Poor Things (2023)

KINDLICHE NEUGIER AUF DIE FREIE WELT

7/10


poorthings© 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: TONY MCNAMARA

CAST: EMMA STONE, WILLEM DAFOE, MARK RUFFALO, RAMY YOUSSEF, CHRISTOPHER ABBOTT, MARGARET QUALLEY, HANNA SCHYGULLA, SUZY BEMBA, JERROD CARMICHAEL, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Ob ein Film gefällt oder nicht, ist stets das Resultat aus momentaner Befindlichkeit, Geschmack und Interesse. Manchmal stört an einem Film auch nur eine Kleinigkeit, und schon kann man sich nur noch schwerlich am Gesehenen erfreuen. Manchmal aber entspricht eine Emotion genau der eigenen und das Werk wird liebgewonnen, ungeachtet unzähliger Unkenrufe aus der breiten Masse. Wie steht es aber um mediale Beeinflussung und Vorschusslorbeeren für ein Werk, das im Mainstream einhellig über den grünen Klee gelobt, von den Medien hofiert und laut allen nur erdenklichen Pressestimmen als phänomenal befunden wird – lässt sich da selbst noch eine eigene Meinung bilden oder ist diese dann, sollte sie nicht in den Tenor einfallen, das Resultat eines künstlerischen Unverständnisses; ein nicht ernstzunehmendes Urteil, da ein Film wie Poor Things sowieso nur gut, wenn nicht gar sehr gut – nein, lieber nur ausgezeichnet sein kann, weil es eben alle sagen. Unbeeinflusst lässt sich Yorgos Lanthimos neuer Film einfach nicht konsumieren. Was Großes wird über die Leinwand flirren, ein feministisches Meisterwerk allererster Güte, ein Bildersturm, dem man sich nicht entziehen kann, mit einer fabelhaften Emma Stone, die alle Stücke spielt und so weiter und so fort.

Ist Poor Things alles andere als gut? Oder doch genauso sensationell? Letzteres käme gelegen, dann wäre man kein nonkonformer Außenseiter, der das anders empfindet. Was bin ich froh, nicht gegen den Strom schwimmen und mit der Möglichkeit umgehen zu müssen, den Film nicht verstanden zu haben. Ihn nicht zu verstehen ist schließlich fast unmöglich, denn wirklich komplex ist weder der Plot noch die zu überbringende Botschaft des Ganzen. Poor Things gestaltet sich wie ein Pop-Up-Märchenbuch für Erwachsene, denn ganz viel Sex darf erwartet werden, der noch dazu vollzogen wird in prächtig ausgestatteten Hotelzimmern oder Kajüten – stehend, liegend, wild herumreitend. Emma Stone gibt sich einer ungenierten, erfrischend frechen Freizügigkeit hin und wirkt dabei niemals obszön oder vulgär. Als wohl eine der besten Schauspielerinnen des aktuellen Filmschaffens – und das kann ich getrost sagen, da bin ich unisono mit den Publikumsstimmen – erobert sie die Herzen, nicht zwingend aber die sexuelle Traumwelt. Vielleicht, weil es vorrangig gar nicht um Wollust geht, sondern einfach und allein um den paradiesischen, endlosen Blumengarten der Freiheit und Selbstbestimmung.

Poor Thing ist – und jetzt ist es draussen – tatsächlich ein guter Film. Neben all der erlesenen, bis ins kleinste Detail opulenten und auch bizarren Ausstattung, die an die frühen Werke Jean-Paul Jeunets oder Tim Burton erinnern (dazu gehört auch zumindest bei Jeunet extremer Weitwinkel oder eben Fischauge) liegt das goldglänzende Kernstück der Fabel in seiner Prämisse, die mit den Stereotypen der Wissenschaft jongliert und dabei manchmal einen der Bälle verliert, denn das ist Absicht. Anfangs ist Yorgos Lanthimos Guckkasten-Operette ohne Gesang noch in Schwarzweiß, denn Bella Baxter – so nennt sich die künstlich geschaffene Figur – kennt die Welt da draußen, jenseits der Räumlichkeiten ihres Ziehvaters Godwin Baxter, überhaupt noch nicht. Wie denn auch – noch bewegt sich Emma Stone wie Pinocchio in seinen ersten Minuten, bringt kaum Wörter über die Lippen, muss alles erst erlernen. Warum das so ist? Als schwangere Wasserleiche aus der Themse gefischt, hat der alte Baxter sie wiederbelebt, indem er der Unbekannten das Gehirn ihres Fötus einsetzt. So hampelt das Kind im Frauenkörper anfangs noch durch die Welt, bis sie von Szene zu Szene immer selbstbestimmter werden, alles entdecken und erleben will. Poor Things ist eine Ode an die Neugier am Leben, auf das Lebenswerte, das sich nur leben und erfahren lässt, wenn man frei ist von Zwängen, Unterdrückung und Besitzergreifung – kurz: frei eben. Nicht mehr, nicht weniger. Lanthimos hat im Grunde eine Coming of Age-Parabel ersonnen, die mit den Klischees einer Mann-Frau-Koexistenz ähnlich umspringt wie Greta Gerwig in Barbie. Während beim zuckerlrosa Geschlechterkrieg-Musical der Mann dazu angehalten wird, sich selbst zu überdenken, will das Frausein hier einfach nur nicht in einem Patriarchat stattfinden müssen. Der Mann – in seiner unzulänglichen Romantik, seiner Eifersucht und seinem absurden Drang zu Besitz und Macht – bekommt die kalte Schulter, an der einer wie Macho Mark Ruffalo immer mehr verzweifelt. Ein schadenfroher Spaß, ihm dabei zuzusehen.

So wirklich traurig ist Willem Dafoe als von seinem eigenen Vater zu Erkenntniszwecken entstellter Mann des Wissens – ein „Almöhi“ des pseudoviktorianischen Englands, gutmütig und unbeholfen nüchtern. Zwischen ihm und Emma Stone entfaltet sich die stärkste Bindung. Hier findet statt, was sonst nur so scheint, als wäre sie da: Das Miteinander, das Geben und Nehmen. Baxter ist sich letztlich selbst genug, und wie geschmeidig und kaum merkbar, wobei letzten Endes aber doch, entwickelt sich das ungebändigte Kind zur selbstbewussten Frau. Es stimmt, Poor Things ist lebens- und wertebejahend, räumt mit dem gebrandmarkten Gewerbe der Prostitution auf und ist vor allem auch, neben all der Gleichnisse, ein Augenschmaus im Arthouse-Kitsch zwischen Steampunk, Pluderärmel und monströsem Kinderbuch. Das Artifizielle allerdings lässt große Gefühle nicht zu. Poor Things gefällt, berührt aber nicht. Bella Baxter und all ihre Männer bleiben in ihrer Blase, und wir in der unseren. Was Poor Things zu sagen hat, ist nicht neu, dafür aber neu bebildert. Wie viel Wirkung hätte der Film noch entfalten können, hätte Lanthimos sein Werk in einer uns bekannten Realität verortet – authentisch, vielleicht naturalistisch und weniger gekünstelt? Er wäre uns damit nähergekommen, Emma Stone hätte den Draht zwischen ihr und uns zum Knistern gebracht. Letzten Endes ist das Blättern in einem prunkvoll ausgestatteten, ledergebundenen Leinwandportfolio ein Genuss, jedoch einer, der sich, genau wie Bella Baxter, einfach selbst genügt.

Poor Things (2023)

Die Abenteuer des Baron Münchhausen (1988)

DES MEISTERS (W)IRRE WUNDERBOX

7/10


munchausen© 1988 Columbia Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, DEUTSCHLAND 1988

REGIE: TERRY GILLIAM

DREHBUCH: CHARLES MCKEOWN, TERRY GILLIAM

CAST: JOHN NEVILLE, SARAH POLLEY, ERIC IDLE, CHARLES MCKEOWN, WINSTON DENNIS, JACK PURVIS, JONATHAN PRYCE, ROBIN WILLIAMS, VALENTINA CORTESE, UMA THURMAN, OLIVER REED, PETER JEFFREY, STING U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Im wunderbaren Wiener Gartenbaukino gibt’s nicht nur zur Viennale Filmemacher und Schauspieler zum Anfassen, sondern auch immer wieder mal darüber hinaus, wie eben letzten Sonntag: Niemand geringerer als Ex-Monty Python Terry Gilliam ließ sich da sehen und sprach zum Publikum. Schräges aus seiner Kindheit, Skurriles vom Set und so manch Philosophisches über Kreativität und die Gratwanderung zwischen Kunst und Kommerz. Gilliam war, ist und wird immer ein Visionär bleiben, der den Studios schlaflose Nächte beschert. Und nicht nur diesen: Kann sein, dass er sich auch selbst angesichts der Unmöglichkeit, seine Ideen auf die Leinwand zu bringen, unruhig in den Laken wälzt. Sein Don Quixote war lange Zeit gleich unbezwingbaren Windmühlen, bei Die Abenteuer des Baron Münchhausen ist sich der Wahnsinn gerade nochmal ausgegangen. Doch auch da weinten sich die Geldgeber in den Schlaf, denn aus dem proklamierten Budget wurde bald das Doppelte. Angesichts des fertigen Films wundert die Tatsache niemanden, und es ist schließlich auch offensichtlich, wohin das ganze Geld verschwand: Allein schon die formschönen Kanonen der osmanischen Invasoren müssen ein Heidengeld gekostet haben. Belagerungstürme, Schiffswracks, Stadtmauern – und nichts davon aus dem Rechner. Die Abenteuer des Baron Münchhausen kam 1988 ins Kino und ging beim Publikum gnadenlos unter. Und das, obwohl Terry Gilliam wirklich keine halben Sachen gemacht hat. Die Schauwerte sind enorm – sein phantastisches Abenteuer, das nicht auch nur den kleinsten Gesetzen der Logik folgt (typisch Münchhausen eben), entfaltet seine Wundertüte eigentlich nur auf der großen Leinwand, denn nur dort lassen sich all die Details entdecken, die auf den Fernsehschirmen verpuffen. Im Kino ist sein Flop ein künstlerischer Genuss, wenn auch in hysterischem Stakkato erzählt – ohne Verschnaufpausen, innerer Einkehr und ruhigen Momenten. So könnte man die Frage stellen: war das Publikum einfach nur überfordert?

Nehmen wir Time Bandits. In Sachen Originalität, Optik und Erzählstil ist Gilliams Münchhausenfilm mit diesem Klassiker der Fantasy nahe verwandt. Time Bandits kam schon 1981 raus, dieser hier sieben Jahre später. Wir befinden uns drei Jahre vor James Camerons Errungenschaften in Terminator 2 – Tag der Abrechnung. Und Gilliam frönt immer noch der wunderbaren Analogie, als würde es niemals etwas anderes geben, um seine Storyboard-Zeichnungen auch entsprechend umzusetzen. Vielleicht war das Publikum der Zeit des Meisters schon voraus und wartete sehnsüchtig auf Neues, zumindest auf filmtechnisch innovatives Handwerk. Hat Gilliam hier den Absprung verpasst?

Mittlerweile gefällt so ein Retro-Charme CGI-müden Augen umso mehr. Man erkennt wieder die Bildmontage, das Matte Painting, die kleinen, aber offensichtlichen Mankos mancher an Schnüren gezogener Marionetten und künstlicher Firmamente – insbesondere wenn das ganze aussieht, als hätte hier schnell noch jemand den Kleisterpinsel geschwungen. Doch das macht nichts. Gilliams Visionen kann keiner kopieren. Sein Stil ist einzigartig, der Blickwinkel stimmt – Kostüme, seltsame Konstrukte und völlig absurde Ideen wie die Folterorgel des Sultans (eine Anlehnung an die Monty Python’sche Mausorgel) verblüffen wie bei einer Zaubershow, deren Tricks man zwar vielleicht kennt, die aber so einnehmend inszeniert sind, dass man dennoch, wie ein kleines Kind, staunend davorsitzt, wenn der nichtsahnende Publikumskandidat plötzlich zersägt wird.

Den deutschen Adeligen Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen hat es im 18. Jahrhundert tatsächlich gegeben. Ihm werden diese völlig unmöglichen Lügengeschichten auch zugeschrieben, ganz im Stile der Schwänke aus dem 15. Und 16. Jahrhundert. Dabei ist die Kanonengugel und Münchhausens Ritt auf ihr nur das Sahnehäubchen. Darunter geht es noch viel wüster zu. Und Gilliam, rechtetechnisch völlig frei, katapultiert den so charismatischen wie unverwüstlichen Baron in surreale Sphären. Die Begegnung mit Robin Williams als Mondkönig allein ist ein gespenstisches  Kasperletheater für Erwachsene. Der Auftritt von Oliver Reed als Vulcan ist Monty Python pur, die junge Uma Thurman wurde zurecht für Botticellis Venus gecastet und Eric Idle als Münchhausens Diener Berthold ist als hampeliger Hanswurst die spätbarocke Ur-Version des Flash. Die junge Sarah Polley als Sidekick Sally bleibt hingegen bis zum Abspann inkognito. Da die Auftritte einer jeden Figur für sich fast wie kleine, phantastische Pseudo-Anekdoten daherkommen, könnte man diesen Ausstattungs-Overkill als üppige Varieté-Show interpretieren – als eine Aneinanderreihung absurder Abenteuer, die sich selbst überholen. Vielen mag diese komprimierte Scherzartikelsammlung ein ehes Völlegefühl bereiten; neugierigen Nasen, die Gilliam seit jeher schätzen, warten minütlich auf die nächste Idee.

Die Abenteuer des Baron Münchhausen ist bei weitem nicht Gilliams schlechtester Film. Man könnte sagen, sein puppenbühnenartiger Reigen aus Albtraumszenen, Historienspektakel und schräger Pointen-Sammlung darf sich als Time Bandits 2.0 deklarieren. Schneller, höher, weiter, ist die Devise. Ein Film also wie ein Besuch beim verrufenen Antiquitätenhändler, dem man magische Skills andichtet, dem man bis ins letzte Hinterzimmer folgt und der seine Bude vollgestopft hat mit Dingen aus aller Welt. Nebenbei bemerkt: nicht nur aus dieser.

Die Abenteuer des Baron Münchhausen (1988)

1917

REISE NACH MORDOR

7,5/10

 

1917© 2019 Universal Pictures

 

LAND: USA, GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: SAM MENDES

CAST: GEORGE MCCAY, DEAN-CHARLES CHAPMAN, COLIN FIRTH, RICHARD MADDEN, BENEDICT CUMBERBATCH U. A.

 

Es gibt Filme, viele Filme, die Bücher als Grundlage nehmen und diese dann komplett anders interpretieren oder eins zu eins verfilmen oder den Stoff einfach aufblasen. Es gibt Bücher, die lesen sich wie Filme. Und es gibt aber zu guter Letzt auch Filme, die sichtet man wie Bücher. Genau das ist bei den Werken von Sam Mendes der Fall. Der Brite mit dem Oscar für American Beauty ist zur Zeit wohl der Romancier des Kinos. Die Qualität des Erzählens von Geschichten liegt nicht jedem, vieles ist zu verkopft und nur in den Augen des Verfassers logisch. Bei Mendes ist das, was er erzählt, von solch einer narrativen Eleganz, dass das Publikum den Film rund um den Globus völlig ähnlich erfahren wird. Auch sein neuester Film, das Kriegsdrama 1917, entspricht dieser Fertigkeit – indem er ein erschütterndes Szenario so in eine Filmsprache bettet, dass man das Gefühl hat, einen Roman zu sehen, voller prosaischer Klasse, feinen bildsprachlichen Details und emotionaler Wärme. 1917 ist die Lyrik eines Krieges, so sehr und so weit auch beide Begriffe auseinanderliegen. Obwohl Mendes´ Oscar-Favorit nicht der erste Film ist, der so einen Weg wählt. Wir erinnern uns natürlich an Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. Natürlich, ein ganz anderes Timbre, eine ganz andere Sprache und ein anderer Stil, aber auch er hat den Krieg nicht in seiner ganzen nackten Schrecklichkeit bloßgelegt, sondern als Traumgespinst verformt, als ein Gespenst für einen destruktiven Zustand.

1917 ist eine ähnliche Odyssee. Zwar eine, die nicht ganz so in die Dunkelheit wie bei Coppola führt, aber dorthin, wo zwei Soldaten mit einer sehr dringlichen Nachricht hineilen, scheint auch nicht wirklich die Sonne. Schauplatz ist Frankreich, ein Jahr vor dem Kriegsende, Schützengraben überall. Zerstörte Erde, endzeitliche Zustände. Die Nerven liegen blank. Den Stellungs- und Grabenkrieg in Frankreich, den hatte schon Erich Maria Remarque in seinem schrecklich traurigen Klassiker Im Westen nichts Neues beschrieben – und das in einer sehr drastischen, aber zutiefst hypnotischen Sprache. Diese Sogwirkung hat auch 1917, schon allein dadurch, dass Mendes´ Film wie ein One Shot wirkt. Wer nach der Eingangssequenz, in der die Kamera den beiden Soldaten scheinbar ewig durch den Schützengraben folgt, noch nicht mittendrin im Geschehen weilt, der hat woanders hingesehen. Kameramann Deakins leistet wieder mal Erstaunliches. Der Aufwand für diesen Film muss ebenfalls enorm gewesen sein. Hier scheint der Naturalismus Teil des Casts zu sein, hier ist der Boden, der Schlamm, die verbrannten Bäume und all die tierischen und menschlichen Kadaver in all ihren unterschiedlichen Verwesungszuständen so plastisch, als würde man selbst darin wühlen, in diesem verheerten Chaos, das die beiden Protagonisten umgibt. Und die sind standhaft, vorsichtig, haben einen Auftrag – wie Frodo und Samweis, die Richtung Mordor gingen, beide füreinander da, beide im Sinne für alles, was kein Krieg ist. Leicht kippt das Unaussprechliche in ein Mittelerde, wo das Gute in den Händen der Schwachen liegt, die sich dem Gigantismus des Krieges scheinbar nur schwer entgegenstellen können. Jedoch hat Pathos, falsches Pathos in Mendes Werk nichts verloren, sein Film ist das Intonieren eines vergessenen Refrains, der an der Front davor bewahrt, nicht ganz den Verstand zu verlieren. Und tatsächlich tönt im Film irgendwann auch ein solches wehmütiges Lied durch den Hain.

Petersen hat mit Das Boot die Gefühlswelten junger Soldaten bislang am besten eingefangen. Mendes schafft das mit 1917 ebenso, allerdings sind die Aussichten auf bessere Zeiten im Gegensatz zum U-Boot-Drama zumindest welche, für die es sich lohnt, am Leben zu bleiben. Nihilismus hat bei Mendes keinen Platz, das Gute ist da, aber hält sich versteckt. Ein Antikriegsfilm ist 1917 somit nicht geworden, sondern eine epische Erzählung für nur einen Tag, zwischen expressionistischen Kontrasten auf weitem Feld und den kargen letzten Krümeln einer Freundschaft, die George McKay aufliest, bis zum Ziel. Doch dieses ist nur eine Etappe, bis die Schlacht wieder beginnt, und neue Befehle wieder jemanden durchs Niemandsland schicken.

1917

Zimmer mit Aussicht

FLANIEREN MIT MANIEREN

5/10

 

zimmermitaussicht© 1986 Kairos-Filmverleih

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 1986

REGIE: JAMES IVORY

CAST: HELENA BONHAM-CARTER, MAGGIE SMITH, JULIAN SANDS, JUDI DENCH, DANIEL DAY-LEWIS U. A.

 

Es müssen nicht immer die neuesten Kino-Releases sein. Die sind in den Print- und Online-Medien ohnehin zahlreich vertreten. Was nicht heissen soll, ich spar mir von nun an meinen Senf. Doch wie wäre es trotzdem mal mit einem etwas reiferen Werk, das, sagen wir mal, rund 30 Jahre auf dem Buckel hat? Da gibt es eines, das kennen wahrscheinlich gar nicht mal so viele, und wäre dieses Werk nicht einer der Lieblingsfilme eines guten Freundes von mir, hätte ich mit Sicherheit vergessen, es auf die Watchlist zu setzen: Zimmer mit Aussicht.

Der zumindest für Pauschaurlauber höchst verlockende Titel steht für das bekannteste Frühwerk des amerikanischen Filmemachers James Ivory, der Zeit seines künstlerischen Schaffens eine ausgeprägte Vorliebe für britische Literatur an den Tag gelegt hat. Nicht zu glauben, dass Ivory eigentlich Amerikaner ist, so europäisch, wie er sich in seinen Filmen gibt. Ich kann mich auch noch sehr gut an die Oscarverleihung 1993 erinnern, als das distinguierte Meisterwerk Was vom Tage übrig blieb nach dem Roman des japanischstämmigen Briten Kazuo Ishiguro achtmal für den Goldjungen nominiert war und dann doch leer ausging. Der Film mit Emma Thompson und Anthony Hopkins in seiner wahrscheinlich besten Rolle ist eine Sternstunde der Schauspielkunst, aber auch der leisen, zarten Inszenierung. Für große Gefühle in kleinen Dosen war James Ivory stets ein Spezialist. Im Jahr davor wurde immerhin Wiedersehen in Howards End ausgiebigst prämiert – für Emma Thompson, Szenenbild und Drehbuch. Howards End war eine Verfilmung eines der Romane des Briten E. M. Forster – und nicht die erste. Zimmer mit Aussicht war 6 Jahre früher dran, und konnte bei den Oscars 1987 ebenfalls punkten, zumindest in den Nebenkategorien. Soviel also zu den Fakten, die in ihrer trockenen Aufzählung jetzt vielleicht ein bisschen für Langeweile gesorgt haben könnten, vor allem bei jenen, die ohnehin über James Ivorys Œuvre Bescheid wissen. Allerdings stimmt dieser kleine, recht langatmige Einblick bestens auf vorliegenden Film ein, der vorrangig eines ist: langatmig.

Dieser Müßiggang, um ein anderes Wort dafür zu finden, kann durchaus ein gepflegter sein. In Zimmer mit Aussicht sogar vom pedikürten Zeh in weißen Socken und Schnallenschuhen bishin zum Spitzenschirmchen, das unter der Sonne der Toskana vor allzu sengender Frühlingshitze schützen soll. Und diese Frisuren – das waren sicher Stunden beim Hairstylisten, der vor allem bei Helena Bonham-Carters sperriger Mähne ins Schwitzen gekommen sein muß. Die damals blutjunge Schauspielerin, gerade mal 19 Jahre alt, feierte mit Zimmer mit Aussicht ihr Kinodebüt. Ihr zur Seite als Anstandswauwau: die legendäre Maggie Smith, oscarnominiert und erschreckend etepetete, fast schon so wie in ihrer späteren Performance als Zauberin Minerva McGonagall, nur in Ivorys Sittenbild bereits schon pikiert, wenn Männer jungfräuliche Damen einfach so von der Seite her anquatschen. Eine zugeknöpfte Zeit, dieses anfängliche 20te Jahrhundert. Und ein Sittenbild, dass vor lauter Kostümen gar nicht mehr weiß, wo der Kleiderhaken hängt. Das künstlerische Florenz mit all seinen Meisterwerken der Renaissance und das dazugehörige flanierende, kunstbeflissene Klientel präsentiert eine Gesellschaft auf fein ziseliertem Silbertablett. Wenn dann die frühsommerlichen Wiesen mit all ihren Mohn- und sonstigen Blumen der Ort eines verstohlenen Kusses sind, werden die impressionistischen Bilder eines Auguste Renoir zum Leben erweckt. Da greift das weiß behandschuhte Filmteam tief in die Requisitenkiste und rückt akribisch ausgesuchte Locations wie handkolorierte Postkarten ins richtige Licht. Das ist natürlich geschmackvoll. Und nach wie vor langatmig.

Beworben wird Zimmer mit Aussicht als zauberhafter Film über die Macht der Gefühle, als große Liebesgeschichte. Das kommt meines Erachtens nicht wirklich hin. E. M. Forsters Roman mag da vielleicht anders ticken, mag da vielleicht die Gefühle von George und Lucy, der beiden Liebenden, die im Zentrum des Filmes stehen, besser umschreiben. In Ivorys Verfilmung ist die leidenschaftliche Liebe bar jeder Leidenschaft und maximal ein halbherziges Geplänkel. Julian Sands, der den liberalen Freigeist George spielt, fährt noch etwas mehr Drive auf, der ist aber mehr dem Anspruch seiner eigenen Quergedanken geschuldet als einer hingebungsvollen Schwärmerei. Und Bonham-Carter? Sie steckt mit ihrer Sehnsucht im besten Wortsinn noch in den Kinderschuhen. Für eine Liebesgeschichte mangelt es zwischen Florenz und der britischen Heimat zu sehr an empfundener Leidenschaft, da sind Hopkins und Thompson als emotional verschlossenes Hauspersonal im Vergleich dazu geradezu in euphorischer Ekstase. Rund um diesen gedehnten „Lamourhatscher“ schlägt ein edler Cast in nobel eingerichteten Zimmern, auf Wiesen und in Gärten eigentlich die Zeit tot, und stellt die Steifheit einer elitären Zwangsgesellschaft voller hemmender Etiketten lustvoll aufgedonnert zur Schau. Wenn schon kein Kuppler, dann ist James Ivory immerhin ein genauer Beobachter einer Zeit, die in strenger Pietäthaftigkeit Lyrik zitiert oder mit gespreizten Fingern Tee trinkt. Daniel Day-Lewis ist in Zimmer mit Aussicht noch der kurioseste Hingucker schlechthin – seine geckenhafte Performance eines fast schon asexuellen Feingeist-Faktotums wäre schon damals auszeichnungswürdig gewesen und fügt sich fabelhaft ein in das wortlastige, zögerliche und ewig flanierende Porträt eines verstockten Establishments.

Zimmer mit Aussicht

Der dunkle Kristall

PHANTASTISCHE TIERWESEN UND WO SIE ZU FINDEN WAREN

7/10

 

darkcrystal@1982 Universal Studios

 

LAND: USA 1982

REGIE: JIM HENSON, FRANK OZ

MIT DEN STIMMEN VON: STEPHEN GARLICK, LISA MAXWELL, BILLIE WHITELAW, BARRY DENNEN U. A.

 

Gab es eigentlich ein Leben vor CGI, Motion-Capture und 3D-Modelling am Computer? Ja, die gab es. Und da müssen wir gar nicht mal viel recherchieren, Material dazu findet sich allein schon in der klassischen Kerntrilogie von Star Wars. Ohne Yoda wäre nämlich dieses Universum um einiges ärmer. Dieser kleine, aber mächtige Wichtel mit Spitzohren und schütterem Haar war allerdings weder Maske noch Kostüm, sondern ganz einfach eine Marionette, die sich aufgrund ausgeklügelter Mechanik zu artikulieren verstand und bis heute noch verblüffend echt wirkt. Da kommt die animierte Version des Jedi-Meisters aus Episode I-III bei Weitem nicht an diese authentische, physische Qualität heran. So richtig Yoda ist das Wesen nur in Episode V und VI. Vielleicht noch in Die letzten Jedi, denn da hat Frank Oz abermals und nur bedingt erfolgreich probiert, dem Charme der analogen Tricktechnik zu einem Revival zu verhelfen. 1982 also, als Oz erstmals seine Puppe in der weit entfernten Galaxis hat tanzen lassen, war die Probe aufs Exempel so sehr geglückt, dass der kreative Kopf und spätere Regisseur von Filmen wie Was ist mit Bob? gemeinsam mit Muppets-Erfinder Jim Henson gleich einen ganzen Film auf diese Art gestalten wollte.

Der Titel dieses aufwändigen Mammutprojektes ist Der dunkle Kristall, ein Fantasymärchen mit ganz viel Magie, dunklen Mächten und geheimnisvollen Landschaften. Die Produktionszeit dauerte um die fünf Jahre – kein Wunder, wenn man all die Kreaturen betrachtet, die hier in seltsam surrealen Biotopen aus ihren Verstecken kriechen, zwinkern und funkeln. Allesamt animatronisch, als Hand-, Stab- oder Ganzkörperpuppen. Mit und ohne Fell, schuppig, pflanzenähnlich oder insektoid. Hensons bislang aufwändigstes Werk wirkt stellenweise wie ein lebendig gewordenes Bild des Malers Max Ernst, gar so phantastisch-realistisch wie bei Ernst Fuchs. Die kargen, von zerklüfteten Bergen flankierten Ebenen, die das teerartige Gespinst eines Palastes beherbergen, das wiederum aus dem Ideenfundus eines Michael Ende hätte kommen können, sind das einzige, was irgendwie an unseren Planeten erinnert. Sonst. so scheint es, feierte das phantastische Kino in der Zeit zwischen Krieg der Sterne und der Unendlichen Geschichte einen vorläufigen Höhepunkt entrückter Absonderlichkeit, die realitätsferner kaum sein kann.

Der dunkle, weil beschädigte Kristall dominiert eine Welt, in der die geierähnlichen Skeksen in barockem Ornat ein absolutistisches Regime führen und das elfenartige Volk der Gelflinge zu willenlosen Sklaven gehirnwaschen. Auf der anderen Seite versuchen die gebeugten, schildkrötenartigen Mystics, das dualistische Gleichgewicht ihrr Welt zu halten, was ihnen aber mehr schlecht als recht gelingt. Und wenn sich nicht bald die Prophezeiung erfüllt, in welcher ein Gerfling einst den dunklen Kristall mit dem fehlenden Splitter heilen wird, und das während der Konjunktion der drei Sonnen, die da am Himmel diese fremden Planeten stehen, wird es keine Rettung mehr geben. Dieser Gerfling, der erinnert nicht ungefähr an Tolkien´s kleinen Hobbit Frodo, der den Ring in das Feuer von Mordor befördern muss. Die narrative Dynamik beider Geschichten ist ziemlich ähnlich. Henson und Oz können dem Konzept vom schwachen Element, dass das Mächtige bezwingt, scheinbar jede Menge abgewinnen – und so bleibt der Fortgang des Abenteuers natürlich wenig überraschend. Klar wird dem kleinen Jen das Unterfangen gelingen, auch wenn es manchmal so aussieht, als wäre das Schicksal auf der Seite der dekadenten Spitzschnäbel. Düster ist das ganze Szenario auf jeden Fall, traumartig versponnen und teilweise gar gespenstisch, vor allem dann, wenn Individuen des unterdrückten Volkes zwangslobotomiert werden. Nichts für die ganz Kleinen also, da Der dunkle Kristall obendrein eine bedrückende Schwermut mit sich herumträgt, die vielleicht von all den gebeugten, gepeinigten und bizarren Gestalten herrührt, die diese Dimension bevölkern. Newt Scamander aus der Wizarding World Rowling´s hätte mit der Welt des dunklen Kristalls seine helle Freude – all die phantastischen Tierwesen, die der Magizoologe Jahrzehnte später in seinem Koffer herumträgt, die waren zu Beginn der 80er im Universum eines Jim Henson zu finden, der eine organische Grottenbahnfahrt auf die Leinwand gezaubert hat, deren Biomasse evlutionsadäquates Nischendasein fast schon ad absurdum führt. Und das nur mit Puppen, die jeweils von zwei Personen belebt werden und die, auch wenn der extravagante Film schon einige Jahrzehnte am gekrümmten Buckel hat, immer noch verblüffend lebendig wirken. Vielleicht, weil der Vergleich mit echten Personen einfach fehlt und so der üppige Kosmos in sich geschlossen fast schon zeitlos funktioniert.

Der dunkle Kristall, der als so eigenwillige wie einzigartige Puppet-Show seinen Platz in der Filmgeschichte fristlos reserviert hat, ist eine Sternstunde an Creature-Design und Ausstattung. Ein Must-See für Nostalgiker analoger Tricktechnik, für Guckkastentheater- und Requisiten-Nerds, die den psychedelischen Retro-Charme an Matte-Painting und Studio-Settings leuchtenden Auges zu schätzen wissen. Von einer Neuverfilmung oder einer Fortsetzung der Zaubermär würde ich absehen – die Gefahr. dass all die Kreaturen ihren CGI-Tod sterben, ist einfach zu groß. Vor allem, weil sie lebendiger wie hier ohnehin nicht mehr werden können.

Der dunkle Kristall