Godland

ISLAND SEHEN… UND STERBEN?

8,5/10


godland© 2022 Jour2fête


LAND / JAHR: ISLAND, DÄNEMARK, FRANKREICH, SCHWEDEN 2022

BUCH / REGIE: HLYNUR PÁLMASON

CAST: ELLIOTT CROSSET HOVE, INGVAR EGGERT SUGURÐSSON, ÍDA MEKKÍN HLYNSDÓTTIR, VICTORIA CARMEN SONNE, JACOB LOHMANN, WAAGE SANDØ U. A. 

LÄNGE: 2 STD 23 MIN


Keine Ahnung, wohin die eigentliche Reise geht, aber jene durch die Nachmittagstermine der diesjährigen Viennale hat gestern ihr Ende gefunden. Es ergibt sich daraus eine schmucke kleine Landkarte, die in Südkorea begonnen hat, über die Ostküste der USA, Belgien bis nach Irland ging und von dort bis in den Norden reichte – nach Island. Weiter geht’s diesmal nicht, und besser wird es ebenso wenig werden: Godland ist mein persönliches Highlight der von mir frequentierten Wiener Festspiele und lässt das lange vergangene Abenteuerkino eines Werner Herzog genauso aufleben wie die gemeinsame Geschichte Dänemarks und Islands, die bis fast in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hineinreichte und die vulkanische, unwirtliche, aber allseits beliebte Insel, eben weil sie so besonders ist, zu einem Schauplatz werden lässt, an welchem sich das europäische Festland in Gestalt eines Verlorenen die Zähne ausbeißen wird. Das bezieht sich auf die Art des Lebens, das kompromisslose Gesetz von Wind und Wetter und die menschenverachtende Wildnis, in die sich nur eingliedern kann, wer sich ihr hingibt. Wer mit alten Dogmen hier aufkreuzt, mit einem Sinn für Werte, der hier oben weder geschärft noch eingesetzt werden kann, stößt bald an seine eigenen Grenzen. Von so einem Kommen und Sehen, so einem Scheitern und Straucheln, von diesem Dilemma der Bezwingung radikaler Urkräfte – davon berichtet Hlynur Pálmason in seiner für ihn typischen Manier des distanzierten Betrachtens tragischer Umstände, die in wechselnden Witterungen stets andere Bedeutungen erlangen.

Im Zentrum des Geschehens steht ein dänischer Priester, der im 19. Jahrhundert, als Island noch unter der Fuchtel des dänischen Königshauses stand, dafür auserwählt wird, eben dorthin zu reisen, um im gottvergessenen Südosten der Insel eine Kirche zu bauen, am besten noch vor dem Winter. Um Land und Leute kennenzulernen und sich in seine neuen göttliche Aufgabe einzufügen, nimmt er eine Reise quer durch die Insel auf sich, begleitet von einem Vollblut-Isländer namens Ragnar (Ingvar Eggert Sigurðsson, der bereits auch in Pálmasons Weißer weißer Tag die Hauptrolle spielt und in der Netflix-Mystery Katla zu sehen ist), der alles Dänische skeptisch beäugt und den verknöcherten Festland-Geistlichen bis an seine Grenzen bringen wird. Für diesen verbissenen und niemals wirklich ausgetragenen Konflikt zwischen der längst nach Autonomie lechzenden Insel und dem arroganten, immer wieder in die Einsamkeit einfallenden Dänemark stehen die beiden grundverschiedenen Männer stellvertretend im Regen, für den es in Islands Sprache unzählige Bezeichnungen gibt. Der Trip durch eine fremde Welt, konfrontiert mit unorthodoxem Gedankengut, lässt Priester Lucas den Glauben an sich selbst verlieren und ihn alles verraten, was stets für ihn von Wert war.

Wie Werner Herzog eben, bis zum Äußersten. Mit einer Laufzeit von zweieinhalb Stunden lädt das im Format 4:3 gefilmte, elegische Drama zu einer faszinierenden Kurzweile ein, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Großzügig teilt Pálmason die Faszination für seine Heimat, dessen Bewohner als in sich ruhende Menschen ihre Autarkie feiern und von einer dogmatischen Person, wie Lucas sie darstellt, nichts erwarten wollen. Godland wird durch diese Prämisse zum teils nüchternen, dann wieder auf experimentelle Weise epischen Streifen, der die Fassungslosigkeit des aversiven Priesters bis zur rabiaten Wut steigert. Es ist die Nutzlosigkeit seiner Mission und die Beiläufigkeit seiner Entbehrungen, die wie Aguirre oder Fitzcarraldo den Wahnsinn bringt. Die Wucht einer in sich geschlossenen, genügsamen Welt vermittelt Pálmason in langsamen Kameraschwenks und im nüchternen Bobachten der Vergänglichkeit alles Lebens. Düstere Bilder, mystische Gleichnisse und das zündende Knirschen frischer Lava über begrüntem Boden – aus all dem entsteht ein Kino des Sich-darin-Vergessens, welches einen aus dem Auditorium holt, hinein in ein Szenario aus Entbehrung und Erkenntnis. Dinge, die eine Reise fernab von etablierter Ordnung eben mit sich bringen.

Ob dieser Film Aufnahme ins reguläre Kinoprogramm finden wird, ist fraglich. Doch wenn doch, dann sei hier diese ungewöhnlich erzählte, klassische Geschichte eines Mannes, der sich mit wimmerndem Zorn gegen ein ganzes Land stemmt, unbedingt zu empfehlen.

Godland

Playground

SCHLACHTFELD SCHULE

7,5/10


playground© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: LAURA WANDEL

CAST: MAYA VANDERBEQUE, GÜNTER DURET, KARIM LEKLOU, LAURA VERLINDEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Die Welt der Peanuts ist eine, in der es so gut wie keine Erwachsenen gibt. Was nicht heißt, dass sie nicht ab und an auftreten, doch meist unsichtbar und aus dem Off unverständliches Zeug brabbelnd – Worte, die ein Kind nicht wirklich tangieren, es sei denn, sie werden direkt angesprochen und müssen Pflichten erledigen, die für ihr zukünftiges Fortkommen durchaus, so sagen andere, relevant sind. Charles M. Schulz hat mit seinen Comics also eine Welt kreiert, die nur den Kindern gehört. In welcher deren Regeln gelten und psychosoziale Mechanismen aus dem eigenen kindlichen Antrieb heraus entstehen. Dennoch würde Schulz womöglich niemals sagen, dass den Kindern das Kommando gegeben werden soll, wie es einst Herbert Grönemeyer in einem großen Missverständnis juveniler Psychologie gegenüber lauthals singend verlautbart hat.

Den Kindern das Kommando zu geben ist ein falscher Weg. Kindern aber die Möglichkeit zu geben, aus eigenem selbstbestimmtem Handeln heraus komplexe zwischenmenschliche Probleme erst zu verstehen, um sie dann zu lösen, ist notwendig. Das beste Biotop dafür: Die Schule. Dort passiert alles, was uns später genauso und immer noch widerfährt, nur kennen wir die Mechanismen zur Deeskalation womöglich besser – die Emotionen, die dabei im Spiel sind, verleiten aber immer noch dazu, sich aufzuführen wie ein Kind.

Playground von Laura Wandel ist wie die Peanuts, nur ohne charmanter Ironie – es ist härter, brutaler, gnadenloser. Was bei Wandels erster Regiearbeit zunehmend irritiert, ist der eng gesteckte Radius der Wahrnehmung, kurze Brennweiten und die Perspektive auf Augenhöhe der zentralen Filmfigur Nora. In Playground gibt es kein Rundherum, nur Kantine, Pausenhof und Klassenraum. Erwachsene erscheinen, sofern sie sich nicht auf Augenhöhe der Kinder begeben, als Fragmente von Körpern, die sich fast schon übergriffig und dominant ins Bild schieben. Playground ist ein Spiel mit den Hierarchien, nicht nur zwischen den Mitschülern, sondern auch und vor allem zwischen Kind und Aufsichtsperson. Fast gleicht dieses Schülerdrama einem Gefängnisfilm, in dem wilde Regeln gelten und das Recht des Stärkeren, Beliebteren.

Die Problemlage des Films ist es überdies wert, in weiterem Vorgehen ergründet zu werden: Die siebenjährige Nora beginnt ihren ersten Schultag an der Schule ihres Bruders Abel und muss sich ihr eigenes soziales Umfeld von der Pike auf neu errichten. Das scheint für den Anfang gar nicht so schwer – doch als sie merkt, dass Abel von drei Buben zusehends und immer heftiger gemobbt wird, findet sie sich in einer Zwangslage wieder: Soll sie nun, gegen den Willen von Abel, angesichts dieser psychischen und physischen Gewalt intervenieren und ihre Beliebtheit aufs Spiel setzen? Oder das Drama zu eigenen Gunsten ignorieren?

Wandel rückt keinen Millimeter von ihrer Kinderdarstellerin Maya Vanderbeque ab. Sie ist das Zentrum des Films, alles dreht sich um sie, all der Lärm vieler Stimmen, all die Gemeinheiten und all der Spott, auf dem die lern(un)willige Klassengesellschaft errichtet wird. Vanderbeques natürliches Spiel ist großartig und es ist wieder mal verblüffend anzusehen, was Filmemacher aus solchen Jungdarstellern herausholen können. Das erinnert mich an Jeremy Milikers Performance in Die beste aller Welten, einem der stärksten österreichischen Filme der letzten Jahre.

Es ist auch verblüffend, wie sehr das Verhalten von Kindern dem von Erwachsenen gleicht, nur lässt sich hier, in diesem schmerzlichen Kammerspiel, die ganze Dynamik ungefiltert beobachten. Geschickt setzt Wandel aber Wendepunkte in diesem Geschehen, bei welchen den Erwachsenen mehr oder weniger die Hände gebunden sind, und folgt dem steinigen Weg kindlicher Selbstfindung auf erzählerisch wuchtige, hochdramatische Weise.

Playground

Fresh

ROTKÄPPCHEN UND DAS WOLFSRUDEL

8/10


fresh© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MIMI CAVE

SCRIPT: LAURYN KAHN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, SEBASTIAN STAN, JONICA T. GIBBS, CHARLOTTE LE BON, ANDREA BANG, DAYO OKENIYI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Männer wollen doch immer nur das eine! Vermutlich schon, denn wären die Triebe nicht, gäbe es keine Beziehungen. Oder nur wenige, rein platonische. Die Lust am anderen (oder gleichen) Geschlecht ist stets der Anfang von viel mehr. Oder bleibt in den niederen Gefilden von Sex und körperlicher Liebe verhaftet, weil so manche Männer einfach nur genau das wollen und Frauen auf ihre äußerlichen Reize reduzieren. Gegen die aufblasbare Gummipuppe aus dem Beate Uhse-Versandkatalog scheinen „echte“ Frauen aber stets die Nase vorn zu haben, nichts kann die natürliche Physis ersetzen. Um das zu bekommen, was Mann will, gibt’s Dating-Apps wie Tinder. Passen die Matches, ist noch längst nicht gesagt, ob‘s Auge in Auge dann auch noch hinhaut. Meist nicht, meist ist es nach einem One-Night-Stand nicht nur beziehungstechnisch vorbei, sondern auch die Würde dahin. Doch Mann hat bekommen, was er wollte und zieht weiter. Wie ein Jäger auf der Pirsch nach Freiwild. Oder – wie wir seit EAV’s Märchenprinzen wissen: Zu viele Jäger sind der Hasen Tod.

Dazwischen jedoch, und um einiges weiter abseits, bleibt das Patriarchat nicht unkreativ, um mehr zu bekommen als möglich ist. Diese Erfahrung muss die junge Noa alsbald machen, als sie, entnervt und enttäuscht nach so einigen Blind Dates, im Supermarkt Bekanntschaft mit dem äußerst attraktiven Steve macht. Wen haben wir da vor uns: „Winter Soldier“ Sebastian Stan, sehr schick, sehr distinguiert und charmant. Ein Mann, den Frau sich nur erträumen kann, weil es diesen in natura einfach nicht gibt. Kurz danach folgt das Grand Opening einer leidenschaftlichen Liaison, wie wir sie schon aus diversen anderen RomComs oder erotischen Krimis kennen. Das dann alsbald ein unangenehmes Erwachen folgt, liegt auf der Hand. Der Punkt in dieser Sache ist nur: Welcher Art ist dieser Wermutstropfen auf die rosarote Glückseligkeit, der so bitter schmeckt wie ein roher Satanspilz?

Die Erkenntnis sickert wie der Schmerz beim Anstoßen der kleinen Zehe mit einiger Verzögerung sortenrein ins Hirn – und ist umso verstörender, je länger man darüber nachdenkt. Die Frau als Objekt der Begierde findet in Mimi Caves haarsträubender Groteske Fresh ihre destruktivste Bestimmung, der Horror macht sich in den Köpfen breit und in der sprachlosen Empörung, zu welchen niederträchtigen Marktlücken das starke Geschlecht sich hinzureißen gedenkt. Carey Mulligan aus Promising Young Woman, die mit der stumpfen Schwanzsteuerung von Männern Schlitten fährt, hätte selbst hier wohl einige Zeit gebraucht, um ihren vor Erstaunen geöffneten Mund zu schließen. Doch es ist, wie es hier ist, und bedurfte zumindest bei mir eines zweiten Anlaufs, nach so vielen Tabubrüchen dennoch dranzubleiben.

Fazit: Es lohnt sich. Denn das Ganze erzeugt einen Topspin, dem man sich ungern entziehen will. Fresh ist eine so abstoßende wie faszinierende, zutiefst makabre Satire auf Körperwahn und männliche Dominanz, Missbrauch und sexueller Versklavung. Themen, die in einem 70er Jahre Grindhouse-Slasher als billig-perverse Blutoper für Magenverstimmungen gesorgt hätten. Mimi Cave und Drehbuchautorin Lauryn Kahn sind dieser Phase aber erhaben. Ihr Film hat Stil und trotz all der Verrohung enormen Anstand. Bei wohl kaum einem anderen Film der letzten Zeit trifft die Bezeichnung fancy wohl am ehesten zu wie auf diesen: das Grauen ist schick gekleidet, die Ausstattung akkurat und so penibel wie in American Psycho. Das Intellektuelle bringt das aalglatte Böse erst hervor, dass in einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit agiert. Sebastian Stan ist dafür wie geschaffen – er übertreibt nicht, und er gibt sich keinem charakterlichen Wandel hin wie in so manchen Thrillern, die dadurch enorm viel Plausibilität einbüßen. Das Juwel des Films ist aber die wirklich bezaubernde Daisy Edgar-Jones (Krieg der Welten), die hier ihr Spielfilmdebüt hinlegt und dabei – einer jungen Sissy Spacek ähnlich – in einer Mischung aus Furcht, Trotz und Esprit Mulligans Femme Fatale den Rang abläuft und die Herzen ihres gesamten Publikums gewinnen wird.

Mit ihrer Performance – und der innovativen, filmischen Erzählweise, die mit symbolhaften, kurios geschnittenen Bildcollagen die kluge Metaebene offenbart, schafft es Fresh, die Grenze des guten Geschmacks zu verschieben und mit genug spottender Coolness beängstigende männliche Vorlieben so zu konterkarieren, dass sie einem nichts mehr anhaben können.

Fresh

The Assistant

MÄDCHEN FÜR ALLES

5/10


theassistant© 2020 Forensic Films


LAND: USA 2020

REGIE: KITTY GREEN

CAST: JULIA GARNER, MATTHEW MACFADYEN, NOAH ROBBINS, KRISTINE FRØSET, DAGMARA DOMINCZYK U. A. 

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein ganz normaler Tag im Büro. Möchte man meinen. Zumindest meint man das fast den ganzen Film lang, welcher sich The Assistant nennt und in dem es natürlich um eine Assistentin – oder Sekretärin oder generische Bürokraft geht, deren Tagesablauf Regisseurin Kitty Green penibel verfolgt. Green scheint zu hospitieren, gleicht einer Schülerin, die Arbeitsluft schnuppert. Den Tippenden und Kopierenden und Kaffeemachenden über die Schulter blickt. Und jedesmal, wenn das Personal spontan den gewählten Platz verlässt, erschrocken zurückfährt, um nicht im Weg zu stehen. Sobald es keiner mehr merkt, rückt die Schülerin wieder näher. Schielt um die Ecke, äugt verstohlen ins Chefbüro. Bekommt den Oberboss aber nie zu Gesicht.

Stimmt – der Firmenfürst stolziert kein einziges Mal durchs Bild. Er ist die große Unbekannte, der Kastellan auf Franz Kafkas Schloss, eine metaphysische, gesichtslose Figur des Schreckens und der uneingeschränkten Macht, die mit Zuckerbrot und Peitsche ihren buckelnden Untertanen noch das letzte Bisschen an Selbstachtung nimmt. Warum sich Menschen so etwas antun, nur um irgendwann groß rauszukommen, ist mir schleierhaft. Ein Karrieremensch müsste ich sein, dann würde ich das vielleicht verstehen. Bin ich aber nicht. Und damit hat mein Mitlgefühl ob des öden Jobs von Assistentin Jane (Julia Garner) natürlich seine Grenzen. Jane ist Mädchen für Alles, kommt als erste, geht als letzte, dazwischen widerfährt ihr soziale Kälte, Diskriminierung und Unhöflichkeit. Kein Bitte, kein Danke, kein Lächeln. Diese Filmfirma ist die Antithese von Teamgeist. Ein Ort, der frösteln lässt. Und von welchem ich so schnell wie möglich würde fort wollen. Jane macht das nicht, sie lässt sich erniedrigen und ausnutzen. Aber auch das hat scheinber seine Grenzen, denn als sie merkt, dass der Boss junge Frauen zum intimen Gespräch nicht nur ins Hotelzimmer bestellt, sondern auch nach Büroschluss sexuell belästigt, fasst sie ihren Mut zusammen und wendet sich an die firmeninterne Personalstelle.

Kitty Green lässt sich, wie gesagt, wahnsinnig viel Zeit, um überhaupt eine Geschichte ins Rollen zu bringen. Irgendwann ist man dann froh, dass Green zumindest auf irgend etwas hinauswill, egal was, nur weg von der Sondierung eines Umstands hin zu einer Art Handlung. Doch viel mehr als die No Comment-Analyse eines triesten Bürotages mit auffallend wenig Dialogzeilen wird The Assistant dann trotzdem nicht. Dort, wo thematisch ähnlich gelagerte Filme wie Bombshell erst anfangen, hört dieser Film auch schon wieder auf.

The Assistant

Leviathan

HIOB LÄSST SICH GEHEN

6/10

 

Leviathan© 2015 Wild Bunch Germany

 

LAND: RUSSLAND 2014

REGIE: ANDREY ZVYAGINTSEV

CAST: ALEKSEY SEREBRYAKOV, ELENA LYADOVA, VLADIMIR VDOVICHENKOV, ROMAN MADYANOV, ANNE OUKOLOVA U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN

 

Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche baue. Das soll damals, wenn man den Überlieferungen glaubt, Jesus zu Petrus gesagt haben. Petrus hat diese Bürde dankend angenommen. Anderen gefällt dieses Gleichnis weniger. Zum Beispiel Kolia, dem Vater eines Sohnes und Erbe eines stattlichen Holzhauses an der Küste der Barentssee. Ein herrliches Fleckchen Erde mit Rundblick bis hinaus auf den fernen Horizont, umgeben von Felsen und Wellen, hinter einer Brücke geht die Kleinstadt erst weiter. Das Häuschen selbst bietet angenehm rustikalen Komfort, hat große Fenster – moderner Landstil, wenn man so will. Da lässt sichs leben. Das weiß auch der Bürgermeister der Gemeinde, und das weiß auch die russisch-orthodoxe Kirche, die dort, an diesem exponierten Plätzchen, eine Kirche bauen will. Der richtige Fels also. Nur blöd, dass Kolia dort lebt. Der Bürgermeister wird’s hoffentlich richten, oder? Damit es den Mächtigen schmeckt. Fällt sicher was für den feisten Herren etwas ab. Kolia muss also seinen Besitz veräußern, ob er will oder nicht. Doch der hat zufällig einen Freund in Moskau, der Anwalt ist. Mit ihm zieht er vor Gericht, bringt ans Licht, was der Machtmensch des Ortes sonst noch für Dreck am Stecken hat. Doch der liebe Gott meint es nicht gut mit Kolia, der den dem Wodka zugeneigten Mechaniker so dermaßen auf die Probe stellt, dass man als Mensch eigentlich nur verlieren kann. Wenn man nicht ein Machtmonster wie der Bürgermeister ist.

Leviathan, das ist doch ein Seeungeheuer aus der christlich-jüdischen Mythologie? In einer Szene des Films zitiert ein Geistlicher im Gespräch mit Kolia aus dem Buch Hiob, um klarzumachen, dass sich ein Kampf mit dem Monster bei Weitem nicht lohnt. Das Monster, das sind die Mächtigen, ein ungreifbares und unangreifbares Ungetüm, bestückt mit zahlreichen Gliedmaßen, fast schon einer Hydra gleich. Bezwingen lässt sich das nicht. Der kleine Mann kann hierbei nur verlieren, es sei denn, er findet Halt im Glauben. Doch letzten Endes ist es die Institution des Glaubens, die den armen Trinker verrät – und ihm alles nimmt. Erbauliches Kino ist das keines, viel eher bitterer Filmrealismus, in welcher sich das Tragische zuspitzt wie sonst nur in klassischen Tragödien. Jim Sheridans themenverwandtes Enteignungsdrama Das Feld ist von ähnlich epischer Tragweite, auch Das Haus aus Sand und Nebel mit Ben Kingsley und Jennifer Connelly kennt die destruktive Dynamik von Existenzverlust und freiem sozialem Fall.

Der Wodka, der fließt dabei in Strömen und feiert den heulenden Niedergang. Wenn die monströsen Zähne der Baggerschaufel in die häusliche Geborgenheit der heiligen vier Wände einschlagen und diese niederreißen, dann sind das die schmerzlichsten, wie auch stärksten Szenen des Films. Andrey Zvyagintsev entzieht der Kirche und den Mitmenschen das Vertrauen. Der Politik sowieso. Nur der Glaube könnte ihn noch retten, doch anders als bei Hiob ist dieser bei Kolia nur peripher bis gar nichtvorhanden. Der einzige Freund, der noch bleibt, das ist der Kartoffelschnaps. Worauf also will Zyvagintsev hinaus? Was für mich übrig bleibt, ist ein Klagelied auf alles Mögliche (sogar auf den Alkohol), was, so lässt es sich vermuten, in Russland im Argen liegt. Wie kann es anders sein, in einem Land, in dem die Mächtigen gefühlt auf ewig mächtig bleiben wollen? Das ganze Land scheint wie ein diffuser Leviathan zu sein, so zumindest illustriert es dieser Film, dessen prädestinierter Abwärtstrend nicht aufwühlt, aber in seltsam phlegmatischer Resignation zurücklässt.

Leviathan

Glücklich wie Lazzaro

DER EWIGE KNECHT

8/10

 

lazzaro© 2018 Filmladen

 

LAND: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2018

REGIE: ALICE ROHRWACHER

CAST: ARDIANO TARDIOLO, NICOLETTA BRASCHI, SERGI LÓPEZ, ALBA ROHRWACHER U. A.

 

Da steht er und lächelt, umgeben von Bäumen, im Hintergrund die Stadt, und ein Wolf zu seinen Füßen. Das Plakat zu Alice Rohrwachers Film ist ein Gemälde, naiver oder phantastischer Realismus, doch für letzteres wäre es zu real, einzig der Wolf sollte hier nicht sein. Und auch Lazzaro, der abgebildet ist, sollte nicht hier sein, denn er scheint wie eine Gestalt aus längst vergangenen Zeiten. Wie eine Ikone, ein Heiligenbild, etwas völlig entrücktes. Lazzaro existiert gar nicht wirklich, er ist ein Mythos, ein Mysterium – oder doch nicht? Das zu ergründen ist ein Versuch, der sich letzten Endes lohnt, denn Glücklich wie Lazzaro zählt zu den außergewöhnlichsten Werken der letzten Zeit, ein humanistisches Märchen von den Hierarchien unserer Gesellschaft.

Adriano Tardiolo, der den flötenspielenden Knecht auf dem Gut der Marchesa de Luna spielt, ist selbst eigentlich ein Laie. Einer, der nie irgendwo Schauspielerfahrung gesammelt hat, ein Naturtalent also, den Regisseurin Rohrwacher entdeckt hat. Tardiolo scheint in seiner Rolle wirklich nicht von dieser Welt zu sein, und als Lazzaro ist er einer, der tut was man ihm sagt. Ein Knecht in seiner reinsten Urform, ein Befehlsempfänger und Erfüllungsgehilfe. Einer ohne Rechte. Über ihm: die Tabakbauern des Ortes, allerdings selbst einem erbarmungslosen Feudalismus erlegen. Sklaven, wenn man so will, die für die Herrin ernten, und selbst immer verschuldet bleiben. Das erinnert an die Gesellschafts- und Wirtschaftsformen des Mittelalters, bevor die Bauern im 14. Jahrhundert den Aufstand probten. Die Einwohner des Bauerndorfes Inviolata allerdings tun das nicht, sie können nicht auf sich herabblicken, ihren Zustand des Schuftens und Dienens nicht aus der Distanz betrachten. Anfangs fragt man sich, in welcher Zeit Glücklich wie Lazarro eigentlich spielt. Alles sieht sehr verdächtig nach dem vorigen Jahrhundert aus, doch der Schein trügt. Die verhängte Isolationshaft der Marchesa hat Lazarro und seine Mitbewohner aus der Zeit katapultiert. Und die Zeit, die spielt weiterhin verrückt, vor allem, was das Schicksal des Lazzaro betrifft. Denn ihm widerfährt, ähnlich dem Lazarus aus der Bibel, eine unergründliche zweite Chance, die ihn auf eine Reise schickt, und bei der ein Wolf keine unwesentliche Rolle spielt.

Rohrwacher hat hier eine Parabel ersonnen, anfangs noch in romantischem Realismus, die von Meistern und Dienern erzählt. Von den Unterdrückten und Ausgebeuteten, und von dem Umstand, dass es immer einen Stärkeren gibt, der den anderen nötigt, zu dienen. Ihre metaphysische Reise ist gleichsam ein antikapitalistisches Manifest, worin Lazzaro wie der kleine Prinz Antworten sucht auf Fragen, die er nie stellen wollte, auf Menschen trifft, mit denen er stets verbunden war, die aber bemüht sind, aus ihrer Abhängigkeit von damals auszubrechen in ein autarkes Lebenskontrukt. Was sie finden ist Armut, und die Reichen von damals, die haben ebenfalls alles verloren. Der Film ist wie die Essenz eines politischen Umbruchs, der am Umsetzen kommunistischer Ideen scheitert, weil das Wesen des Menschen es einfach unmöglich macht, diese umzusetzen. Glücklich wie Lazzaro ist ein enorm gesellschaftspolitischer Film, der seine Sichtweise in eine poetisch-irreale Märtyrerchronik bettet. Dabei fasziniert in erster Linie eben Adriano Tardiolo als Lazzaro, der als Fels in der Brandung Zeiten und Gezeiten über sich hinwegziehen lässt, bis er selbst die alte Ordnung wiederherstellen will. Was sagt das über die Zukunft des Menschseins aus? Rohrwachers Film erinnert durchaus an die thematisch verwandte Kleinbürgertragödie Dogman des Italieners Matteo Garrone – auch dort sieht sich der ewig unterdrückte Hundefriseur der Willkür von Stärkeren ausgeliefert, bis er selbst das Blatt wendet. Doch wofür? Glücklich wie Lazzaro ist noch mehr Lehrstück als Dogman, fast schon von der Art eines Theaters des Berthold Brecht oder Max Frisch, die die gutgläubige Illusion eines besseren Menschen erschaffen, um sie dann zu zerschlagen.

Rohrwachers Film ist ein höchst bemerkenswertes Beispiel dafür, was das Kino noch für eine erzählerische Kraft haben kann, und noch so viel perspektivisches Neuland verborgen hält, dass durch Glücklich wie Lazzaro wieder ein Stückchen mehr erschlossen wurde.

Glücklich wie Lazzaro