Manodrome (2023)

DER MANN IN DER OPFERROLLE

6/10


manodrome© 2023 Images courtesy of Park Circus/Universal


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH / USA 2023

REGIE / DREHBUCH: JOHN TRENGOVE

CAST: JESSE EISENBERG, ADRIEN BRODY, ODESSA YOUNG, SALLIEU SESAY, PHIL ETTINGER, ETHAN SUPLEE, EVAN JONINGKEIT, CALEB EBERHARDT, GHEORGHE MURENSAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Da hat wohl jemand zu oft Herbert Grönemeyers Männer gehört. Oder steckt in einer Zeit fest, in der die Herren der Schöpfung noch das waren, was sie immer gerne sein wollen: Harte Jungs, die sich nehmen dürfen, was sie wollen, die Frauen unterdrücken, aus Furcht davor, sie könnten den Mann überflügeln. Diese Panik wird traurigerweise oft nur mit Gewalt kuriert statt mit der Bereitschaft, respektvollen Umgang, Gelassenheit und Selbstwertgefühl zu erlernen. Der Mann an sich folgt dabei Glaubenssätzen, die zu nichts führen, außer dazu, in Selbstmitleid zu ertrinken und dabei einen Minderwertigkeitskomplex zu füttern, der sie letztlich Amok laufen lässt. So wie im Film Manodrome, in welchem Jesse Eisenberg als so blasser wie teigiger Soziopath auf Biegen und Brechen versucht, zum starken, männlichen Helden, zum sich selbst genügenden Herkules zu mutieren.

Dabei geht’s ihm gar nicht schlecht. Ganz im Gegenteil: Er lebt in einer Beziehung, die dem ersten Anschein nach relativ gut funktioniert – und er wird Vater. Was besseres als seine Gene weiterzugeben kann Mann sich gar nicht wünschen. Doch Ralphie, wie Eisenbergs Figur sich nennt, will alles und noch viel mehr. Er will die Freiheit, tun und lassen zu können, wonach ihm beliebt, keine Verantwortung tragen zu müssen, nur sich selbst gegenüber. Kraft, Muskeln, Mut und Ego: Wenn Ralphie sich im Gym halb zu Tode schwitzt und es nicht lassen kann, in der Umkleide neiderfüllt auf gestählte Muskelprotze zu blicken, die mit sich und der Welt im Reinen sind, weiß man längst, welcher Komplex den Typen reitet. Wie durch einen Wink des Schicksals macht der bis über beide Ohren in einer verfrühten Midlifecrisis steckende Möchtegern-Mann Bekanntschaft mit einer obskuren Gemeinschaft, angeführt vom geheimnisvollen und womöglich in NLP ausgezeichnet geschulten Dad Dan (Adrien Brody), der nichts anderes will, als den gebeutelten Ralphie auf den Pfad des selbstzufriedenen, erfüllten Mannes zu bringen, der letztlich alles hinter sich lässt – Frau, Kind und Familie. Der für nichts Rechenschaft ablegen muss und rund um die Uhr in die Selbstfürsorge geht, die längst nicht mehr das ist, was sie sein soll. Es ist die Nährung eines egozentrischen Weltbildes, die Entsagung jedweder möglichen Zurückweisung. Wohin das führt, wird schnell klar: Ein labiler Geist wie Ralphie findet die innere Stärke nicht in sich selbst, sondern in der Halbautomatischen, sprich: Die Waffe des Mannes ist sein Johannes. Und so wird aus der maskulinen Selbsthilfegruppe zumindest für manche die falsch verstandene offene Tür für reuelose Gewalt, die in ihrer Sinnlosigkeit den Sinn sucht.

Letztjährig beim Slash Filmfestival in Wien als Österreich-Premiere ins Programm aufgenommen, ist der Thriller des südafrikanischen Regisseurs John Trengrove ein urbanes, graustichiges Sozial- und Psychodrama, das Jesse Eisenberg womöglich die beste Performance seiner Schauspielkarriere beschert, dessen dargestellten Lebensloser man aber abstoßend findet. Dieser Ralphie wird zur unsympathischen männlichen Kreatur, die ihrem Zwang, geschlechtsbezogenen Stereotypen zu entsprechen, immer wieder nachgeben muss. Manodrome – so nennt sich auch die kuriose Männerkommune unter Brody – zelebriert den Abgesang auf den obsoleten Mann letztlich als profanen Thriller, der einzig mit dem Mut Jesse Eisenbergs punktet, nicht zwingend misogyne, aber soziopathische Widerwertigkeit als abstürzenden, jokerhaften Kasper darzustellen, dessen Schicksal einem aber auch nicht ganz egal ist, da die Möglichkeit, aus dem Schlamassel herauszukommen und ein besseres Leben zu führen, nichts ist, was dieser prinzipiell abzulehnen gedenkt.

Schlecht beobachtet ist Manodrome nicht, vielleicht etwas zu ungenau im Hinblick auf das Männersystem der Incel (ein Begriff, der mir bislang fremd war). Da der Fokus übertrieben stark auf Eisenberg liegt, gerät das Rundherum vielleicht etwas zu schal und antriebslos, doch im Grunde lässt sich die Dynamik schon erkennen, die Eisenberg ins Verhängnis treibt. In der Darstellung dessen, was männliche Krisen so alles anrichten können, ist Manodrome ein kränklicher Vogel, der durch das Entkommen eines vermeintlichen Käfigs nur wieder im Käfig landet. Das Bild am Ende verweist nicht zufällig auf Einer flog übers Kuckucksnest. Das männliche System ist wie ein unerbittliches Regime, aus dem sich mit Gewalt jedoch nicht ausbrechen lässt.

Manodrome (2023)

The Animal Kingdom (2023)

VERLOREN AN DIE WILDNIS

6,5/10


animal-kingdom© 2023 StudioCanal


ORIGINAl: LA RÈGNE ANIMAL

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: THOMAS CAILLEY

CAST: ROMAIN DURIS, PAUL KIRCHER, ADÈLE EXARCHOPOULOS, TOM MERCIER, BILLIE BLAIN, NATHALIE RICHARD, SAADIA BENTAÏEB U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Tiere sind auch nur Menschen – und umgekehrt: Dass wir alle durch Zellteilung entstanden sind und es so überhaupt erst erreicht haben, als höheres Wesen Teil eines Vorgangs zu werden, der als Makro-Evolution bekannt ist, müsste man sich immer wieder mal in Erinnerung rufen, um nicht als überheblicher Gierschlund auf Planet Terra herumzutrampeln. Leider machen das gerade die, auf die es ankommt und die genug Einfluss hätten, am wenigsten. Tiere sind nicht Menschen und die Erde ist der Untertan. Ein verhängnisvolles Zitat aus der Bibel, womöglich falsch übersetzt und zu Gunsten der Eroberer, aber was solls: Es ist Zeit, nicht nur das Klima zu bekleben, sondern sich auch rückzubesinnen auf die genetischen Mechanismen unserer Existenz. Die natürliche Ordnung sieht somit vor, dass Homo Sapiens nicht aussieht wie ein Gorilla und ein Gorilla nicht aussieht wie ein Fisch. Die Zellen wissen, was zu tun ist, sie haben ihren genetischen Code, also eben ihren Bauplan, und so gehen sie auch vor: Akkurat, mathematisch und logisch. Wenn diesen Bauplan aber niemand mehr lesen kann, auch Zellen nicht, könnte es zu einem Chaos kommen, und jene Lebewesen, die am Ende der Nahrungskette stehen, ihre Position verlieren. Der Sturz vom Podest in die Niederungen der Kriechtiere ist zum Greifen nah, der genetische Code eines Reptils vermischt sich mit dem eines Menschen, wir haben neue Baupläne, alles wird anders.

In The Animal Kingdom, einem hochbudgetierten und verdammt gutaussehenden Science-Fiction-Drama, passiert genau das: Otto Normalverbraucher von nebenan mutiert zum Tier, die Palette der Arten ist umfangreich, man könnte alles sein: Wolf, Bär, Katze, gar ein Insekt oder ein Vogel, denn fliegen wollte der Mensch schon immer. Eine genetische Pandemie macht sich breit, überall auf der Welt, insbesondere in Frankreich, denn dort bekommen wir Einblick ins Geschehen. Filmstar Romain Duris gibt den besorgten Vater namens François, der mit Teenager Émile (souverän und sensibel: Paul Kircher) gerade unterwegs ist, um Ehefrau und Mutter zu besuchen, die im Krankenhaus mit ihrer Mutation klarkommen muss – einer Mutation in ein Säugetier unbestimmter Art, mittlerweile hat sie bereits das Sprechen verlernt und kann sich gerade noch an ihre Liebsten erinnern. Zur Behandlung dieser Phänomene fehlt das rechte Kraut, allerdings gibt es spezifische Einrichtungen, und in ein solches soll Mama/Gattin auch hin. Doch auf dem Weg in Frankreichs Süden, während eines heftigen Unwetters, überschlägt sich der Mutanten-Transport und einige der Individuen können in die Wälder fliehen. François macht sich auf die Suche, denn auch wenn die Liebe seines Lebens ausssieht wie ein Bär, ist sie immer noch die Ehefrau. Émile hingegen macht währenddessen seine eigene, gänzlich andere Erfahrung mit einer wie wild herumpanschenden Biologie.

Dabei erinnert mich das Szenario an ein ein aus zwei Staffeln bestehendes, dystopisches Serienformat namens Sweet Tooth, in welchem die Menschheit mal grundlegend von einem recht letalen Virus dahingerafft wurde, die Zivilisation darniederliegt und, wie das bei Endzeitszenarien nun mal so ist, neue, soziale Gruppierungen erstarkt sind. Jene, die immun zu sein scheinen gegen das Virus, sind Hybride aus Tier und Mensch – und werden gejagt. Nur sehen die Mischlinge allerdings so aus, als hätte die- oder derjenige, der diese Kreaturen geschaffen hat, keine Ahnung von Anatomie. Das sieht in The Animal Kingdom schon ganz anders aus. Da flattern fluguntaugliche Harpyien durch den Forst, da schleimt ein menschlicher Oktopode im Supermarkt die Fischtheke voll. Da klammert sich ein kindliches Chamäleon an den Baumstamm und hofft, nicht gefunden zu werden, indem es Mimikry macht. All die täuschend echt kreierten Entwürfe erinnern mitunter an die Kunstwerke der Künstlerin Patricia Piccinini, die mit ihren hyperrealistischen Skulpturen aus Silikon, Plastik und Echthaar den evolutionären Richtungswechsel, angereichert mit sozialphilosophischen Gedanken, vorwegnahm.

Thomas Cailley, der mit seiner Romanze Liebe auf den ersten Schlag 2015 so einige Preise abräumen konnte, bettet die gar nicht so absurde Vision einer genetischen Vereinigung aus Menschen und Tier in ein moderates Katastrophenszenario, in welchem die Weltordnung noch nicht ganz aus den Angeln gehoben wurde. Die Infrastruktur funktioniert noch, die „Erkrankten“ lassen sich im Grunde noch an einer Hand abzählen. Mit dem Fokus auf den jungen Émile und der Metamorphose vom Menschen zum Tier sowie den einhergehenden Verlusten der Eigenschaften, die einen Menschen ausmachen, trifft Cailley so manches Mal den Nerv der Zeit und den Stolz einer Herrenrasse, die, schnell kann es gehen, ihren Status verliert. Der ökologische Gedanke ist dabei sekundär, die Besinnung darauf, dass wir immer noch Tiere sind, der eigentliche Anspruch. Doch so prachtvoll The Animal Kingdom sein zutiefst berührendes und überraschend melancholisches Familiendrama auch erzählt, so konventionell kommt es daher. Neben all den Schauwerten ist jener Film, der zur Closing Night des Wiener Slash Festivals erstmals in Österreich präsentiert wurde, eine zwar emotionale, aber kaum wagemutige Fantasy, die sich am Rande der Science-Fiction bewegt. Überraschung ist The Animal Kingdom keine, dafür ein gefälliges Szenario, das sich weniger naiv präsentiert als Sweet Tooth, das Abenteuer rund um den Jungen mit dem Hirschgeweih.

The Animal Kingdom (2023)

In My Mother’s Skin (2023)

MARIA DURCH DEN MYTHENWALD GING

7/10


inmymothersskin© 2023 Amazon Studios


LAND / JAHR: PHILIPPINEN, SINGAPUR, TAIWAN 2023

REGIE / DREHBUCH: KENNETH DAGATAN

CAST: FELICITY KYLE NAPULI, JASMINE CURTIS-SMITH, ANNE RAJA, JAMES MAVIE ESTRELLA, ANGELI BAYANI, RONNIE LAZARO, ARNOLD REYES U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Das Jesuskind in prächtigem Ornat hatte Filmemacher Kenneth Dagatan schon in jungen Jahren verstört. Aufgewachsen mit den Dogmen, Verboten und Geboten des erzkonservativen, aber massentauglichsten Zweigs des Christentums, blieb, wenn schon sonst nichts mehr, eine gewisse Ehrfurcht vor fast schon heidnisch anmutenden Götzen und übertrieben prunkvollen Darstellungen der Heiligen Familie. Wir kennen das schließlich selbst: Die heilige Jungfrau Maria im bodenlangen Rock, geschmückt mit allerlei Firlefanz, hinter ihrem Haupt die Corona des Heiligenscheins. Diese Art der Heiligenverehrung verschmilzt nun nahtlos mit der Folklore einer üppigen, tropischen, feuchtheißen Inselwelt: Den Philippinen. Kann so eine Konvergenz aus Glauben, Ahnen und Hoffen denn zu einem synergetischen Zweiklang führen? Kam oder kommt hier jemals etwas Gutes dabei raus? Mancherorts haben Völker den missionierten Katholizismus insofern selbst adaptiert, dass dieser zu ihrer sowieso längst gewohnten und auch weiterhin praktizierten Folklore passt, zum Beispiel auf Madagaskar. Anderswo blieb von den alten Geschichten kaum mehr etwas über. Doch wenn sie hochkommen, wird die gebenedeite Jungfrau zu einer Schreckensgestalt, die so verführerisch scheint wie die dreizehnte Fee aus den Grimm’schen Märchen, in Wahrheit aber den vergifteten Apfel, saftig, drall und rot schimmernd, arglosen Hoffenden entgegenhält. Was soll man schließlich tun, bei so einem verlockenden Angebot, das, zur rechten Zeit und scheinbar ohne Tribut fordern zu wollen, aus allen Wolken bricht und zerfahrene Situationen wieder geradebiegen kann?

In so einem Dilemma der Angst und der Sorge muss das Mädchen Tala rasch entscheiden, wie es mit dem Schicksal ihrer Familie weitergeht. Wir schreiben das Jahr 1945, das Ende des Krieges ist greifbar nah, die Japaner haben den Archipel besetzt und die Amerikaner rufen zur Schlacht. Der Vater, genötigt von den Mächtigen, muss ersteren zur Hand gehen und verschwindet in den Wirren des Krieges. Zurück bleiben eine erkrankte Mutter und zwei Kinder, eben Tala und ihr jüngerer Bruder Bayani, nebst des Hauspersonals, denn die Familie konnte bislang, mehr recht als schlecht, in einem feudalen Kolonialbau residieren, irgendwo fernab der Stadt im Dschungel. Als sich Mamas Gesundheitszustand rapide verschlechtert, muss das Mädchen Hilfe holen – und stößt in einer verwunschenen Kapelle auf eine wohlwollend lächelnde, prunkvoll aufgedonnerte Fee, die zur Lösung des Problems natürlich beitragen kann. Die Medizin, die Tala ihrer Mutter aber verabreichen soll, hat Nebenwirkungen, mit denen keiner rechnen würde – oder rechnen will. Erst langsam fällt es wie Schuppen von den Augen, was das magische Wesen, mehr Hexe als Fee (und so gar nicht die gebenedeite Jungfrau), eigentlich bezwecken will.

Und hier haben wir ihn wieder, den kämpferischen Willen eines Kindes, der gegen die Mächte der Finsternis aufbegehrt und über sich hinauswächst. Ein blutjunges Schneewittchen, die von verlockenden Kostbarkeiten probieren soll, die sich hinreißen lässt, aus Liebe zur Mutter, das Unmögliche zu wagen. Für diesen radikalen Kreuzweg findet Kenneth Dagatan eine ruhige, fast schon unangenehm elegische Bildsprache, die er mit den Geräuschen der Tropen anreichert, insbesondere mit dem Klang der Zikaden, die in dieser Schauergeschichte keine unwesentliche Rolle spielen. Die Wucht der Natur, die sich durch etwas Ungreifbares, das sich in die natürlichen Mechanismen unserer verstandenen Welt drängt, vor den Karren spannen lässt, breitet sich wie Schimmel in den vertrauten Gemäuern aus, als wäre Talas Zuhause das Hill House aus der Sulu-See. Dagatan nähert sich seinem assoziierten Alptraum schleichenden Schrittes, die Kamera mag sein Zeuge sein, doch löst sie sich lange nicht vom verschreckten Antlitz desjenigen, der etwas Fürchterliches zu sehen vermag. Statt schneller Schnitte sucht das Auge des Erzählers in langsamen Schwenks Ort und Stelle des sichtbaren Grauens mit einiger Verzögerung. Dagatan will nicht erschrecken, sondern fast schon auf homöopathische Weise das konsequent ausformulierte Drama seinem Publikum zuführen, ohne ihn auf Distanz zu halten. Dabei liefern Farbgebung und das Komponieren von Licht und Schatten eine phantastische, neoromantische Stimmung, die an Del Toros frühere Werke erinnert (v. a. The Devil’s Backbone). Erstaunt und überrascht könnte man sich trotzdem zeigen, wenn am Höhepunkt des Treibens dunkler Gier die philippinische, natürlich gediegenere Variante von Evil Dead Rise den Horror aus dem Nebenzimmer lockt, der sich mit denen des Krieges und verachtender Menschenseelen bestens versteht. Dann passiert plötzlich vieles auf einmal, und In My Mothers Skin wird zur metaphysischen, beinahe nihilistischen Tragödie, die bis zur letzten Konsequenz tunlichst vermeidet, tröstende Tabus einzuhalten. Der Tod mäht mit breiter Sense und erwischt dabei die Häupter eines aus Gebeten errichteten Katholizismus. Die Finsternis ist stark, aber vielleicht doch nicht unbezwingbar in diesem dunklen Märchen, gnadenlos schön und blutig.

In My Mother’s Skin (2023)

Vincent Must Die (2023)

HIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK

6/10


vincentmustdie© 2023 goodfellas.film


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: STÉPHAN CASTANG

DREHBUCH: MATHIEU NAERT

CAST: KARIM LEKLOU, VIMALA PONS, FRANÇOIS CHATTOT, KAROLINE ROSE SUN, EMMANUEL VÉRITÉ, MICHAEL PEREZ, HERVÉ PIERRE, RAPHAËL QUENARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Eines der wichtigsten Punkte auf der Verhaltensagenda, will man zu den in Zentralafrika lebenden Gorillas aufbrechen, ist folgende: Sieh einem Silberrücken niemals in die Augen, er könnte es als Provokation auslegen und als nächste Konsequenz seinen Status gefährdet sehen. Was das bedeuten würde, muss ich hier gar nicht näher erläutern. Nur: es würde der Gesundheit schaden, fehle der Respekt. Schließlich ist man in seinem Revier, unwillkommen, aber geduldet.

In Zeiten wie diesen ist Homo sapiens, der ja ebenfalls zu den Primaten zählt und irgendwie doch auch mit Menschenaffen, wie wir sie kennen, verwandt ist, auf Impulse von außen hochfrequent eingestellt, wie ein Metalldetektor, der jedes noch so letztklassige Erz im Acker verorten soll. Überstrapaziert, überreizt und traumatisiert, kombiniert mit Trunkenheit oder sonstiger künstlich zugeführter Beeinträchtigung, fehlt nicht mehr viel, um dem Gegenüber, das allein schon durch seine blanke Anwesenheit einen Affront für den anderen darstellen könnte, eine reinzuhauen. Bei Widerworten könnte, wie vor kurzem in einer Wiener U-Bahn, der erste Hieb nur der Anfang sein. Zum Glück ist das Opfer mit dem Leben davongekommen, und derjenige, der dieses in schierer Rage halbtot geprügelt hat, hinter Schloss und Riegel gelandet. In einer überreizten Gesellschaft scheint auch die tragikomische Endzeitmetapher Vincent Must Die zu spielen, obwohl es danach aussieht, als wäre dort alles nur Alltag, und unser Protagonist, angestellt als Grafiker in einer Werbeagentur, versucht nur, wie wir alle, sich manche Wochentage schönzureden und Kollegen mit augenzwinkerndem Humor zu begegnen. Das hätte er besser nicht tun sollen.

Nachdem Triezen eines Praktikanten rastet dieser aus und knallt Vincent seinen Laptop ins Gesicht. Hätte ihn keiner zurückgehalten, würde Vincent nicht nur ein blaues Auge davontragen. Kurze Zeit später wieder: Ein anderer Kollege sieht sich gezwungen, dem sowieso schon in Mitleidenschaft gezogenen Angestellten einen Kugelschreiber ins Handgelenk zu rammen. Nochmal Aua. Wie es dazu kam, kann sich der Täter selbst nicht erklären. Doch diese Verhaltensanomalien sind erst der Anfang einer kollektiven Psychose, die sich als impulsiver Drang manifestiert, Vincent ans Leder zu wollen, egal mit welchen Mitteln. Der Anflug von Paranoia, den das auserkorene Opfer zwangsläufig entwickeln muss, weicht bald einer objektiven Gewissheit, denn Paranoia ist ja schließlich nur die Wahnvorstellung davon, dass es alle anderen auf einen selbst abgesehen haben.

Während Woody Allen in seiner Episodenkomödie To Rome with Love einen ganz normalen Mann von heute auf morgen zu einem Star macht, den die ganze Welt vergöttert – saukomisch interpretiert von Roberto Benigni – passiert in Vincent Must Die die Totalumkehr. Von heute auf morgen ist Vincent der Gehetzte. Eine spannende Prämisse für einen pathologischen Psychothriller, der darauf baut, sich erstmal so anzufühlen, als wäre er ein Vexierspiel, in welchem vielleicht gar nichts so ist, wie es scheint. Dass Stéphan Castang dann die Kehrtwende hinlegt und das Horrorszenario einer Zombie-Apokalypse variiert, auch das gefällt. Doch obwohl das alles so richtig kurios klingt, weicht sich die beklemmende Tragikomödie, bei der man anfangs wirklich nicht so genau weiß, ob man lachen oder sich fürchten soll, zusehends auf zu einem stringenten Survivaldrama, das auf konventionelle Bahnen gerät, obwohl, wie man zwischendurch immer wieder merkt, es das eigentlich gar nicht will. Nur wie man mit einem Auto auf unasphaltierten Straßen zwangsläufig in die Spurrinnen der Vorgänger hüpft, gerät auch Castang auf die vielbefahrene Schneise. Dann tritt Vincent Must Die etwas auf der Stelle; man erahnt auch, was als nächstes kommt, man vermutet ohnehin schon, dass der Mut zu einer Radikalität, die vielleicht verstörend wäre, zugunsten sozialer Interaktionen, die wir alle natürlich begrüßen, weil wir uns damit wohler fühlen, weichen muss.

Nichtsdestotrotz weiß das mysteriöse Verhaltens-Drama ganz genau, wie es seine Allegorie zu setzen hat – und wofür Vincent Must Die eigentlich die Lanze bricht: Für ein Ende sinnloser Gewalt, denn welche andere gibt es denn sonst noch außer jene, die zwar Argumente ins Feld führt, um legitimiert zu werden, letzten Endes aber vermieden werden kann. So grund- und sinnlos hier der eine auf den anderen eindrischt, den Schädel gegen die Kühlerhaube des Autos donnert oder sein Opfer in der Jauchegrube zu ersticken versucht (hoher Ekelfaktor!), so sinnlos ist auch das Leid, das der Mensch dem Menschen tagtäglich zufügt. Aus dieser wechselwirkenden Spirale auszubrechen, scheint unmöglich. Wenn der Blick in die Seele des anderen der Auslöser dafür ist, seiner Aggression freien Lauf zu lassen, ist das letzte Kapitel geschrieben, die Hoffnung verloren. Wie in Bird Box könnte das oberste Gebot dann lauten: Schließe deine Augen, um nicht dir selbst, sondern mir nicht wehzutun.

Vincent Must Die (2023)

The Belgian Wave (2023)

WENN MAN NUR GLAUBEN KÖNNTE, WAS MAN SIEHT

8/10


thebelgianwave© 2023 Adrien Vidal-Berthaud


LAND / JAHR: BELGIEN 2023

REGIE: JÉRÔME VANDEWATTYNE

DREHBUCH: JÉRÔME DI EGIDIO, KAMAL MESSAOUDI & JÉRÔME VANDEWATTYNE

CAST: KARIM BARRAS, KAREN DE PADUWA, DOMINIQUE RONGVAUX, SÉVERINE CAYRON, VINCENT TAVIER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN 


Wisst ihr was, ich denke jetzt auch mal ein bisschen quer und oute mich hier vielleicht als einer, der es durchaus in den Bereich des Möglichen verortet, dass Besucher von außerhalb seit jeher schon unser Radar stören, doch komme ich nicht umhin, folgende Conclusio zu ziehen: Selbst wenn alle Fernsehanstalten live auf Film bannen würden, wie eine fliegende Unterasse zur Landung ansetzt, Aliens da rausmarschieren wie seinerzeit bei Steven Spielberg und völlig von den Socken befindlichen Erdlingen die Hände schütteln – selbst wenn es so wäre, dass es keine Zweifel gäbe angesichts der Beweise, die im Zuge eines solchen offiziellen Besuches angesammelt werden könnten, wird es immer noch eine Fälschung sein. Das sind doch nur Special Effects, sagt selbst der von Karim Barras dargestellte Elzo Durt in vorliegendem Film, weil er einfach nicht glauben kann, was er sieht. Weil es niemand akzeptieren kann. Und niemand jemals akzeptieren will. Weil, frei nach Christian Morgenstern, nicht sein kann, was nicht sein darf. Vielleicht ist dieses Verhalten in der Natur des Menschen verankert, eine natürliche Hemmung oder instinktgetriebene Skepsis.

Die beiden peruanischen Mumien mit einem Alter von schätzungsweise tausend Jahren, die Mitte September dem mexikanischen Parlament präsentiert wurden, sehen als extraterrestrische Humanoide zwar ein bisschen künstlich aus, doch vielleicht täuscht der Eindruck nur und da ist doch mehr dran als uns das ablehnende Feedback des globalen Publikums glauben machen will. Vielleicht ist der Drang zum Fake-Glauben doch nur eine Art Selbsterhaltung zur Unterdrückung einer Panik, die zwangsläufig aufkommt, würde allen klar werden, dass es Lebewesen gibt, die uns hunderte, wenn nicht gar tausende Jahre voraus sind.

Selbst die UFO-Welle rund um die Wende von den Achtzigern in die Neunziger wird von Skeptikern längst als Massenphänomen abgetan, als verstärkter psychologischer Prozess aufgrund der vielen Medienberichte, die von fliegenden Dreiecken berichtet hatten – mit Lichtpunkten an ihren Ecken und in der Mitte ein farblich oszillierender vierter Spot. Unabhängig voneinander gaben tausende Augenzeugen verblüffend Ähnliches wieder. „I want to believe“ heisst es bei Akte X – diesen Leitsatz kann man gut und gerne überall da anwenden, wo man gerne hätte, es wäre eine Art Wahrheit dahinter. Der belgische Filmemacher Jérôme Vandewattyne möchte auch so gerne glauben. Und noch viel mehr. Er möchte glauben, und seine eigene Version des Ganzen dazuerfinden. Er möchte sein ganzes investigatives Abenteuer mit Referenzen und Zitaten, mit Drogen, Schwarzlicht und Found Footage ergänzen. Entstanden ist The Belgian Wave, der vielleicht ungewöhnlichste, vielleicht auch auf unberechenbare Weise verstörendste und absurdeste UFO-Film, den ich bislang gesichtet habe (wenn man die Serie UFO aus den 70ern mal aussen vor lässt). Science-Fiction meets Fear and Loathing in Las Vegas, da man Mysterien vielleicht nur unter dem begleitenden Konsum des richtigen Stoffs auf den Grund gehen kann.

The Belgian Wave beginnt wie eine Doku. Vandeywette pulvert jede Menge Archivmaterial von damals in seinen Film, ergänzt diese auch mit Fake-Berichterstattungen, so genau auseinanderhalten lässt sich das nie. Und dann sind sie unterwegs, dieser Elzo Durt, der den Namen eines belgischen Künstlers trägt, und die Journalistin Karen – ein ungleiches Scully & Mulder-Gespann, jedoch nicht arbeitend fürs FBI, sondern sich selbst verpflichtet. Sie suchen Elzos Patenonkel, Marc Vaerenbergh, der im Zuge seiner UFO-Recherche plötzlich spurlos verschwand. Sie tun das in einem pinkfarbenen Ghostbusters-Vehikel, nur ohne Sirene, mit jeder Menge Mikrodosen Drogen aus der Spritzpistole und einer Liste von potenziellen Zeugen, die vielleicht etwas wissen könnten. Die Sache gerät schnell aus dem Ruder, wie Johnny Depp und Benicio del Toro wissen beide bald nicht mehr, was sie glauben sollen und was nicht, was real ist oder nur Special Effects, die vielleicht im Kopf entstehen, Dank gewisser Substanzen. Dennoch verliert The Belgian Wave bei all des exaltierten Verschwörungswahnsinns niemals die Kontrolle. Das geordnete Chaos beginnt, seinen Zuseher, in diesem Fall mich, mit hineinzuziehen, doch das nur unter dem einzuhaltenden Gebot, nichts und gleichzeitig alles zu erwarten. Es kommt wie es kommen muss und das fantastische Füllhorn an grotesker Überzeichnung und mysteriösem Alien-Thrill ist so, als hätte man M. Night Shyamalan während des Drehs von Signs – Zeichen unentwegt zum Lachen gebracht. Humor trifft auf Schrecken, die Grenzen der Wahrnehmung werden neu arrangiert.

Es ist ein Piratenfilm, das sagt der Regisseur und seine Darstellerin Séverine Cayron, die nach dem Screening noch so einiges Pikantes aus dem Nähkästchen erzählt haben. Ein Film mit kaum Budget, dafür mit jeder Menge Vision. Manches mag dabei vielleicht nicht ganz korrekt abgelaufen sein, doch was tun, wenn die Lust an der Filmkunst alle übermannt. Das Potpourri in The Belgian Wave ist meisterlich getaktet, so unterschiedlich all die Komponenten auch sein mögen. Filme, die überraschen, wie eben dieser, sind selten. Filme, von denen man nicht weiß, was sie sind, das Beste, was einem passieren kann. Wenn man nachher selbst das Gefühl hat, einem Trip ausgesetzt worden zu sein, den andere Mächte steuern, dann ist die Summe seiner bizarren Teile ein überwältigendes Endergebnis. Allerdings muss man es zulassen – und überrascht werden wollen.

The Belgian Wave (2023)

Femme (2023)

VOM MANN, DER SEINER FRAU STEHT

7,5/10


femme© 2023 BBC / Agile Films


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: SAM H. FREEMAN & NG CHOON PING

CAST: NATHAN STEWART-JARRETT, GEORGE MACKAY, JOHN MCCREA, AARON HEFFERNAN, ANTONIA CLARKE, NIMA TELEGHANI, MOE BAR-EL U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Damit hatten schon Albert und Renato in Ein Käfig voller Narren kämpfen müssen: Mit der gesellschaftlichen Akzeptanz durch alle Schichten, vor allem durch jene, die sich’s längst gerichtet haben und aufgestiegen sind zum Kulturattachée, wie der Vater der jungen Andrea, die ein Auge auf Renatos Sohn geworfen hat. Beide wollen heiraten, und um sich gegenseitig kennenzulernen, muss der schwule Besitzer eines Nachtclubs die versnobten Eltern zum Dinner laden. Liebling Alberto, Dragqueen bar excellence und längst eine Diva, ist gar nicht davon begeistert, ist er doch nicht mal willkommen und muss stattdessen zusehen, wie Renatos Exfrau seinen Platz einnimmt. Es wird klar: Als Dragqueen hatte man schon damals keine Chancen auf Akzeptanz. Und Schwulsein war etwas, das man hinter verschlossenen Türen praktiziert hat, ohne auch nur im Traum daran zu denken, sich irgendwo auf offener Straße zu committen.

Jean Poirets Theaterstück hat diese bedenkliche Inakzeptanz in einen zeitlosen Komödienklassiker verpackt, der zwar vordergründig ordentlich Lacher lukriert, in Wahrheit aber gesellschaftliche Defizite aufzeigt, die auf Kosten von Toleranz, Respekt und sexueller Freiheit ihr Unwesen trieben. Dabei hat der Job einer Dragqueen gar nichts mit sexuellen Präferenzen zu tun. Es können sich auch Hetero-Männer in den Fummel werfen, solange es Spaß macht und Frau die Bühne rockt – Why not? Meistens jedoch, und jedenfalls hier, im immersiven Beziehungsthriller Femme, ist der Star unterm Rampenlicht ein homosexueller Mann namens Jules, der die mit Verve und Stilsicherheit ausgestattete Aphrodite Banks zum Leben erweckt – mit Rasta-Mähne, eleganter Mode und perfekt sitzender Choreografie. Die Besucher toben, und wenn Aphrodite auftritt, gibt’s Glanz und Glamour. Nicht so außerhalb des Clubs. Denn da gibt’s Leute, die Dragqueens nicht mögen. Wie zum Beispiel der aggressive, Gift und Galle spritzende Preston, der anfangs die Gunst von Jules, immer noch gekleidet als Frau, auf sich zieht, was ihm gar nicht behagt. Wenig später, beim Zigarettenholen, passiert das Unausweichliche: Jules wird von Preston und seiner Gang angegangen, zusammengeschlagen und nackt und gebrochen auf der Straße liegengelassen. Ein Akt aus purem Hass. Jules aka Aphrodite wird diese Gesichter niemals vergessen, schon gar nicht das des Rädelsführers. Als Jules diesen in der Schwulensauna Monate später wiedererkennt, plant er, sich ihm anzunähern. Aus Rache, aus Neugier, wer weiß das schon so genau. Vor allem, um diesem Gewalttäter eine Lektion zu erteilen.

Als Revenge-Thriller würde ich Femme nicht unbedingt bezeichnen wollen. Diese Kategorisierung macht es sich zu einfach. Der auf der diesjährigen Berlinale erstmals präsentierte Film von Sam H. Freeman und Ng Choon Ping lässt sich schwer in eine Genre-Schublade stecken. Natürlich trägt er die Anzeichen eines Thrillers, doch diese sind versteckt, subtil, finden sich stets in einer diffusen, von Spannungen aufgeladenen Atmosphäre wieder, aus der sich alles entwickeln kann. Eine weitere gewaltsame Auseinandersetzung zum Beispiel, oder ein gelungenes Vabanquespiel, denn nichts anderes hat Jules im Sinn. Er will in Prestons Leben Platz gewinnen, so erniedrigend dies auch manchmal sein mag, insbesondere beim Sex. Da niemand weiß, dass Preston selbst schwul ist, scheint ein erzwungenes Outing die beste Methode, um ihn dranzukriegen. Wie sich diese Liaison aus Gehorchen und dem Sabotieren von Gefühlen letztlich entwickelt, bleibt fesselnd, nicht zuletzt aufgrund der eindringlichen Performance von Nathan Stewart-Jarrett (Dom Hemingway, Candyman). Ob dieser tatsächlich schwul ist oder nicht, braucht ja niemanden zu interessieren, denn im Gegensatz zu den Meinungen vieler „Wokisten“ ist Schauspielern nun mal die Kunst, in andere Rollen zu schlüpfen, eben auch in jene von Leuten, die sexuell anders orientiert sind. Wie auch immer Stewart-Jarretts Privatleben aussieht: als gekränkter, seelisch verletzter Mann, der wieder zurück zu seinem Selbstwert gelangen möchte und dabei die Ursache seiner Niederlage analysiert, um sie dann auszuquetschen wie eine Zitrone, spielt der charismatische Künstler auf der gesamten emotionalen Klaviatur, und das mit mimischer Akkuratesse, ohne nachzulassen und ohne vielleicht zu dick aufzutragen, mit Ausnahme des Makeups.

Diese Meisterleistung teil sich Stewart-Jarrett mit George McKay, den wir alle schließlich auch Sam Mendes 1917 kennen und der auch mal gerne ambivalente Rollen spielt, wie zum Beispiel diesen Ned Kelly im wüsten Australien-Western Outlaws. Als tätowierter Grenzgänger in steter Gewaltbereitschaft, mit unverhandelbaren Prinzipien und dann plötzlich wieder verletzlichem Charme ist das wohl eine der besten Darbietungen seiner Karriere. Beide ergänzen sich prächtig: beide entwickeln einen Sog aus psychologischer Manipulation, Freiheitskampf und Selbstbehauptung, dabei isolieren Freeman und Ping ihre beiden Akteure von allem anderen Beiwerk, rücken so nah wie möglich heran und bleiben stets so konzentriert, als würden sie durch ein Zielfernrohr blicken.

Doch wenn Femme schon kein klassischer Revenge-Thriller mit Bomben, Granaten und Shootouts ist, so ist er zumindest der Film Noir unter den queeren Filmen – grobkörnig bebildert, direkt und authentisch. Und düster genug, um nicht auf ein Happy End zu hoffen.

Femme (2023)

River (2023)

ZEIT IM (ÜBER)FLUSS

8/10


river© 2023 Tollywood Studio Project


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: YUNTA YAMAGUCHI

DREHBUCH: MAKOTO UEDA

CAST: RIKO FUJITANI, YUKI TORIGOE, MANAMI HONJÔ, GÔTA ISHIDA, YOSHIMASA KONDÔ, SAORI, SHIORI KUBO, MASAHIRO KUROKI, KOHEI MOROOKA, MUNENORI NAGANO, HARUKI NAKAGAWA U. A.

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Zwei Minuten vor, zwei Minuten zurück. Es sind immer zwei Minuten, mit denen Junta Yamaguchi machen kann, was er will. Unter Garantie sind diese Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft, da kommt noch mehr, viel mehr. Das wiederum werden wir erst in ein paar Jahren erfahren, diesmal aber hält sein herzallerliebster Mindfuck einige Zeit vor, denn was man aus River alles mitnehmen kann, ist erstens mal Feel-Good jede Menge, ein immer wiederkehrendes nachhaltiges Kichern auf den Lippen und obendrein die idyllische Romantik einer zarten Sympathie zwischen Mikoto und Taku, einem Koch, der unbedingt nach Frankreich auswandern will, weil die French Cuisine ihn ruft.

Die bezaubernde Riko Fujitani, bereits bekannt aus Yamaguchis Vorgängerfilm, gibt die in schickem Kimono gekleidete Hotelangestellte eingangs erwähnten Namens in einem Etablissement irgendwo in den Bergen Japans, an einem Fluss namens Kibune gelegen. Ein Ort der Ruhe und der Kraft – beschaulich, bescheiden, den Weltschmerz allüberall auf der Welt vergessen lassend. Mikoto ist aber dennoch nicht ganz zufrieden mit ihrem Leben – und erhofft sich vom Gott des Flusses (oder wer oder was hier auch immer den Laden schmeißt) zumindest einen Beistand, was die Zeit betrifft – möge der Moment so bleiben, wie er ist. Gebetet und erfüllt scheint der Wunsch. Mikoto findet sich nach zwei Minuten des Tuns plötzlich an derselben Stelle wieder, an der sie vorhin gestanden hat, direkt am gluckernden Bächlein. Was den Eindruck eines Déjà-vu vermittelt, ist letzten Endes mehr. Es betrifft alle – Mikoto, die Köche, die Gäste, das ganze Hotelpersonal. Alle zwei Minuten stellt sich die Welt auf Repeat, alle Charaktere „respawnen“ dort, wo sie vor zweimal 60 Sekunden gewesen sind. Was tun mit dieser Zeit? Und wie aus dieser hängengebliebenen Schallplatte des Lebens ausbrechen? Andererseits: Was lässt sich in diesen zwei Minuten alles bewerkstelligen, wie sehr könnte man in dieser Zeit seinen Status Quo überdenken? Und würde die Liebe Mikotos dann nicht ewig währen?

Seinem 2020 mit spielerischem Entdeckerdrang entworfenen Zeit- und Raumexperiment Beyond the Infinite Two Minutes ist der Platz in den Annalen des Science-fiction-Films sicher. Die Verknüpfung von humoristischer Neugier, Situationskomik und populärwissenschaftlicher Logik ist längst schon ein Subgenre, das man Yamaguchi nicht mehr nehmen kann. Mit dem Enthusiasmus von Zurück in die Zukunft und japanischer Boulevardkomödien wird der Blick in die zeit voraus allen Anwesenden fast zum Verhängnis. In River besteht in erster Linie nicht die Frage nach dem Warum, sondern erstmal viel mehr nach dem Was jetzt. Yamaguchi braucht in dieser warmherzigen und auf überwältigende Weise bezaubernden, weil so bescheidenen Komödie nichts weiter tun, als auf seinen zwei Minuten zu beharren. Was sein Ensemble daraus macht, ist voll von zum Niederknien komischen Momenten und leidenschaftlicher Situationskomik. Die beiden Geschäftspartner, die immer wieder ihre volle Reisschüssel vor sich haben. Der Produzent, der nicht aus seiner Dusche kommt. Dessen Schreiberling, ein Serienautor, der die zwei Minuten nützt, um alles Mögliche anzustellen, nur nicht seine Schreibblockade zu lösen.

Beschwingt und voller Ideen setzt Yamaguchi hier vermehrt auf das Zwischenmenschliche, auf die soziale Interaktion und das Herzliche. War in seinen Beyond the Infinite Two Minutes viel mehr die mathematisch-philosophische Schabernack im Mittelpunkt, ist der sogenannte Time Loop fast schon Nebensache, ganz so wie in Und täglich grüßt das Murmeltier, ein viel zitierter Genreklassiker als Mutter aller Zeitschleifenfilme. River aber variiert diese Prämisse so sehr, um sich längst nicht mehr den Vorwurf der Nachahmung anhören zu müssen. River lässt allesamt alles nochmal erleben, während Bill Murray der Einzige war, der immer wieder dieselben Stunden mit neuem Sinn füllen musste. Durch diese Änderung der Parameter ist River ein komplett eigenständiges, originäres kleines Kunstwerk der Mindfuck-Komödie, die man auch nur sehr schwer nachverfilmen kann. Zu sehr ist das Werk mit japanischem Lokalkolorit verbunden, zu sehr bilden seine Charaktere mit dem einmal verschneiten, einmal frühlingshaften Ort Kibune eine Einheit. Es ist ein Genuss, Minute für Minute diesen bestens aufgelegten Zeitschleifenbewältigern dabei zuzusehen, wie sie ihr Leben trotz temporärer Einschränkung in den Griff bekommen wollen. Man könnte meinen – so kurz unsere Existenz auch sein mag: Der Spaß an der Sache lohnt sich selbst für zwei Minuten.

River (2023)

Tiger Stripes (2023)

AUS DEM DSCHUNGELBUCH DER ADOLESZENZ

7/10


tigerstripes© 2023 Jour2Fête


LAND / JAHR: MALAYSIA, TAIWAN, SINGAPUR, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, NIEDERLANDE, INDONESIEN, QATAR 2023

REGIE / DREHBUCH: AMANDA NELL EU

CAST: ZAFREEN ZAIRIZAL, DEENA EZRAL, PIQA, SAHEIZY SAM, JUNE LOJONG, KHAIRUNAZWAN RODZ, FATIMAH ABU BAKAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Filme aus Malaysia sind selten. Und wenn man sie zu Gesicht bekommt, meist Koproduktionen mit Ländern, die sonst auch so einiges im internationalen Kinogeschehen mitzureden haben. Das ist gut für Amanda Nell Eu, die mit ihrem Langfilmdebüt Tiger Stripes auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes den Hauptpreis der Kritikerwoche abräumen konnte. Gratulation, ein gewinnbringender Einstand, der hoffentlich so einige weitere Koproduktionen nach sich ziehen wird. Mit Tiger Stripes begibt sich die junge Filmemacherin in die malaysische Provinz irgendwo am Rande des Dschungels – was überall sein kann in diesem Land, denn es wuchert und gedeiht hier, wohin man auch nur blickt. Leicht kann es passieren, und nicht nur Nutztiere queren die Straßen, sondern auch mal ein Tiger, was wiederum den Verkehr zum Erlahmen bringt und das Volk aus den fahrbaren Untersätzen holt, damit diese ihren Tiktok-Account mit knackigen Reels füllen dürfen, den später junge Mädchen, in den Schulpausen auf den Mädchentoiletten versammelnd, abrufen können. Social Media hat dort längst das Zepter in der Hand, ein Smartphone hat fast eine jede, die Trends sind gefundenes Fressen, die Selbstinszenierung alles, wofür man den Rest des Tages opfern will. Doch wie das bei jungen Frauen eben so ist, sind manche früher dran in ihrer Adoleszenz als all die anderen. Die, die früher dran sind, haben die Arschkarte gezogen – sie müssen allen anderen vorleben, was später passieren wird. Größere Brüste sind nur ein Merkmal, die Monatsblutung das andere.

Dass die Geschichte der Menstruation eine Geschichte voller Missverständnisse gewesen sein soll, erklärte uns bereits schon in den 90ern das instruierte o.b.-Testimonial durch den Bildschirm in unsere Wohnzimmer hinein. Huch, was war das damals für ein Tabuthema. Und ist es immer noch, ganz egal, ob im Westen oder Osten oder sonst wo. „Wir müssen dich saubermachen, du bist schmutzig“, sagt Zaffans Mama, als diese das erste Mal in der Nacht zu bluten beginnt und ihr Laken wechseln muss. Ab diesem Zeitpunkt wird das junge Mädchen, das eben zu jenen gehört, die sowohl körperlich als auch geistig um einiges weiterentwickelt sind als ihre Kolleginnen, dieses gesellschaftliche Stigma nicht mehr los. Monatsblutung ist igitt, das wird so gelehrt, das wird so vermittelt. Wenn Zaffan unter der Dusche steht, ist das Blut nicht rot, sondern schwarz wie Dreck. Das Natürliche wird zum Unnatürlichen. Das „Opfer“, das die biologische Uhr fordert, ist nicht nur die Abstoßung der Gebärmutterschleimhaut, sondern auch die soziale Ausgrenzung. So passiert es, und Zaffan wird nicht nur aufgrund ihres frei ausgelebten Frau-Seins skeptisch beäugt, sondern auch aufgrund ihres periodischen Umstands gehänselt, gemobbt und links liegengelassen. Vieles ändert sich, im und am Körper eines Mädchens. Tiger Stripes macht daraus einen subtilen, fast schon ans Naive grenzenden Body-Horror, der allerdings keinen ekligen, fast schon verstörenden Schrecken verursacht wie zum Beispiel Julia Ducournaus Raw, sondern vielmehr einer metaphorischen Legendenbildung beiwohnt, die eng mit den Mythen Malaysiens verbunden zu sein scheint und einen fauchende, zähnefletschenden Hauptcharakter ins Feld führt, dessen Augen rosafarben glühen und der sich entweder den archaisch anmutenden Parametern einer wilden Natur hingeben muss oder durch die Distanz zu eben selbiger zugrunde geht.

Die junge Zafreen Zairizal liebt es in diesem Film, die junge Wilde zu geben. Ihre Lust am Tierischen ist ansteckend; ihr Drang, die Hijab abzulegen, das schwarze Haar offen zu tragen und ins rohe Fleisch eines Waldtieres zu beißen, scheinbar getrieben von impulsiver Improvisation. Amanda Nell Eu gab ihr hier mit Sicherheit so einige Freiheiten. Tiger Stripes überhöht auf dem narrativen Niveau einer Graphic Novel den biologischen Coming of Age-Aspekt zu einer Chronologie der Mutation vom Menschen zum Tier. Das Zugeständnis zur Natur des Menschseins wird gleichermaßen eine Abkehr davon, es ist eine Zwickmühle, in der die jungen Mädchen stecken, denn es wird sie alle ereilen, diese Verlockung, dieses Bewusstsein, dieser Drang, sich von den lächerlichen Konventionen der Gesellschaft abzukoppeln, bevor sie diese sowieso wieder mittragen müssen. Ja, es ist auch Pubertät, die da mitspielt. Und nein, es ist nicht Stephen Klings Carrie – Zaffan hat keine telekinetischen Fähigkeiten, findet ihr Heil nicht in der Rache, sondern in der eigenen Selbstbestimmung.

Dass der Weg zum Tigermädchen das eine oder andere Mal unfreiwillig komisch wirkt, ist nicht Zufall, sondern Absicht. Die spielerische Leichtigkeit des metaphysischen Gleichnisses, die ironische Darstellung der Erwachsenenklischees (der träge Vater, der besserwisserische Guru) und überhaupt der ganzen Situation entspricht auch den gekritzelten Lettern im Vorspann. Tiger Stripes ist eine energetische Satire auf das altbekannte Dilemma des Erwachsenwerdens – es bringt zwar nichts Neues aufs Tapet, hat aber eine Freude daran, die Gesellschaftsfähigkeit der weiblichen Natur aus südostasiatischer Sicht als genauso obsolet zu deklarieren wie anderswo auf der Welt. Auch im Westen.

Tiger Stripes (2023)