LOLA (2022)

DAS VERSCHWINDEN DES DAVID BOWIE

7,5/10


LOLA© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2022

REGIE: ANDREW LEGGE

DREHBUCH: ANDREW LEGGE, ANGELI MACFARLANE

CAST: STEFANIE MARTINI, EMMA APPLETON, RORY FLECK-BYRNE, HUGH O’CONOR, AYVIANNA SNOW, AARON MONAGHAN, NICK DUNNING U. A.

LÄNGE: 1 STD 19 MIN


Gerade sieht es so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen. Überall auf dem Planeten erstarren die rechten Lager, in Spanien wird bereits Kunst und Kultur zensiert, Europas Möchtegern-Faschisten werfen mit Begriffen wie Remigration um sich und nutzen die beschränkte Weltsicht der Bevölkerung, um diese mit Schlüsselwörtern zu ködern. Sind sie mal an der Macht, ist es zu spät. Die Anzeichen will keiner so recht bemerken, also währet den Anfängen, kann man an dieser Stelle nur sagen, wenn Freiheit und Menschenrechte die eigenen Werte anführen.

Wie immer bleibt zu wundern, wie sehr man sich täuschen kann. Und was alles möglich ist. Um Freiheit geht es im Ringen ums Dasein immer, und wären die Parameter nicht so gesetzt gewesen, wie sie letztlich zum Einsatz kamen, hätten wir eine Welt, die sich einer wie Phillip K. Dick bereits in seinem als Serie verfilmten Roman Das Orakel vom Berge zwischen Drogen und Paranoia ausgemalt hat: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten rund um den Erdball, insbesondere der Vereinigten Staaten. Eine Horrorvorstellung, die beklemmender nicht sein könnte. Ist die USA einmal unter der Fuchtel faschistoider Regenten, wäre Europa dies ebenso. Das Gefühl, jene Orte, an denen noch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit praktische Anwendung finden, immer mehr zusammenschrumpfen zu sehen, wird durch das irisch-britische Was-wäre-wenn-Szenario LOLA noch extra unterstützt. Als ob dies dringend nötig wäre, um die Hände vors Gesicht zu schlagen. Andererseits ist Andrew Legges Found Footage-Juwel eine deutliche Warnung davor, die entsprechenden Signale zu übersehen. Und die Aufforderung, sich selbst mal zu fragen, ob eine totalitäre Welt aus Strafen, Zensur und Unterdrückung wirklich das ist, was es zu wählen gilt.

Einen Film wie LOLA, den haben leider Gottes ohnehin nur Zuseher auf dem Radar, die bereits aufgeschlossen und tolerant genug sind für alles, was sie umgibt. Die innovative Zugänge zu brisanten Themen ebenso schätzen wie Nonkonformismus. Und die mit Philipp K. Dick, Science-Fiction und alternativen Realitäten so einiges anfangen können. Als Zeitreisefilm geht LOLA nur bedingt durch – viel mehr gewährt das nach der Mutter der beiden Schwestern Martha und Thomasina Hanbury benannte Orakel einen Blick in die mediale Zukunft der Welt. Mit diesem obskuren Konstrukt, das beide für den guten Zweck einzusetzen gedenken, lässt sich während des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1941, als die deutsche Luftwaffe England heimsucht, etliche Leben retten. Als Engel von Portobello gehen die Schwestern in die alternative Geschichte ein. Und die Geschichte selbst erfährt ihre Veränderung, weicht ab von dem, so wie wir es kennen. Und führt dazu, dass das britische Militär Wind davon bekommt.

Klar lässt sich so ein Ding wie LOLA dazu nutzen, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. All die Offiziere, Generäle und sonstigen Rangträger hätten wohl gut daran getan, sich zuallererst den Ausgang des Krieges vorhersagen zu lassen. Dann hätten sie gewusst, dass sich der Widerstand gelohnt haben, dass die Welt nicht dem Faschismus anheimfallen und eine liberale Ordnung Einzug halten wird. Doch der Wille, den Krieg gewinnbringend im Fokus zu behalten, führt letztlich zum Gegenteil. Was dann passiert, schnürt einem die Kehle zu. Wenn über den Dächern Londons  Hakenkreuzfahnen wehen und Hitler durch die Straßen der Stadt fährt. Wenn plötzlich David Bowie nicht mehr existiert, kein Bob Dylan oder Stanley Kubrick die Musik- und Filmwelt der kommenden Dekaden bereichern, stattdessen aber faschistoide Popmusik wummert, die so klingt, als wäre sie doch irgendwie von Bowie oder Elton John, es aber nicht ist, und wenn man genauer hinhört, in ihren Lyrics das Grauen heraufbeschwört, ist der Orwell‘sche Albtraum komplett.

Andrew Legge nutzt dabei die bereits etwas abgenutzte Stilmittel des Found Footage und schafft etwas vollkommen Neues. Das genreübergreifende, experimentelle Stückwerk aus Super 8-Tonfilmfragmenten, Standbildern und Archivmaterial, das eine alternative Wahrheit täuschend echt nachahmt, ist längst nicht nur eine Mockumentary, die das Spiel mit dem Determinismus variiert, sondern dazu noch eine glaubhaft dargebotene Dreiecksgeschichte mit einbezieht – und das, obwohl LOLA nur knappe 80 Minuten dauert. Trotz dieser Laufzeit entfaltet sich ein geradezu episches Drama voller Wendungen und lässt als prophetischer Thriller das Prinzip Verantwortung als Schlüssel zum Guten erkennen.

LOLA (2022)

The Belgian Wave (2023)

WENN MAN NUR GLAUBEN KÖNNTE, WAS MAN SIEHT

8/10


thebelgianwave© 2023 Adrien Vidal-Berthaud


LAND / JAHR: BELGIEN 2023

REGIE: JÉRÔME VANDEWATTYNE

DREHBUCH: JÉRÔME DI EGIDIO, KAMAL MESSAOUDI & JÉRÔME VANDEWATTYNE

CAST: KARIM BARRAS, KAREN DE PADUWA, DOMINIQUE RONGVAUX, SÉVERINE CAYRON, VINCENT TAVIER U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN 


Wisst ihr was, ich denke jetzt auch mal ein bisschen quer und oute mich hier vielleicht als einer, der es durchaus in den Bereich des Möglichen verortet, dass Besucher von außerhalb seit jeher schon unser Radar stören, doch komme ich nicht umhin, folgende Conclusio zu ziehen: Selbst wenn alle Fernsehanstalten live auf Film bannen würden, wie eine fliegende Unterasse zur Landung ansetzt, Aliens da rausmarschieren wie seinerzeit bei Steven Spielberg und völlig von den Socken befindlichen Erdlingen die Hände schütteln – selbst wenn es so wäre, dass es keine Zweifel gäbe angesichts der Beweise, die im Zuge eines solchen offiziellen Besuches angesammelt werden könnten, wird es immer noch eine Fälschung sein. Das sind doch nur Special Effects, sagt selbst der von Karim Barras dargestellte Elzo Durt in vorliegendem Film, weil er einfach nicht glauben kann, was er sieht. Weil es niemand akzeptieren kann. Und niemand jemals akzeptieren will. Weil, frei nach Christian Morgenstern, nicht sein kann, was nicht sein darf. Vielleicht ist dieses Verhalten in der Natur des Menschen verankert, eine natürliche Hemmung oder instinktgetriebene Skepsis.

Die beiden peruanischen Mumien mit einem Alter von schätzungsweise tausend Jahren, die Mitte September dem mexikanischen Parlament präsentiert wurden, sehen als extraterrestrische Humanoide zwar ein bisschen künstlich aus, doch vielleicht täuscht der Eindruck nur und da ist doch mehr dran als uns das ablehnende Feedback des globalen Publikums glauben machen will. Vielleicht ist der Drang zum Fake-Glauben doch nur eine Art Selbsterhaltung zur Unterdrückung einer Panik, die zwangsläufig aufkommt, würde allen klar werden, dass es Lebewesen gibt, die uns hunderte, wenn nicht gar tausende Jahre voraus sind.

Selbst die UFO-Welle rund um die Wende von den Achtzigern in die Neunziger wird von Skeptikern längst als Massenphänomen abgetan, als verstärkter psychologischer Prozess aufgrund der vielen Medienberichte, die von fliegenden Dreiecken berichtet hatten – mit Lichtpunkten an ihren Ecken und in der Mitte ein farblich oszillierender vierter Spot. Unabhängig voneinander gaben tausende Augenzeugen verblüffend Ähnliches wieder. „I want to believe“ heisst es bei Akte X – diesen Leitsatz kann man gut und gerne überall da anwenden, wo man gerne hätte, es wäre eine Art Wahrheit dahinter. Der belgische Filmemacher Jérôme Vandewattyne möchte auch so gerne glauben. Und noch viel mehr. Er möchte glauben, und seine eigene Version des Ganzen dazuerfinden. Er möchte sein ganzes investigatives Abenteuer mit Referenzen und Zitaten, mit Drogen, Schwarzlicht und Found Footage ergänzen. Entstanden ist The Belgian Wave, der vielleicht ungewöhnlichste, vielleicht auch auf unberechenbare Weise verstörendste und absurdeste UFO-Film, den ich bislang gesichtet habe (wenn man die Serie UFO aus den 70ern mal aussen vor lässt). Science-Fiction meets Fear and Loathing in Las Vegas, da man Mysterien vielleicht nur unter dem begleitenden Konsum des richtigen Stoffs auf den Grund gehen kann.

The Belgian Wave beginnt wie eine Doku. Vandeywette pulvert jede Menge Archivmaterial von damals in seinen Film, ergänzt diese auch mit Fake-Berichterstattungen, so genau auseinanderhalten lässt sich das nie. Und dann sind sie unterwegs, dieser Elzo Durt, der den Namen eines belgischen Künstlers trägt, und die Journalistin Karen – ein ungleiches Scully & Mulder-Gespann, jedoch nicht arbeitend fürs FBI, sondern sich selbst verpflichtet. Sie suchen Elzos Patenonkel, Marc Vaerenbergh, der im Zuge seiner UFO-Recherche plötzlich spurlos verschwand. Sie tun das in einem pinkfarbenen Ghostbusters-Vehikel, nur ohne Sirene, mit jeder Menge Mikrodosen Drogen aus der Spritzpistole und einer Liste von potenziellen Zeugen, die vielleicht etwas wissen könnten. Die Sache gerät schnell aus dem Ruder, wie Johnny Depp und Benicio del Toro wissen beide bald nicht mehr, was sie glauben sollen und was nicht, was real ist oder nur Special Effects, die vielleicht im Kopf entstehen, Dank gewisser Substanzen. Dennoch verliert The Belgian Wave bei all des exaltierten Verschwörungswahnsinns niemals die Kontrolle. Das geordnete Chaos beginnt, seinen Zuseher, in diesem Fall mich, mit hineinzuziehen, doch das nur unter dem einzuhaltenden Gebot, nichts und gleichzeitig alles zu erwarten. Es kommt wie es kommen muss und das fantastische Füllhorn an grotesker Überzeichnung und mysteriösem Alien-Thrill ist so, als hätte man M. Night Shyamalan während des Drehs von Signs – Zeichen unentwegt zum Lachen gebracht. Humor trifft auf Schrecken, die Grenzen der Wahrnehmung werden neu arrangiert.

Es ist ein Piratenfilm, das sagt der Regisseur und seine Darstellerin Séverine Cayron, die nach dem Screening noch so einiges Pikantes aus dem Nähkästchen erzählt haben. Ein Film mit kaum Budget, dafür mit jeder Menge Vision. Manches mag dabei vielleicht nicht ganz korrekt abgelaufen sein, doch was tun, wenn die Lust an der Filmkunst alle übermannt. Das Potpourri in The Belgian Wave ist meisterlich getaktet, so unterschiedlich all die Komponenten auch sein mögen. Filme, die überraschen, wie eben dieser, sind selten. Filme, von denen man nicht weiß, was sie sind, das Beste, was einem passieren kann. Wenn man nachher selbst das Gefühl hat, einem Trip ausgesetzt worden zu sein, den andere Mächte steuern, dann ist die Summe seiner bizarren Teile ein überwältigendes Endergebnis. Allerdings muss man es zulassen – und überrascht werden wollen.

The Belgian Wave (2023)

Trollhunter

MYTHEN, DIE WÜTEN

7/10

 

trollhunter1© 2011 Universal Pictures Germany

 

LAND: NORWEGEN 2011

REGIE: ANDRÉ ØVREDAL

CAST: OTTO JESPERSEN, GLENN ERLAND TOSTERUD, JOHANNA MØRCK, TOMAS ALF LARSEN U. A.

 

Was war das nicht für ein Hype rund um den Hexenhorror The Blair Witch Project? Viral Marketing par excellence, und so mancher dachte dabei wirklich, dass das gefilmte Rohmaterial authentisch ist. Ein neuer Stil war da plötzlich mehr als nur amatuerhafter Spuk, es waren diese Fake-Arrangements, die von da an das relativ zügig ausreizbare Found-Footage-Genre in die Welt des Kinos gesetzt hatten. Das mit der Wackelkamera, den gehetzten Kameraschwenks und dem permanenten Vergessen, auf der Flucht vor dem Grauen die Aufnahme zu unterbrechen, das hat sich mittlerweile schon des Öfteren in einer gewissen Redundanz verbissen. Noch mehr Laufmeter dahinziehenden Waldbodens mit Gekeuche und Gekreische aus dem Off waren danach wirklich kaum noch nötig. Irrtum – Cloverfield hat´s dem Publikum nochmal ordentlich gegeben. In Sachen Monsterhorror ein gewitzter Knüller. Und was die Amerikaner können, können die Europäer allerdings auch. Mit einer Mockumentary aus dem hohen Norden, in dessen Vorspann steif und fest behauptet wird, dieses Filmmaterial begutachtet und für echt befunden zu haben. So kann man sich in die Irre führen lassen, aber so kann man sich auch hingeben in eine alternative Realität, die so gerne möchte, dass es so mythische Wesen wie Trolle oder Zwerge tatsächlich gibt.

Gehen wir mal davon aus, es gibt sie. Oder gehen wir einmal davon aus, wir hätten nie geglaubt, dass es sie gibt, wären aber offen für stichhaltige Widersprüche – vorliegende, brisante Doku würde uns eines Besseren belehren, indem sie sich an die  Fersen eines Sonderlings heftet, irgendwo in der Unwirtlichkeit Norwegens, wo der Wald alles ist und teilweise auch so verlassen und wild wie in den entlegensten Gegenden Kanadas. Gut möglich, dass dieses Dickicht manch krypotozoologische Sensation verbirgt. Irgendwas ist da im Argen jedenfalls, so finden das drei Hobbyfilmer, die einfach so aus Neugier dem seltsamen Eremiten folgen, bis der trotz anfänglichem Widerstand klein beigibt – und geradezu bereitwillig über sein außergewöhnliches Tun als Trolljäger aus dem Nähkästchen plaudert – inklusive Feldforschung und handfesten Beispielen, wie denn so eine Trolljagd tatsächlich vonstatten geht.

Der norwegische Autorenfilmer André Øvredal hat sich da einen riesengroßen Spaß erlaubt, einen köstlichen Nerdfilm und Fantasy-Irrsinn sondergleichen, den Taika Waititi wohl nicht besser hinbekommen hätte. Sein 5 Zimmer Küche Sarg – eine Mockumentary über Alltagsvampire – ist so dermaßen überzeichnet, dass diese nur noch wenig dokumentarische Attitüden aufweist. Trollhunter zehrt ziemlich lange an der Reality-Gier des Zusehers, und setzt die Geduld der reichlich naiven Jungfilmer gehörig auf die Probe. Sie machen womöglich all die gleichen Fehler wie seinerzeit die Hexenjäger von Blair, aber diesmal haben sie wenigstens einen harten Kerl an der Seite, der mit Blitzlicht und Betonhammer auf die Pirsch geht. Dabei tut mir als eingefleischten Troll-Fan (nur echte Trolle, nichts au dem Internet) das Herz richtig weh, wenn es darum geht, diese Urviecher, die ihr Revier verlassen, allesamt erlegen zu müssen. Das muss doch nicht sein – oder doch? Zumindest darf die Menschheit niemals erfahren, dass es Trolle wirklich gibt, daher ist auch das Bildmaterial heiß begehrtes Ziel staatlicher Geheimdienste, die den Pionieren in Sachen realer Mythen und Monster ebenfalls auf den Fersen sind. Das ist spannend und kauzig, und die Ideen, die all die Spuren erklären, die diese mal befellten, mal dreiköpfigen, mal riesenhaften Knilche nun mal zwangsläufig hinterlassen, wirklich gut ausgedacht. Da sieht man Schutthaufen am Waldesrand oder Felsstürze gleich mit anderen Augen. Logisch, manches könnte ja auch ein Bär sein – aber was, wenn nicht? Øvredals Drehbuch hat da tatsächlich Hand und Fuß, und es passt verblüffenderweise wirklich vieles zusammen. Haarsträubend ist natürlich das Handeln der kleinen Menschleins angesichts dieser latenten Gefahr, die von den Riesen ausgeht, aber das ist eher wieder dem Subgenre des Slasher-Horrors entlehnt, deren Jumpscare-Benefits wohl bei aller Vernunft mager ausfallen würden. Trollhunter ist aber kein Horrorfilm; nichts, was Grauen erregt, sich aber an entdeckerfreudigem Suspense die Hände schmutzig macht, der seine Giganten gut getimt ins Bild rückt und wieder verschwinden lässt. Der weiß, wie Spannungsaufbau funktioniert, und sich das Beste und Größte bis zum Schluss aufhebt.

Es gibt ihn also vielleicht, diesen feuchten Traum aller Kryptozoologen, die sich an Nessie oder Bigfoot bereits jahrzehntelang die Zähne ausgebissen haben und vielleicht Lust auf Anderes bekommen, vielleicht mehr den Spuren frühmittelalterlicher Epen folgend, wie Beowulf und Grendel, wobei letzterer den Trollen in Øvredals Film sicherlich Pate gestanden hat. Kurzum: Trollhunter ist ein spinnertes Vergnügen zwischen Monstermuff und rettendem Sonnenlicht, trotz all der wirren Optik.

Trollhunter

Captive

OB STAR ODER NICHT, HOLT MICH HIER RAUS!

4/10

 

captive© 2012 trigon-film.org

 

LAND: PHILIPPINEN 2012

REGIE: BRILLANTE MENDOZA

CAST: ISABELLE HUPPERT, MERCEDES CABRAL, COCO MARTIN, MARIA ISABEL LOPEZ U. A.

 

Michael Haneke´s Muse und Grande Dame des neuen französischen Films, Isabelle Huppert, soll nach eigenen Angaben selbst nicht so gewusst haben, ob die abgerissenenen Philippiner mit Kalaschnikow und keifendem Auftreten nicht doch echte Piraten sind. Um die Verwirrung der Darsteller noch zu unterstützen, hat sich Regisseur Brillante Mendoza mit der Wahrheit nur allzu gerne zurückgehalten. Was die unbequeme wie beklemmende Atmosphäre am Set naturgemäß eskalieren ließ. Diese Methode ist eine Vorgehensweise, die visionäre Filmemacher ans Ziel ihrer Vorhaben führt, ungeachtet der Tatsache, die eigene Crew unnötig psychisch zu quälen, nur um Emotionen hervorzukehren, welche die Glaubhaftigkeit des Erzählten bis zur unerträglichen Ernüchterung eines Tatsachenjournalismus hochschraubt. Auch diese Art von Handwerk kann Kino sein – erfüllt aber dabei keinerlei Mehrwert für den Betrachter.

Captive ist die Reality-TV-Version einer Entführung, basierend auf Tatsachen, die um die Ereignisse des 11. September stattgefunden haben, und wo selbst sogar deutsche Staatsbürger von der islamistischen Terrorgruppe der Abu Sayyaf verschleppt wurden. Damals, so kann ich mich erinnern, hat der libysche Diktator Muhammar Al Gaddafi die Geiseln freigekauft. Das Erschreckende an so einem Martyrium: die Ungewissheit der unmittelbaren Zukunft. Brillante Mendoza spielt diesen Albtraum bis zur Grenze des Erträglichen aus – und kriecht mit seinem nüchternen Dokumentarismus tief in die Eingeweide des Zuschauers. Captive mag zwar inmitten der Exotik des philippinischen Archipels spielen, immer wieder, wie einst Terrence Malick in Der schmale Grat, auf die versteckte Biodiversität tropischer Gefilde schielen – die akribische Buchführung des Elends aus Warten, Bangen, Hoffen und Verzweifeln holt sich aus der Fülle der Natur ringsherum nicht den geringsten Nutzen, quält sich von Lichtung zu Lichtung, während die Gefangenen immer mehr verfallen, schreien und sich dem Schicksal fast schon in apathischer Agonie fügen.

Viel Fantasie braucht man bei diesem Terrodrama nicht, um sich ganz genau vorzustellen, wie es wohl sein könnte, selbst Opfer eines solchen Überfalls zu werden. Leute, die sich das eigene Fernweh zerstören wollen, können Captive getrost ansehen. Liebhaber südostasiatischer Inselwelten könnten für einige Zeit genug davon haben, unter Palmen am Strand zu wohnen. Mendoza zieht die Wurzel der Reiselust zwar relativ schmerzhaft, dafür aber umso nachhaltiger. Sein Purismus aber ist Kino, das zwar bewusst auf Parameter für die große Leinwand verzichtet, sich aber durch seine schale Nüchternheit weder den Geiseln noch den Geiselnehmern annähert. Als hätte jemand das Jahr der Gefangenschaft mit seinem Smartphone gefilmt, ohne zu interagieren. Wie Big Brother ohne Werbeunterbrechung, ein Dschungelcamp mitten in der Wildnis, samt lästiger Insekten, allerdings stets unter dem Damoklesschwert des drohenden Todes, also somit etwas anders als das Trash-TV bekannter Privatsender, im Grunde aber ziemlich ähnlich. Mendoza´s Film entbehrt nicht eines gewissen Voyeurismus des Leidens, dass in den hysterischen Ausbrüchen Isabelle Hupperts seine nervtötende Vollendung findet. Jedenfalls konnte ich nicht umhin, mich leicht beschämt zu fragen, warum ich mir diese gequälten Personen aus der Schlüssellochperspektive denn überhaupt ansehen muss. Vielleicht, weil ich mir ein zweites Captain Philipps erwartet hätte – eines der packendsten Geiseldramen überhaupt, weil klug erzählt und künstlerisch versiert. Während Captive nicht mehr ist als ein scheinbar echtes Found Footage, in Wahrheit aber nachgestellt wie ein investigativer Lokalaugenschein vergangener Ereignisse, denen ich als Gaffer auch nicht wirklich beiwohnen muss.

Captive