Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)

Lawrence von Arabien (1962)

EIN HAUFEN REITENDER MÄNNER

7,5/10


lawrence-of-arabia© 1962 Columbia Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 1962

REGIE: DAID LEAN

DREHBUCH: ROBERT BOLT, MICHAEL WILSON, NACH DEM AUTOBIOGRAPHISCHEN BERICHT VON T. E. LAWRENCE

CAST: PETER O’TOOLE, ALEC GUINNESS, ANTHONY QUINN, OMAR SHARIF, JACK HAWKINS, CLAUDE RAINS, ANTHONY QUAYLE, ARTHUR KENNEDY, JOSÉ FERRER, DONALD WOLFIT U. A.

LÄNGE: 3 STD 47 MIN


Alte Schinken nochmal neu sichten – das könnte und sollte man als Cineast durchaus immer wieder mal in Betracht ziehen. Auch wenn die eigene Watchlist mit allen Neuerscheinungen schon rammelvoll ist, mag ein Blick zurück auf die Meilensteine einer über hundert Jahre währenden Erfolgsgeschichte eben des Kinos momentane Trends mit Leichtigkeit relativieren. Es lässt sich erkennen, worauf es früher wohl ankam, welche Stilmittel gern gesehen waren, welcher Aufwand nicht zu groß war und wie unterm Strich dem Massengemüt des Publikums zu entsprechen war. Bild, Ton, Dramaturgie, politische Korrektheit und die Handhabung mit Tabus: Alles eine Frage der Zeit, der Weltpolitik, der Geldgeber und der Studios. In den Sechzigern, da herrschte das Genre des Monumental- oder Sandalenfilms nebst dem Genre des Westerns fast schon als Monopol und über ein Jahrzehnt lang über den lokalen Kinospiegel. Gern Gesehenes war also der Gegenwart Unverwandtes, weit Entferntes und Entrücktes und mit den Problemen der Gesellschaft kaum in Berührung kommend. Man saß im Kino und glotzte Quo Vadis (Anfang der 50er), Ben Hur mit seinem christlichen Einschlag. Spartacus, Exodus und El Cid, später Cleopatra und Doktor Schiwago. Mehrere Stunden lang, aber mit Pausen, gab man sich dem Kostüm- und Kulissenrausch hin, mitunter an Originalschaupoltzen gefilmt und ohne Massenszenen aus dem Rechner, sondern analog und wahrhaftig. Gigantische Zweckbauten für nur ein paar Szenen ließen staunen, anschließend verließ man das Kino mit dem Wissen, nicht nur unterhalten worden zu sein, sondern auch, bezüglich der Geschichte der Welt, weitergebildet.

Eines dieser Werke war schließlich auch, im Jahre 1962 Lawrence von Arabien, eine britische Wüstenoper mit Sonne, Sand und Beduinen und die biographischen Eckpunkte eines Mannes erzählend, der die Beduinenstämme aus den Tiefen der Halbinsel Saudi-Arabiens vor die Fronten der Osmanen führte, um den Nahen Osten zurückzugewinnen. Seinen Bericht hat er damals unter dem Titel Die sieben Säulen der Weisheit niedergeschrieben, David Lean, im Kino-Gigantismus bereits mit dem schier zeitlosen Antikriegsdrama Die Brücke am Kwai erfahren und entsprechend ausgezeichnet, hat sich an dessen Erinnerungen angelehnt, um den noch unbekannten Peter O’Toole in Szene zu setzen, der gentlemenlike und auf unverwüstliche Weise sturen Idealen folgend, zum Abenteurer und Geschichtsreformator werden soll. Als ehrgeiziger britischer Offizier Thomas Edward Lawrence (der O’Toole auch verblüffend ähnlich sieht – oder umgekehrt) bekommt er zur Zeit des ersten Weltkriegs den Auftrag, dem Araber-Prinzen Faisal einen Besuch abzustatten und sich über dessen Agenda zu informieren, um gegebenenfalls im Kampf gegen die Osmanen ihre Unterstützung zu erlangen. Logischerweise entspricht die Theorie dieser Mission nicht der Praxis, denn Araber sind das eine, die verfeindeten Beduinenstämme das andere. Unter einen Nenner lassen sich diese Völker alle nicht bringen, zumindest scheint es so. Doch Lawrence gelingt das scheinbar Unmögliche, auch wenn er mitunter über Leichen gehen muss.

Abenteuerliche Geschichtsfilme wie diese gibt es heutzutage wohl keine mehr, es sei denn, Ridley Scott hat wieder mal tief in die Geldkiste gegriffen, um Kreuzzüge, napoleonische Schlachten oder den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu verfilmen. Geht dieser Mann irgendwann einmal den Weg allen Fleisches, wird das Genre, so fürchte ich, aussterben. Erinnern wird man sich nicht nur an seine Werke, sondern auch an jene, die ihm vielleicht als Vorbild dienten. Dieses hier ist so eines: ein unter enormem Aufwand verfilmtes Epos von fast vier Stunden, in dem Frauen keinerlei Rollen spielen und Männer so sind, wie Männer sein wollen. In dem Männer tun, was sie tun müssen. Die Welt ist in David Leans Werk und vielleicht auch aus Lawrences Sicht ein notgedrungenes Patriarchat, dessen Schicksal von Männern gesteuert, entschieden und vereitelt wird. Nun, genau das, diese Mentalität dieser filmischen Monumentalarbeit, erscheint aus der Zeit gefallen und so angestaubt wie ein Beduinenzelt nach dem Wüstensturm. Ein riesiger Haufen reitender Männer prescht über Dünen, säbelschwingend ihrem Ziel entgegen. Irgendwann verfällt auch der scheinbar pazifistische Lawrence, dem bald die Gewalt und der Tod näherkommt als ihm lieb ist, einem Blutrausch und Peter O’Tools irrer Blick prägt sich nachhaltig ins Gedächtnis. Hauptsächlich in Jordanien, Marokko und auch Spanien gedreht, wird die Wüste zum Schminktisch für den Helden. Neben ihm brillieren Anthony Quinn als Beduinenführer Auda Abu Tayi und natürlich der bereits von David Lean erprobte Alex Guinness als charismatischer Prinz Faisal. Ihr schauspielerisches Stelldichein wird zu Kinonostalgie pur, sie zelebrieren weit weg von kultureller Aneignung und wokem Stirnrunzeln die Fähigkeit des Schauspielers, in Rollen zu schlüpfen, die ihrer eigenen Biografie fremd sind. Ein Film wie Lawrence von Arabien ist heutzutage auf diese Weise wohl nicht mehr zu inszenieren. Und doch trägt dieser nur scheinbar wüstenheisse Gewalt-Exkurs jene Wahrheit in sich, die so lange gilt, solange es Menschen gibt: Wer zum Schwert greift, wird nicht durchs Schwert sterben, dafür aber bestimmt er die Weltgeschichte. Leider.

Lawrence von Arabien (1962)

Les Meutes (2023)

DIE TOTEN VON CASABLANCA

6/10


lesmeutes© 2023 Ad Vitam


LAND / JAHR: BELGIEN, FRANKREICH, MAROKKO, KATAR, SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: KAMAL LAZRAQ

CAST: ABDELLATIF MASSTOURI, AYOUB ELAID, MOHAMED KHARBOUCHI, MOHAMED HMIMSA, ABDELLAH LEBKIRI, LAHCEN ZAIMOUZEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


In einer der Episoden aus Quentin Tarantinos Pulp Fiction mit dem Titel „Die Bonnie Situation“ schießt John Travolta als gelfrisierter Vincent Vega einem arglosen Informanten während einer Autofahrt versehentlich in den Kopf. In weiterer Folge muss Harvey Keitel als Mr. Wolf die ganze Sauerei irgendwie beseitigen. Wie man eine Leiche los wird, könnte so aussehen – oder vielleicht auch wie in vorliegendem Thriller aus dem schönen Marokko, das schließlich schon zu Zeiten von Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann für ein zeitloses Krimidrama namens Casablanca ausreichend Platz schuf.

Wir sind nun einige Jahrzehnte später dran, und wenn man sich in dieser Stadt am Meer von den Sehenswürdigkeiten entfernt und in die Suburbs vordringt, könnte man unter anderem dem Tagelöhner Hassan und seinem Sohn Issam begegnen, die nicht gerade auf die Butterseite des Lebens gefallen sind, sondern sich tagtäglich mit windigen kleinen Aufträgen die nächste Mahlzeit sichern. Männer für alles, könnte man meinen, und nicht so rausgeputzt wie Tarantinos Kult-Anzugträger Jules und Vincent. Boni gibt es keine, vielleicht manchmal den richtigen Auftrag, dann hat Oma daheim auch noch was davon. Und so müssen beide eines Tages einen Mann entführen. Gesagt getan, Kapuze über den Kopf und mit Gewalt in den Kofferraum des geliehenen Vans. Als es zur Übergabe kommt, ist der Entführte bereits tot, womöglich erstickt. Um diesen Fehler wieder gutzumachen, müssen Hassan und Issam die Leiche schleunigst loswerden, und das noch vor Morgengrauen, sonst gibt’s Zoff mit der Konkurrenz. Die Nacht hat sich bereits über die Wüste gesenkt, als die beiden alles Mögliche unternehmen, um den Schaden zu begrenzen. Normalerweise könnte ihr Vorhaben ja auch klappen, doch Les Meutes ist ein waschechter Film Noir. Die Schwierigkeiten häufen sich, irgendwo hakt es immer. Und kleine Hindernisse werden zu Barrikaden, die nur mithilfe alter Bekannter, die dann ebenfalls zum Handkuss kommen, beiseitegeräumt werden können.

Es ist gut, wenn man jemanden kennt, der wen kennt, der wen kennt. In Kamal Lazraqs nachtschwarzer Odyssee, getaucht ins ungesund gelbe Licht der Nachtlaternen, Neonröhren und KFZ-Scheinwerfer, stellt das Schicksal den beiden Underdogs mehr als nur ein Bein. So makaber die ganze Situation auch ist, diese Leiche ist ungefähr so anhänglich wie Alfred Hitchcocks Harry oder der gute alte, sonnenbebrillte Bernie. Schließlich spielt Les Meutes auch nicht in den USA, wo man die Toten ohne Federlesen verschwinden lässt – hier herrscht im Untergrund noch sowas wie Respekt vor den Verblichenen, sei es nun kulturell oder religiös bedingt. Um jeden Preis versucht zumindest Hassan, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen, und das inmitten von Zeitdruck und Existenzangst. Dabei entsteht eine Eigendynamik, die sich, angereichert mit situationskomischen Wendungen und schadenfroher Bitterkeit, so anfühlt wie eine groteske Posse von eingangs erwähntem Tarantino, in der gar nicht so alltägliche Begebenheiten auf die Tücken des Alltags treffen. Das Ganze zieht seine Kreise, und die Prognose für das Glück der beiden behalten Propheten lieber für sich.

Mit Laien taucht Kamal Lazraq durch die urbane Dunkelheit, Abdellatif Mastouri wurde von der Straße weg engagiert – sein vernarbtes Konterfei macht nicht wenig Eindruck, und überhaupt tauchen in Les Meutes so einige markante Gesichter aus der Dunkelheit und verschwinden wieder darin. So mag auch diese im Grunde kleine Skizze einer gescheiterten Mission jenseits von Gesetz und Ordnung in einen Alltag aufgehen, dessen seltsame Anomalien bald in Vergessenheit geraten. Lazraq lässt dem Schicksal seinen Lauf, ohne seinen Thriller auf Krawall zu bürsten. Erschöpfung, Resignation und improvisierte Gelassenheit prägen seinen Film, und vielleicht mag diese Sichtweise Achterbahnfahrer im Thrillergenre letztlich enttäuschen. So wendungsreich das Family-Business auch durch ein Marokko inkognito driftet – die Kunst der Improvisation mag nicht ganz so erlernt sein. Der letzte Kick, der fehlt. Die Wendung bleibt aus. Das muss zwar nicht sein, wäre angesichts des genüsslich geschilderten Dilemmas aber eine rundere Sache geworden. Da hilft selbst der letzte kleine Twist nicht, der als irrealer Gag der finsteren Gaunerei kaum gerecht wird.

Les Meutes (2023)

Die perfekte Kandidatin

ES MUSS NICHT IMMER NIQAB SEIN

6/10

 

dieperfektekandidatin© 2019 Neue Visionen

 

LAND: SAUDI-ARABIEN, DEUTSCHLAND 2019

REGIE: HAIFAA AL MANSOUR

CAST: MILA ALZAHRANI, DAE AL HILALI, NOURAH AL AWAD, KHALID ABDULRHIM, SHAFI AL HARTHY U. A. 

 

Was tut sich eigentlich so in Saudi-Arabien? Neben glutheißem Asphalt glühen dortzulande schon längst die Smartphones – Social Media scheint wie überall auch auf der Welt der absolute Trend zu sein. Um das zu billigen, muss sich das Land bereits weit von einem reaktionären Mittelalter entfernt haben. Wie kommt der Islam mit diesem boomenden Fortschritt klar – und was sagt er dazu, dass seit einiger Zeit schon Frauen hinter dem Steuer eines Autos sitzen dürfen? Hat er überhaupt etwas damit zu tun? Und haben Frauen mehr mehr Rede- und sonstige Freiheiten als wir in Europa uns das immer noch vorstellen? Haifaa Al Mansour sagt: Ja. Ja das hätten sie, zumindest prinzipiell mal, würden doch mehr von ihren Rechten Gebrauch machen, ohne das ein obsoletes Gesellschaftsmuster vorgibt, alle Rechte vorzugeben. Das kann es nämlich nicht mehr, wie es Die perfekte Kandidatin begreiflich macht. Was Haifaa al Mansour (u. a. Das Mädchen Wadjda, Mary Shelley) aber erzählt, das ist nicht die beglückende Erfolgsgeschichte irgendeiner Frau aus der Mittelschicht – sondern von Maryam, Ärztin an einem kleinen Krankenhaus irgendwo in einer Kleinstadt in Saudi-Arabien (gedreht wurde der Film in dessen Hauptstadt Riad). Sie hat zwar in jungen Jahren ihre Mutter verloren, dennoch lebt sie mit zwei weiteren Geschwistern und ihrem recht liberal eingestellten Vater in einem ordentlichen Anwesen und kann sich sonst auch nicht beklagen, dass ihr irgendetwas dringend fehlt. Oh ja doch, ein Problem gibt es, doch das betrifft das ganze Krankenhaus – es ist die nicht asphaltierte Zufahrt für den Krankentransport. Das ärgert Maryam zutiefst. Mehr noch als das übertriebene männliche Getue eines älteren Herrn, der sich von einer Frau partout nicht behandeln lassen will. Hier wird Mansours Blick kritischer, aber nicht kritisch genug. Denn ihr Film ist eine sanfte Komödie, die gar nicht so sehr irritieren will. Die das Öl fürs gesellschaftspolitische Feuer lieber zum Kochen verwenden lässt und das beobachtete Frauenbild für Saudi-Arabien von devot bis aufsässig sehr breit fächert.

Die junge Maryam gerät per Zufall in die Situation, für den Gemeinderat als weibliche Kandidatin aufgestellt zu werden. Das war mal überhaupt nicht der Plan, aber warum nicht? Frau könnte sich ja dadurch betreffend Krankenhauszufahrt mehr Gehör verschaffen. Gewinnen ist gar nicht ihre Intention. Nur keine falsche Bescheidenheit, sagen die anderen, die Schwestern und Freundinnen. Der Papa gewährt seinen Töchtern sowieso alle Freiheiten, er geht derweil musizieren. Traditionelle saudi-arabische Musik – das klingt wunderbar, und von diesen Vibrations bekommt man im Laufe des Films einiges ab. Fast ist es so, als hätten wir einen Film von Tony Gatlif am Start, der diesmal den fernen Orient vertont haben will. Mansour schlendert stets gemächlich von den Schauplätzen in der Wüste wieder zurück zu ihrer Heldin, die bald schon ihren Niqab ablegt, die immer offener auftritt, sich tatsächlich auch in einen Raum voll fremder Männer begibt, was sonst nicht die feine arabische Art wäre. Klar ist: Frauen werden immer noch belächelt, ernst nimmt sie kaum jemand. Manch anderer aber schon, und die könnten einen neuen Trend bestimmen, hätten sie so viel Mut wie Maryam.

Den Mut, den musste Haifaa Al Mansour nie finden – ihr Film ist nicht darauf aus, kraftvoll mit dem Fuß zu stampfen. Die Polit- und Gesellschaftskomödie ist von einer gefälligen Balance, die niemanden kompromittieren dürfte. Man könnte das auch kluge Vorsicht nennen, oder respektvoller Umgang mit noch so altertümlichen Ansichten und verknöcherten Weltbildern. Der Islam ist hier ein gänzlich moderater, spiritueller Teil eines Alltags, wirkt niemals wie etwas, dass einer Reform bedarf. Die Ansichten des Patriarchats schon, doch hier werden ganz augenzwinkernd maximal ein paar Seitenhiebe verteilt, die eher um- als verstimmen. Die ein gewisses Schmunzeln provozieren, vor allem bei einem Publikum, das dem saudischen „Battle of the Sexes“ ohnehin aufgeschlossener gegenübersteht. Mansour setzt Fingerspitzen ein, und bleibt dadurch vielleicht zu harmlos. Eine ähnliche kompromissvolle Inszenierung ob eines heiklen Themas lässt sich in dem österreichischen Film Womit haben wir das verdient? verorten. Auch hier wollte Eva Spreitzhofer längst keine Meinung skandieren, sondern behutsam, aber zögerlich kuriose Anomalien nicht nur der muslimischen Kultur sich selbst überlassen. Die perfekte Kandidatin überlegt Ähnliches – bleibt dabei sehr gemächlich, locker und, weil viele Umstände berücksichtigt werden wollen, auch recht ausgebremst.

Die perfekte Kandidatin

Ein Hologramm für den König

IN DIE WÜSTE GESCHICKT

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hologramm

Deal geplatzt, Firma insolvent, und die Globalisierung schlägt unbarmherzig zu. Darüber hinaus ist die Ehe im Eimer und die einzige Tochter Spielball des Streits zwischen Mama und Papa. Zusammenfassend liegt die Welt des gescheiterten Handelsreisenden Alan Clay ziemlich im Argen, als er losgeschickt wird, um in der Wüste Saudi-Arabiens König Abdullah ein holografisches Telefonkonferenzsystem zu verkaufen. Nur – dieser König lässt sich bitten, über Tage, wenn sogar über Wochen. Es ist ein ewiges, die Geduld strapazierendes Warten in der Wüste, zwischen Altertum und Fortschritt, zwischen Islam und westlichen Werten, zwischen kühler Glasarchitektur und windverwehten Zelten. Und wenn der Handlungsreisende Clay jeden Abend im Hotel Sand aus seinen Schuhen lehrt, scheint ihn die Vergänglichkeit seines Lebens mehr als deutlich bewusst zu werden.

Diese endlose, leere, dialoglose Wüste ist der ideale Ort, um den gescheiterten Ist-Zustand des Lebens nochmal zu durchdenken. Und aus neuer Perspektive wahrzunehmen. Sinnbild für diesen Status Quo ist ein Geschwür am Rücken von Clay, das ihn hinunterzuziehen scheint und unbeweglich werden lässt. Und der König kommt nicht. Auch die Vertretung lässt sich entschuldigen. Doch was während einer Zeit des Stagnierens und des Stillstands passieren kann, davon kann man sich in Tom Tykwers neuem Film überraschen lassen. Für die Verfilmung des Romans von Dave Eggers hat Tykwer niemand geringeren verpflichten können als den sympathischen Tom Hanks, der selten in solch kleineren Produktionen zu sehen ist und gerade in solchen Filmen sein wahres Potenzial entfalten kann. Sein Handlungsreisender ist eine tragikomische Figur, ein Stehaufmännchen, das mit verzweifeltem Pragmatismus gegen die Windmühlen des wirtschaftlichen Wettbewerbs kämpft und gleichzeitig die Flucht nach vorne sucht. Ein unkaputtbarer Neuzeitmensch, der seinen Werten treu zu folgen versucht und um Anpassung ringt in einer schnelllebigen, übervorteilenden Menschenwelt. Tom Tykwers eigenwillige Erzählweise trifft in diesem feinen, filmischen Kosmos ins Schwarze. Das tragikomische Gesellschaftsmärchen kann gar nicht anders erzählt werden außer in dieser gelungenen Komposition aus assoziativen Traumbildern und amerikanischem Theater im Stile Arthur Millers. Nur hat Dave Eggers Geschichte viel mehr Zuversicht, die man angesichts der trostlosen Ausgangssituation nicht für möglich gehalten hätte.

Ein Hologramm für den König ist bei weitem kein Mainstream, es ist erbauliches, symbolistisches Kunstfilmkino ohne Bedeutungsschwere und Kopflastigkeit. Es ist das kleine Kunststück einer Ich-Odyssee und eine sympathische Hommage auf das gesunde Selbstbewusstsein. Hanks war in letzter Zeit selten besser, ja, er durchbricht tatsächlich die Routine seines gewohnten Rollenprofils und begegnet ohne sichtlicher Mühsal seinen internationalen Schauspielpartnern auf Augenhöhe. Ein sehenswertes Filmkonstrukt, dass sich erst in seiner Gesamtheit als besonderer Kinogenuss zu erkennen gibt.

 

Ein Hologramm für den König