-Bereich, denn mit Tristesse lässt sich logischerweise kaum ein Gewinn lukrieren. War schon das zaghaft beobachtende Bürodrama The Assistant trist, so kann Regisseurin Eliza Hittman noch eins drauflegen. Doch anders gefragt: lässt sich ein Stoff wie dieser denn überhaupt anders verfilmen? Vielleicht wäre das Miranda July gelungen, die mit Kajillionaire auch nicht wirklich rosige Themen in dennoch etwas Rosiges gepackt hat – ein Meisterwerk, meines Erachtens. Niemals Selten Manchmal Immer ist auch nicht schlecht. Wenngleich nichts Erbauliches. Aber vielleicht etwas, das die Zähigkeit und Stärke eines jungen Mädchens zeigt, das um alles in der Welt nicht will, dass ihr junges und bereits mehr als entbehrliches Leben aus der Spur gerät.

Die siebzehnjährige Autumn fristet ihr jugendliches Dasein irgendwo in Pennsylvania zwischen Schule und Supermarkt. Daheim vegetiert ein depressiver Vater vor sich hin, die Mutter tut halt was sie kann (was nicht näher erläutert wird). Zum Glück hat Autumn eine Cousine, gleichzeitig auch eine gute Freundin, die ebenfalls im Supermarkt arbeitet. Wo Frau aber auch hinblickt – das männliche Verhalten stößt sauer auf. Überall lustgeile Psychos. Einer von denen wird’s auch gewesen sein, der Autumn ein Kind angedreht hat – welches sie besser gestern als morgen loswerden will. Also fährt sie nach New York, die Cousine kommt mit. Beide geistern durch einen wenig reizvollen, überfüllten und kalten Big Apple, auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Das dauert Tage, dabei schlagen sich die beiden die Nächte um die Ohren, denn Geld fürs Hotel gibt’s keins. Beide werden müder und erschöpfter, halten aber durch.

Musikerin Sidney Flanigan gibt als bereits völlig desillusionierter Teen ihr Schauspieldebüt, in einem enorm nüchternen Film von Eliza Hittman, die – womöglich resultierend aus eigener Erfahrung – nicht sehr viel von Männern hält. Die sind wie schon erwähnt eine stete, unberechenbare Bedrohung. Maximal der Bursche Jasper agiert da versöhnlicher, obwohl auch er nur das eine im Sinn hat. Berührungen werden zu Übergriffen, und egal wo Frau sich aufhält: am besten nichts wie raus aus dieser maskulinen Machtwelt. Wir erfahren nie, was Autumn erlebt hat – nur das eine: es wird wohl keine Lappalie gewesen sein. In der wohl intensivsten Szene des Films muss das Mädchen sämtliche persönliche Fragen beantworten, bevor es zur Abtreibung gehen kann, und zwar mit Niemals, Selten, Manchmal und Immer. Während dieser Befragung kommt so manches schemenhaft als Tageslicht, und es wird klar, das vieles im Argen liegt. Könnte das Kind vom eigenen Vater sein? Oder wars doch der frauenverachtende Mitschüler, der unentwegt anzügliche Gesten macht? Wichtig ist nur: Autum will nicht, dass ihr das Leben passiert. Für diesen Umstand nimmt sie Entbehrungen in Kauf, die eben nichts anderes als eine triste Welt zeichnen – die aber besser werden könnte, wenn ein junger Mensch wie dieser, der das Leben noch vor sich hat, sich dazu durchringt, für sich selbst das Richtige zu tun.

Ist Abtreibung also zu befürworten? Ist es Mord? Da maßt sich Hittman nicht an, dies beantworten zu wollen oder gar zu müssen, da sie den Context dieser ganzen Situation bewusst diffus lässt und mit dem Einspruch möglicher Nötigung das Recht auf eigene Lebensplanung unterstützt.

Niemals Selten Manchmal Immer