The Son (2022)

LIEBE ALLEIN REICHT NICHT

7,5/10


theson© 2022 Leonine


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, FRANKREICH 2022

REGIE: FLORIAN ZELLER

BUCH: FLORIAN ZELLER, CHRISTOPHER HAMPTON, NACH FLORIAN ZELLERS THEATERSTÜCK

CAST: HUGH JACKMAN, ZEN MCGRATH, LAURA DERN, VANESSA KIRBY, ANTHONY HOPKINS, HUGH QUARSHIE U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Vor zwei Jahren beeindruckte Sir Anthony Hopkins ungefähr so wie Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva In Michael Hanekes Liebe: als alter Mann, der zusehends unter Demenz leidet und dessen Leben immer mehr und mehr an Bodenhaftung verliert. Unbekannte Leute gehen in seiner Wohnung ein und aus, und plötzlich ist die eigene Tochter eine völlig fremde Person. Das gemütliche Wohnzimmer wird plötzlich zur Einrichtung in einem Pflegeheim, und der Vater muss sich am Ende fragen: Wer bin ich eigentlich? So erschütternd wie Felix Mitterers Sibirien, und so sehr jenseits gängiger Sehgewohnheiten konzipiert, dass man meinen könnte, einem Psychothriller beizuwohnen, so spannend gelingen hier einzelne Szenen, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Ein Drama aus der Sicht eines Demenzkranken inszenieren – das ist großes, bewegendes und auch verstörendes Kino. Dieses Jahr legt Florian Zeller ein weiteres seiner Theaterstücke nach, um es auf die Leinwand zu bringen: Vom Father geht es nun zum Sohn – wobei beide Geschichten nichts miteinander zu tun haben, obwohl Anthony Hopkins auch hier einen Patriarchen gibt, der aber völlig anders veranlagt ist als jene Figur aus 2021.

In The Son steht nicht nur Newcomer Zen McGrath im Mittelpunkt, als eben jener Filius, den Timothée Chalamet auch hätte spielen können, dessen Gesicht aber mittlerweile schon viel zu bekannt geworden ist, um einen so erfrischend unbeeinflussten Charakter zu interpretieren, wie McGrath es eben tut. Neben seiner Performance agiert Hugh Jackman als dessen Vater und erfolgreicher Anwalt, der schon bald die Karriereleiter noch höher hinaufsteigen könnte, wenn er nur wollen würde. Peter Miller, so nennt er sich, hat sich von seiner alten Familie getrennt und ein neues Leben angefangen. Mit neuer junger Frau (Vanessa Kirby grandios zurückhaltend) und frischem Nachwuchs im Windelalter. Alles wäre so perfekt, wie ein Leben nur sein kann – gäbe es da nicht auch noch den mittlerweile siebzehn Jahre alten Sohn aus erster Ehe, Nicholas. Natürlich, um diesen jungen Mann muss sich Papa natürlich auch kümmern, und so sucht Ex-Frau Kate (Laura Dern) Hilfe beim Vater ihres Sohnes, denn dieser scheint bereits über Monate hinweg die Schule zu schwänzen. Irgendetwas liegt da im Argen, und Peter soll sich der Sache annehmen. Das tut er auch, denn dieser will schließlich nicht so kaltherzig seine Karriere über alles andere stellen wie seinerzeit sein eigener Vater (Anthony Hopkins als egozentrischer Machtmensch). Kann sein, dass so eine dichte Agenda aus Arbeit und Privatem einen weltgewandten Menschen wie Peter nicht so schnell aus der Bahn werfen kann, doch dann will Nicholas bei Papa einziehen, um seinen Weltschmerz in den Griff zu bekommen. Was ist das für eine abstrakte Umschreibung, was treibt den jungen Mann bloß zu so düsteren Gedanken, die kurz davor sind, in suizidale Impulse überzugehen? Ganz klar: Nicholas leidet unter akuter Depression – einer Krankheit, die so abstrakt ist und sich so schwer fassen lässt, dass niemand sie so recht verstehen kann, wo keiner weiterweiß und wo die eigenen Eltern fest davon überzeugt sind, allein mit ihrer Liebe dem psychischen Schreckgespenst Herr werden zu können.

Wie bereits beschrieben, findet Florian Zeller jede Menge bekannte Gesichter für sein wahrlich intensives Drama, das sich nicht nur mit den psychologischen Folgen beschäftigt, wie sich der Zusammenbruch einer Familie vor allem auf junge Menschen ausprägt. Zeller geht einen Schritt weiter und betritt die unberechenbaren Symptompfade einer juvenilen Depression, mit der niemand, der nicht vom Fach ist, wirklich Herr werden kann. Jackman als aufrechter Vater, der tatsächlich alles richtig machen will, sieht sich selbst beim Scheitern zu – genauso wie Mutter Laura Dern, die das Befinden ihres Sohnes maßlos unterschätzt. Liebe allein reicht nicht – das sagt auch Nicholas‘ betreuender Arzt. Doch welche Eltern können da schon rational bleiben, wenn der Sohn so sehr um die intakte Dreisamkeit seiner Familie fleht.

The Son ist da natürlich viel weniger experimentell als The Father. Hier erzählt Zeller, unter Mitarbeit von Christopher Hampton, sehr stringent und nur mit wenigen Rückblenden aus Nicholas‘ jüngeren Jahren, von der Chronik eines Entgleitens und dem Ende elterlicher Kompetenzen. Eine weniger klassische Erzählweise würde vielleicht die schauspielerische Stärke des Ensembles ausbremsen, so aber baut die psychologische Entwicklung aller Beteiligten auf einer sich steigernden Storyline auf, die immer schwerer, verzweifelter und verheerender wird, bis der unvermeidliche Schlag in die Magengrube folgt. Wohin sich The Son zuspitzt, ist nichts für schwache elterliche Nerven, und ja, die unweigerliche und auch befürchtete Katastrophe lähmt sein Publikum. Die Schockstarre hält nach, und immer wieder hat man vor Augen, wie leicht alles hätte anders kommen können. Die Parameter für die Katastrophe legt Zeller aber viel zu offen aus, und es kann auch sein, dass alles viel zu unweigerlich in den Abgrund führt, weil Eltern vielleicht nur mit dem Herzen denken, und nicht mit dem Verstand. Selbst würde man natürlich alles anders machen. Und auch die nötigen Vorkehrungen treffen. Dieses Bewusstsein enthält Zeller seinen Film-Eltern leider vor, und daher mag es am Ende an plausiblem Verhalten doch etwas hapern. Der Wucht des Dramas nimmt dies aber nicht die bleierne Schwere, und die Faust des Schicksals haut dennoch zu. Als würde es einen selbst treffen.

The Son (2022)

Reminiscence – Die Erinnerung stirbt nie

FRÜHER WAR ALLES BESSER

5,5/10


reminiscence© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: LISA JOY

CAST: HUGH JACKMAN, REBECCA FERGUSON, THANDIWE NEWTON, CLIFF CURTIS, MARINA DE TAVIRA, DANIEL WU, MARTIN SHEEN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Es gab Zeiten, da saß man, mit aufgeschlagenem Fotoalbum am Schoß, auf der Couch und schwelgte in Erinnerungen anhand bereits schon leicht blaustichiger Fotografien, die die eigene Kindheit und Jugend oder einfach nur unvergessliche Momente dokumentierten. Oft sah man sich diese Alben gemeinsam mit anderen an, nicht selten fiel da die eine oder andere Anekdote. Ein herzliches Lachen, ein „Weißt du noch“… Dabei ist nichts gehaltvoller als das eigene Kino der Erinnerungen im Kopf. Denkt man zurück, erlebt man nicht nur die Emotionen nochmal durch, auch das Periphere, Physische. In nicht allzu ferner Zukunft – einer Zukunft im postklimatischen Zeitalter, nachdem der Meeresspiegel längst gestiegen, zum Beispiel die Halbinsel Florida überflutet und die Welt einen nicht näher definierten Krieg überstanden hat – scheint der Mensch in seiner Fähigkeit, sich zu erinnern, so ziemlich verkümmert. Die eigene Kraft der Imagination ist erschöpft, demzufolge gibt es allerdings Techniken, die es möglich machen, in die gedankliche Vergangenheit eines Menschen einzutauchen, damit dieser das Gewesene so erleben kann, als würde es gerade jetzt passieren. Klingt irgendwie nach etwas, das süchtig macht.

Hugh Jackman als Betreiber eines solchen Reminiscence-Salons kann hier täglich den im Wasser dahintreibenden Nostalgikern über die Schulter blicken, um nicht ganz ohne voyeuristischer Tendenz an den Erinnerungen fremder Menschen teilzuhaben. Eines Tages allerdings betritt eine geheimnisvolle Schöne den Laden, um eigentlich nur ihre verlegten Schlüssel zu finden. Aus dieser Begegnung wird natürlich mehr, und Rebecca Ferguson und Hugh Jackman erleben bald die schönsten Stunden und Tage ihres Lebens – bis die Dame verschwindet. Jackman macht sich natürlich auf die Suche – sowohl in seinen Erinnerungen als auch im versunkenen Miami. Und entblättert ein Netz aus Erpressung, Täuschung und Gier.

Lisa Joy, ihres Zeichens mitverantwortlich für den Erfolg der Science-Fiction-Serie Westworld, bleibt mit Reminiscence – Die Erinnerung stirbt nie ihrem Genre treu, verliebt sich aber zugleich in den Stil des alten Film Noir, in welchem sich unter anderem Robert Mitchum, Humphrey Bogart oder Lauren Bacall in obskuren Schicksalen verstrickten. Diese Affinität zum gediegenen Edelkrimi ist Fluch und Segen für diesen Film zugleich. Warum? Einerseits findet Joy ein schillernd-hypnotisches Setting für ihren Liebes- und Leidensweg, mit verlassenen Vergnügungsparks und pittoresken Straßenzügen in Art Deco – andererseits nimmt sie mit ihrer artig zurechtgeschriebenen Kriminalgeschichte der schwülstig-schwülen Stimmungs-Dystopie sehr viel innovativen Esprit. Kurz gesagt: Reminiscence gerät rein narrativ zu einer recht altbackenen, fast schon regressiven Geheimniskrämerei, in der Hugh Jackman mal mehr, mal weniger gut aufspielt. Letzten Endes lässt einen die tragische, aber recht banal wirkende Liasion zwischen den beiden vom Schicksal gebeutelten Stars auch relativ kalt, während man wohl selbst lieber zwischen dem neuen Venedig Floridas herumschippern würde, um so manchen dem Verfall preisgegebenen Monumenten von früher zu begegnen. So ein Erlebnis bliebe sicher gut in Erinnerung.

Reminiscence – Die Erinnerung stirbt nie

Mister Link – Ein fellig verrücktes Abenteuer

EIN AFFE UND GENTLEMAN

7/10

 

misterlink© 2019 eOne Germany

 

LAND: USA, KANADA 2019

REGIE: CHRIS BUTLER

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): HUGH JACKMAN, ZOE SALDANA, ZACH GALIFIANAKIS U. A.

DEUTSCHE SYNCHRO: CHRISTOPH MARIA HERBST, BASTIAN PASTEWKA, COLLIEN ULMEN-FERNANDES U. A.

 

Puppen kann man auf unterschiedlichste Art und Weise tanzen lassen. Muppets und Fraggles waren in diesem Fall Handfigur und Marionette zugleich. Rolf Rüdiger ist überhaupt nur Hand, und auch der Kasperl versteckt sich ungefähr um die Leibesmitte hinter einem Guckkasten. Anders die Puppen der Laika-Studios. Die haben weder Schnur, Hand oder Stange, die haben die Zeit auf ihrer Seite. Nämlich eine, die sich anhalten lässt, je nach Belieben. Das nennt man in Fachkreisen Stop-Motion, das ist die Methode, um leblose Puppen über oder durch Dioramen schreiten zu lassen, die mit Hingabe und bis ins Detail aufgeputzt sind. Von den welken Blättern des Waldes bis zur Miniaturzeitung, die in fürsorglich ausgestatteten Interieurs per Puppenhand durchgeblättert werden. Wenn man Filme von Laika sieht, sollte nicht vergessen werden, welche Leidenschaft, Akribie und auch nerdige Besessenheit dahintersteckt, im Zeitalter von CGI und Motion-Capture so etwas überhaupt noch auf die knorrigen Puppenbeine zu stellen. Weil Stop-Motion einfach ein Handwerk ist, ein perfektioniertes Handwerk, so wie das Malen von Bildern mit Pinsel und Pigment in Zeiten von Photoshop. Und bei Betrachten des fertigen Werks möge der Weg bis zum Ziel, der als Prozess alleine schon wieder ein eigenes Werk darstellt, nicht ganz in Vergessenheit geraten.

Unter diesen Gesichtspunkten lässt auch der ganz neue Streifen rund um einen Kryptozoologen und seinem Affenmenschen durchaus in Staunen versetzen, wenngleich nicht alles, was zu sehen ist, analogen Ursprungs ist. Wellenberge oder die Kulisse des Himalaya-Plateaus sind nur ein paar der ergänzenden Elemente, die natürlich am Rechner entstanden sind. Das macht aber nichts, CGI ist nicht zwingend etwas, dem der unangenehme Beigeschmack einer Mogelei anhaften sollte. CGI ist nicht minder eine Kunstform, und wenn sie wohldosiert dazu verhilft, die Illusion einer völlig autarken Puppenwelt zu vollenden, ist das ein Teamwork, das gelingt, solange der Computer dem Gebärden der erzählenden Figuren nicht die Show stiehlt. Keine Sorge, denn das passiert hier nicht. Die Charaktere, die sich in einem alternativen irdischen 19. Jahrhundert über die Evolutionslehre eines Charles Darwin wundern und Nessie auf der Spur sind, in der sich so was wie die National Geographic Society, die Elite der Weltenentdecker, auf arrogante Art über alle anderen stellt, haben in ihren wächsernen, spitznasigen und rotwangigen Gesichtern ein breites Repertoire an Ausdruck zu bieten. Und wenn Mr. Link dann die Lichtung betritt, findet ein herrlich feiner, distinguierter Humor Einzug auf der breiten Bühne eines Filmstudios, wo Kamerakräne ihre Runden drehen und hunderte Fingerspitzen all die herrlichen Kreationen antauchen, um sie fühlen, denken und träumen zu lassen.

Mister Link, der träumt davon, nicht mehr allein zu sein. Nachdem Mr. Lionel Frost nach seinem versemmelten Versuch, einen Beweis für Nessie zu erbringen, dem Brief eines Unbekannten nachkommt, der die Sichtung eines Sasquatch (Bigfoot, Skunk Ape, alles dasselbe) verspricht, muss er feststellen, dass das so genannte Missing Link über Sprache, abstraktem Denken und Höflichkeit verfügt. Auf dem gemeinsamen Weg nach Shangri-La, wo Mr. Link auf die winterfelligen Verwandten der Yetis zu treffen erhofft, müssen sie allerlei Abenteuer bestehen, muss der allzu menschliche Primat vieles zu wörtlich verstehen und für Krokodilstränen treibenden Humor verantwortlich sein, der den Film wohl zu einem der lustigsten Trickeskapaden der letzten Zeit werden lässt. Die Qualitäten von Mister Link liegen eindeutig beim missverständlichen Verständnis einer viel zu großen Welt, welcher der letzte seiner Art ausgesetzt sein wird. Mit ihm besteht ein erst egomanischer, dann geläuterter Möchtegern-Entdecker Abenteuer, die aus der Feder von Jules Verne kommen könnten. Altmodisch ist das, natürlich, und auch durch die Bank bekannt, was das Szenario natürlich sehr berechenbar und kaum zur Wiege dramaturgischer Wendungen macht. Mister Link ist, was es am besten kann, nämlich auf humorig vorgestrige Art ein Stück animiertes Reisekino zu sein, für Trickfilmfans und Familien, und jenen, die Phileas Fog, Charles Darwin und Russel Wallace gerne schon mal allgemeinbildene Achtung geschenkt haben. Vor Mister Link himself lässt sich nämlich auch bequem der Zylinder lüpfen, so einnehmend charmant ist der schräge evolutionäre Sonderling – mit mehr Manieren als manch ein Homo sapiens.

Mister Link – Ein fellig verrücktes Abenteuer

Logan – The Wolverine

ÜBER DIE KLINGEN GESPRUNGEN

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logan

„Ein X-Men-Drama, wie Sie es noch nie gesehen haben!“ So spricht Regisseur James Mangold vor der Premiere, um seinen neuesten Film zu promoten, an dessen Drehbuch er sogar selbst mitgeschrieben hat. Neben solchen Interviews und einem überzeugenden Trailer, der so richtig Endzeitstimmung erzeugt, hat man bei Logan – The Wolverine weitestgehend darauf verzichtet, einen Hype loszutreten, der dem Film womöglich nur geschadet hätte. Und tatsächlich war es gut so. Und tatsächlich – um auf den Kommentar Mangold´s zurückzukommen – ist der dritte und letzte Teil der Wolverine-Trilogie nicht nur die gelungenste Episode seiner Reihe, sondern auch neben The First Avenger: Civil War mit Abstand das Beste, was Marvel in letzter Zeit in die Kinos gebracht hat. Und ja – so haben wir Comics auf der Leinwand tatsächlich noch nicht gesehen.

Mangolds bittere Mutantenballade ist weit entfernt von einem martialischen Effektgewitter, wie es uns The Avengers oder der leider eher missglückte X-Men: Apocalypse dargeboten haben. Sein düsteres Endzeitepos erinnert viel mehr an die unterschwellig bedrohlichen Momente aus James Cameron´s Terminator II, an zynische Italowestern, dreckige Junkie-Dramen aus dem Independentkino oder gar an die Postapokalypse eines Mad Max. Hier fehlt, was man im Blockbusterkino sonst so an Bilderstürmen bewundern kann – und gerade durch diese Abstinenz und durch die Betonung von Schauspiel, Setting und Stimmung entwickelt sich ein packendes Actiondrama, dessen Sogwirkung man sich nur schwer entziehen kann. Mangold, Hugh Jackman und der stets angenehm intellektuell wirkende Patrick Stewart (ja, auch in seiner Altersrolle) vereinen sich vor allem in den ersten zwei Dritteln des Filmes zu einem nihilistischen Abgesang aller nur erdenklichen Heldenmythen. Die Mutanten sind bis auf wenige einzelne ausgerottet, die Besonderheiten einer Gen-Mutation sind einer faschistoiden Wissenschaft zum Opfer gefallen, die sich einer nationalsozialistischen Euthanasie verschrieben hat. Schlimmer kann es in Logan kaum mehr kommen. Und so ist auch unsere titelgebende Hauptperson am unteren Ende einer erfüllenden Restexistenz angelangt, gemeinsam mit Charles Xavier, dem großen Begründer der Mutantenschule, der nur noch vor sich hin fantasierend in einem abgewrackten Silo irgendwo im Nirgendwo versteckt wird und aufs Ableben wartet. Inmitten all der Sinnlosigkeit erweckt das junge, verstörte Mädchen Laura zwangsläufig neue Lebensgeister im Rest der alten Riege der X-Men. Und ähnlich wie der junge John Connor aus Terminator wird auch dieses besondere Kind von einer nicht einschätzbaren Übermacht bis an die Grenzen des Erträglichen gejagt. In diesem Fall ist es eine marodierenden Cyborg-Gang, die allem, was anders ist, ans Leder will. Wolverine und seine wenigen Leidensgenossen wehren sich bis aufs Blut – und dieses spritzt ungewöhnlich oft und sichtbar gurgelnd durchs Bild.

Logan – The Wolverine geht ans Eingemachte und erreicht in seinen brillant choreographierten Kampf- und Meuchelszenen die künstlerisch überhöhte, ultrabrutale Intensität des indonesischen Martial Arts-Thrillers The Raid. In der definitiv nichts für Zuseher jüngeren Geburtsdatums geeigneten Blutoper rollen Köpfe und dringen scharfgeschliffene Messerkrallen aus jedem nur erdenklichen Winkel in Gesicht und Körper. Das mag zwar für das X-Men-Universum ein völlig unerwartetes und unerhörtes Rating nach sich ziehen – James Mangold schafft seine Überhöhung der Gewalt perfekt in den Kontext seiner Erzählung einzubetten und in keiner Szene auch nur deren Notwendigkeit über Gebühr zu strapazieren. Quentin Tarantino gelingt dies ebenso. Auch Zac Snyder in 300 ist dies gelungen. Der sich ergießende Lebenssaft ist unverzichtbarer Protagonist des Fantasythrillers und ist wie bei The Raid vielmehr Gestaltungselement als trashiger Splatter. Wer das aushält, und sich dem schmerzhaften Schicksal seiner gestrandeten Figuren hingibt, wird mehr als belohnt. Das komplex erzählte, stringente und atmosphärische Requiem auf den Comic-Kult der X-Men ist ein durchdachtes, intimes Meisterwerk mit Symbolcharakter und hat vielleicht auch Pionierstatus. Findet der Film an den Kinokassen vor allem lukrativen Gefallen, könnten manch andere Nachzügler aus dem Comic-Genre vielleicht ganz anders aussehen als bisher und sich von ihrer mittlerweile stetigen Schablonenhaftigkeit verabschieden. Logan legt im erzählerischen Bereich für andere Regisseure die Latte höher als bislang und fordert geradezu auf, mehr Wert auf den Charakter ihrer „Helden“ zu legen als nur die volle Breitseite an kurioser Action zu verpulvern. Der sympathische Hugh Jackman ist wie immer vor allem grandios geschminkt, und die junge Schauspielerin Dafne Keen alias Mutantin Laura wird mit Sicherheit in Zukunft öfters auf der Leinwand zu sehen sein. Ihr wildes, ungestümes, natürliches Spiel ist beeindruckend und gibt dem wüsten, archaischen Roadmovie einen noch unberechenbareren Anstrich.

Wenn der Wolverine gegen sich selbst kämpfen muss, und das Treffen der Generationen einen Paradigmenwechsel im zukünftigen Paralleluniversum der Mutanten auslöst, ist der verletzliche, intime Kern der X-Men freigelegt. So berührbar und gleichzeitig unberührbar war schon lange kein Held mehr. So long, Logan!

Logan – The Wolverine

Eddie the Eagle

ÜBER DEN EIGENEN SCHATTEN SPRINGEN

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eddie

Könnt ihr euch noch an die kauzige Sportlerkomödie Cool Runnings erinnern? Das war doch die wahre Geschichte der vier Jamaikaner, die bei den Winterspielen in Calgary anno 1988 im Vierer-Bob den Eiskanal unsicher machten. Der legendäre John Candy war ihr Trainer. Ein Highlight des etwas anderen Sportlerfilmes, unpathetisch und warmherzig. Und kein anderer Film hat auch jemals wieder den olympischen Leitspruch „Dabeisein ist alles“ so sehr ernst genommen wie jener über die vier Schlitten-Rastafaris. Dieser Leitspruch übrigens wurde erstmals vom Sportfunktionär Pierre de Coubertin 1908 zumindest sinngemäß wiedergegeben. Nach dem selben Motto und ins selbe Fahrwasser – oder sagen wir – auf dieselbe Piste wagt sich auch die biografische Erfolgsstory von Michael Eddie Edwards – und bereichert das eher vor sich hin kränkelnde Genre des Sportlerfilmes um eine gelungene und unverkrampfte Episode.

Für jemanden, der relativ wenig Zeit vor dem Fernsehgerät verbringt, um sich von Fußball bis zu Weltcup-Abfahrtsläufen irgendeine Art von Sportaktivitäten anzusehen, muss ein Genrefilm dieser Art auch auf anderen Ebenen funktionieren, und sich nicht nur auf die Regeln des Spiels beschränken. In gewisser Weise ist dies Dexter Fletchers liebevoll erzählte Biografie vorzüglich gelungen. Und sie ist bei weitem nichts, was nur Freunde der Skisaison vor die Leinwand lockt – das aufgeweckte Drama ist eine angenehm unaufdringliche Hymne auf den Willen, auf einen Plan im Leben, auf Beharrlichkeit und Ehrgeiz. Mögen auch noch so viele Menschen über den Sonderling Michael Eddie Edwards den Kopf geschüttelt haben. Mögen auch noch so viele Neider und Besserwisser die Sturheit des Außenseiters als Narretei abgetan haben – meist ist es genau diese Narretei, die das eigene, individuelle, kleine Leben zur Erfüllung bringt. Und als Nebeneffekt des eigenen Traumerfüllens bleiben den anderen die Münder offenstehen. So sehr freut man sich mit dem wahrlich nicht von der Natur gesegneten, fahrig-ungeschickten, aber unbeeinflussbar konsequenten Sympathieträger, und kann das Gelingen seines Wagnisses kaum glauben. Taron Egerton scheint sich in die Figur des Medienstars regelrecht verliebt zu haben, so durchdringt ihn diese Rolle. Wahrscheinlich war der echte Michael Edwards genau so. Das möchte man zumindest meinen. Und man nimmt Egerton das dickköpfige Stehaufmännchen vollends ab. Klar, die Geschichte folgt, wie kann es im Sport anders sein, dem Konzept des Wagens und Vollbringens. Den altbekannten, zeitlosen Weisheiten vom An-sich-glauben und Nochmal-versuchen. Doch abgesehen davon ist der Film auch ein treffsicheres Zeitbild der späten 80iger, wo Röhrenbildschirme und Festnetztelefone en vogue waren. Um dem Film noch zusätzliche Karmapunkte zu verleihen, darf Wolverine Hugh Jackman den unfreiwilligen Trainer mimen. Souverän und beherzt wie immer, aber austauschbar. Viel überraschender ist da der Sidekick Iris Berben, Deutschlands Grand Dame des niveauvollen Fernsehfilms. 

Eddie The Eagle ist erquickendes Motivationskino und sensible Außenseiterkomödie zugleich. Und auch passiven Sportmuffel getrost zuzumuten. 

Eddie the Eagle