The Purge – Die Säuberung (2013)

EINMAL MÖCHTE ICH EIN BÖSER SEIN

8/10


© 2013 Universal / Blumhouse Productions


LAND / JAHR: USA 2013

REGIE / DREHBUCH: JAMES DEMONACO

CAST: ETHAN HAWKE, LENA HEADEY, MAX BURKHOLDER, ADELAIDE KANE, EDWIN HODGE, TONY OLLER, RHYS WAKEFIELD, ARIJA BAREIKIS, TOM YI, CHRIS MULKEY, TISHA FRENCH U. A. 

LÄNGE: 1 STD 25 MIN


Wieder einmal leben wir in einer Dekade, in der so manch kühne Dystopie und gellend in den Himmel schreiende Politsatire von der Realität eingeholt wird. Ganz besonders blendet das schwindende Licht einer regressiven Gesellschaft aus dem Westen, dort, wo der Absolutismus langsam zurückkehrt, und niemand auch nur ansatzweise ernstzunehmenden Widerstand bietet gegen jemanden, der den sozialen Fortschritt des Menschen mit Füßen tritt. Wir wissen längst: Macht korrumpiert den Mensch, eine missglückte Kindheit rächt sich ein Leben lang. Und überhaupt ist Homo sapiens am Ende der Nahrungskette ein Wesen, dass nichts auf der Welt lieber hat als in Ruhe in der eigenen Wohlstandsblase dahinzugammeln auf Kosten der Nachbarn und vor allem auf Kosten jener, die er oder sie sowieso niemals zu Gesicht bekommen, außer vielleicht in den Nachrichten, und die muss man ja nicht zwingend einschalten. Um das zu erreichen, dafür muss man Opfer bringen. Aber nicht die eigenen. All diese Faktoren zusammengenommen ergeben das Bild einer gewissenlosen, egoistischen, reuelosen Spezies, die zu allem bereit scheint, wenn es sich davon einen Vorteil verspricht. Dazu muss diese Spezies gar nicht mal im Kollektiv gehirngewaschen werden wie während der Nazi-Herrschaft oder dem Genozid in Ruanda. Querdenkende Geistesriesen haben im dystopischen Thriller The Purge – Die Säuberung die „Neuen Gründerväter“ eine Gesellschaft etabliert, die sich selbst bis auf einen einzigen Tag kaum mehr gegenseitig etwas antut. Friede, Freue, Eierkuchen 364 Tage lang. Am Tag X, dem Tag der Säuberung, der fast schon so gefeiert wird wie Thanksgiving, ist hingegen jede Gräueltat erlaubt. Und jeder, der mordet, foltert oder missbraucht, bleibt straffrei. Aktuell wäre die Umsetzung einer solch kruden Idee angesichts all der anderen Geistesblitze in Übersee durchaus denkbar.

James DeMonaco wird wohl damals, 2013, nicht unbedingt daran gedacht haben, wie sehr sein Land nach rechts driften wird. Damals dürfte er seine brillante Vision einer Nacht aus Mord und Totschlag vielleicht nur als perfiden Horrortrip betrachtet haben, vielleicht aber auch als beängstigendes Zerrbild einer Gesellschaft, die niemals sich selbst überlassen und nur unter Gesetzen, Regeln und Strafen erzogen werden kann. Der Mensch als unberechenbare Bestie – und scheinbar jede und jeder trägt so viel Aggression in sich, um diese ausleben zu müssen. Ob das Bild, das Monaco zeichnet, einen gewissen Realismus birgt? Die Anarchie, die The Purge lostritt, kurbelt den eigenen Denkapparat an. Wäre man selbst in so einer Lage, wäre man froh, ein Haus wie Ethan Hawke zu besitzen, der zum Gongschlag der Hardcore-Halloween-Nacht das traute Heim hermetisch abriegelt. Sollen die da draußen doch morden, die Familie hats gemütlich. Nun aber kommt die Gretchenfrage ins Spiel: Was, wenn jemand um Hilfe ruft und nirgendwo hin kann? Genauso eine Situation bringt diese Nacht, die Hawkes Familie schon so oft erlebt hat, diesmal gehörig aus dem Gleichgewicht.

Das Gewissen wird zur unsanften Herausforderung, der psychopathische Wahnsinn klopft an die Tür, die Home Invasion kann beginnen. Im strengen Thriller-Modus macht sich The Purge ans Eingemachte, ohne jemals auf sozialkritische Polemik zugunsten satter Gewalt zu verzichten. DeMonacos moderner Klassiker des Near-Future-Kinos hat mittlerweile einen ganzen Rattenschwanz an Fortsetzungen nach sich gezogen, die aber allesamt nur dem Symptom frönen, während das Original eigentlich längst alles gesagt und gezeigt hat, was man sagen und zeigen sollte. Um den Mensch endlich als das zu begreifen, was er ist: Verloren im freien Spiel der Kräfte.

The Purge – Die Säuberung (2013)

Master Gardener (2022)

UNKRAUTJÄTEN ALS KATHARSIS

7/10


mastergardener© 2023 Leonine Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE / DREHBUCH: PAUL SCHRADER

CAST: JOEL EDGERTON, SIGOURNEY WEAVER, QUINTESSA SWINDELL, EDUARDO LOSAN, ESAI MORALES, RICK COSNETT, VICTORIA HILL, AMY LEE U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Gärtnern sollte man nicht trauen. Denn sie sind, so sagt es das Genre des Whodunit-Krimis, meistens die Mörder. Dieses Täter-Klischee ist so dominant, es besingt sogar Reinhard May in einer entspannten Songwriter-Hommage. Die Mörder-Gärtner-Konstellation kann man allerdings auch anders betrachten. Man muss kein Gärtner sein, um einen Mord zu begehen. Man kann auch zuerst einen Mord begehen, und dann, ja, dann zum Gärtner werden. Einfach, um begangenem Übel den Rücken zu kehren. Um neu anzufangen. Um Ruhe und vielleicht auch, wenn’s hochkommt, den eigenen Frieden zu finden mit einer Welt, die bislang nur aus Hass bestanden hat. Für die sich einer wie Joel Edgerton als Narvel Roth ordentlich schämt. Und daher angefangen hat, zu gärtnern. Entdeckt hat er dabei das Königreich einer Wissenschaft. Denn einen Garten die Jahreszeiten hindurch so standzuhalten, dass man dafür Eintritt verlangen kann, dafür braucht es Know-how. Edgertons Figur beschafft sich genau das. Akribisches Einlesen, behutsames Umpflanzen. Zur richtigen Zeit neue Samen aussäen, damit es später blüht. Das alles sehr zur Freude der stinkreichen Witwe Mrs. Haverhill (Sigourney Weaver), die den reuevollen Straftäter und Ex-Neonazi, der ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde und daher untertauchen musste, im Kreise ihrer wolhselektierten Entourage aufgenommen hat. Edgerton wird zum devoten Gesellschafter der Lady und zum Oberaufseher seines Grünzeugs. Kost und Logis sind inbegriffen, mehr braucht einer wie er nicht zu einem späten Frieden, ich will nicht sagen: Glück, denn die Identität aufzugeben und im mittleren Alter komplett neu anzufangen, bedarf eines nicht ganz schmerzlosen Tributs, den man zollen muss.

So darf Narvel eines Tages Maya, die Großnichte seiner Herrin, unter seine Obhut nehmen. Wie es aussieht, scheint auch sie vom rechtschaffenen Weg abgekommen zu sein. Und wer hätte da mehr Erfahrung im Läutern als der Gärtner mit dunkler Vergangenheit. Diese allerdings geheim zu halten, wird nicht lange gelingen. Narvel muss aus seiner Blase treten, um endlich mal ganz uneigennützig für jemanden da sein zu können. Selbstfürsorge ist schön und gut, doch befriedigt sowas nicht auf Dauer. Die Fürsorge zu teilen ist ein Wert, den es nicht zu unterschätzen gilt. Diesen Umstand der Reue und der daraus resultierende, völlig aufrichtige Altruismus – sie durchwirken als ethische Parameter Paul Schraders unbetitelte Trilogie über Selbstreflexion und Umdenken, über Schuld und Wiedergutmachung. Ich nenne sie mal salopp Reue-Trilogie, denn allem anderen liegt letztlich dieser Motor zugrunde. War es in First Reformed noch Ethan Hawke, der sich selbst geißeln musste, um den Schmerz der Welt zu ertragen, lässt in The Card Counter Oscar Isaac als ehemaliger Folterknecht des Militärs die Frage dafür, wer wohl die Verantwortung dafür trägt, seine Kreise ziehen. In Master Gardener ist Narvel Roth einer, der feststellen muss, seiner Vergangenheit in gewissem Maß nicht entrinnen, diese dafür aber nutzen zu können, um anderen, in diesem Fall der jungen Maya, zur Seite zu stehen. Niemand anderer hätte diese Rolle des in sich gekehrten Heckenrosen-Eremiten besser darstellen können als Edgerton. Sein stilles Charakterbild immersiviert mit dem ruhigen, fast schon als hübsch oder betulich zu bezeichnenden Stil Paul Schraders, der zwar in dunklen Abgründen wühlt, doch nur behutsam, wie eine systemische Therapie, weitestgehend fern vom Thriller, aber diesem noch zugeneigt. Sigourney Weaver als geistig verwirrte, elitäre Schreckschraube, die nicht mehr weiß, was sie tut, liefert eine unberechenbare Performance als Verkörperung eines Menschen, dessen Neid auf jene, die das Zeug haben, neu anzufangen, ihn selbst zerfrisst.

Dass aus Schraders Feder auch Scorseses Klassiker Taxi Driver stammt, ist kaum zu übersehen. Auch dort ist das Streben nach ethisch richtigem Handeln die Grundmotivation von Travis Bickle. So wirklich losgelöst hat sich Schrader bis heute nicht von dieser Thematik. Doch warum sollte er. So, wie er diesen Zustand des Findens nach Erlösung variiert, reicht das noch für ein paar weitere, tiefergehende Dramen rund um Werte, auf die es im Leben ankommt.

Master Gardener (2022)

Vincent Must Die (2023)

HIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK

6/10


vincentmustdie© 2023 goodfellas.film


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: STÉPHAN CASTANG

DREHBUCH: MATHIEU NAERT

CAST: KARIM LEKLOU, VIMALA PONS, FRANÇOIS CHATTOT, KAROLINE ROSE SUN, EMMANUEL VÉRITÉ, MICHAEL PEREZ, HERVÉ PIERRE, RAPHAËL QUENARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Eines der wichtigsten Punkte auf der Verhaltensagenda, will man zu den in Zentralafrika lebenden Gorillas aufbrechen, ist folgende: Sieh einem Silberrücken niemals in die Augen, er könnte es als Provokation auslegen und als nächste Konsequenz seinen Status gefährdet sehen. Was das bedeuten würde, muss ich hier gar nicht näher erläutern. Nur: es würde der Gesundheit schaden, fehle der Respekt. Schließlich ist man in seinem Revier, unwillkommen, aber geduldet.

In Zeiten wie diesen ist Homo sapiens, der ja ebenfalls zu den Primaten zählt und irgendwie doch auch mit Menschenaffen, wie wir sie kennen, verwandt ist, auf Impulse von außen hochfrequent eingestellt, wie ein Metalldetektor, der jedes noch so letztklassige Erz im Acker verorten soll. Überstrapaziert, überreizt und traumatisiert, kombiniert mit Trunkenheit oder sonstiger künstlich zugeführter Beeinträchtigung, fehlt nicht mehr viel, um dem Gegenüber, das allein schon durch seine blanke Anwesenheit einen Affront für den anderen darstellen könnte, eine reinzuhauen. Bei Widerworten könnte, wie vor kurzem in einer Wiener U-Bahn, der erste Hieb nur der Anfang sein. Zum Glück ist das Opfer mit dem Leben davongekommen, und derjenige, der dieses in schierer Rage halbtot geprügelt hat, hinter Schloss und Riegel gelandet. In einer überreizten Gesellschaft scheint auch die tragikomische Endzeitmetapher Vincent Must Die zu spielen, obwohl es danach aussieht, als wäre dort alles nur Alltag, und unser Protagonist, angestellt als Grafiker in einer Werbeagentur, versucht nur, wie wir alle, sich manche Wochentage schönzureden und Kollegen mit augenzwinkerndem Humor zu begegnen. Das hätte er besser nicht tun sollen.

Nachdem Triezen eines Praktikanten rastet dieser aus und knallt Vincent seinen Laptop ins Gesicht. Hätte ihn keiner zurückgehalten, würde Vincent nicht nur ein blaues Auge davontragen. Kurze Zeit später wieder: Ein anderer Kollege sieht sich gezwungen, dem sowieso schon in Mitleidenschaft gezogenen Angestellten einen Kugelschreiber ins Handgelenk zu rammen. Nochmal Aua. Wie es dazu kam, kann sich der Täter selbst nicht erklären. Doch diese Verhaltensanomalien sind erst der Anfang einer kollektiven Psychose, die sich als impulsiver Drang manifestiert, Vincent ans Leder zu wollen, egal mit welchen Mitteln. Der Anflug von Paranoia, den das auserkorene Opfer zwangsläufig entwickeln muss, weicht bald einer objektiven Gewissheit, denn Paranoia ist ja schließlich nur die Wahnvorstellung davon, dass es alle anderen auf einen selbst abgesehen haben.

Während Woody Allen in seiner Episodenkomödie To Rome with Love einen ganz normalen Mann von heute auf morgen zu einem Star macht, den die ganze Welt vergöttert – saukomisch interpretiert von Roberto Benigni – passiert in Vincent Must Die die Totalumkehr. Von heute auf morgen ist Vincent der Gehetzte. Eine spannende Prämisse für einen pathologischen Psychothriller, der darauf baut, sich erstmal so anzufühlen, als wäre er ein Vexierspiel, in welchem vielleicht gar nichts so ist, wie es scheint. Dass Stéphan Castang dann die Kehrtwende hinlegt und das Horrorszenario einer Zombie-Apokalypse variiert, auch das gefällt. Doch obwohl das alles so richtig kurios klingt, weicht sich die beklemmende Tragikomödie, bei der man anfangs wirklich nicht so genau weiß, ob man lachen oder sich fürchten soll, zusehends auf zu einem stringenten Survivaldrama, das auf konventionelle Bahnen gerät, obwohl, wie man zwischendurch immer wieder merkt, es das eigentlich gar nicht will. Nur wie man mit einem Auto auf unasphaltierten Straßen zwangsläufig in die Spurrinnen der Vorgänger hüpft, gerät auch Castang auf die vielbefahrene Schneise. Dann tritt Vincent Must Die etwas auf der Stelle; man erahnt auch, was als nächstes kommt, man vermutet ohnehin schon, dass der Mut zu einer Radikalität, die vielleicht verstörend wäre, zugunsten sozialer Interaktionen, die wir alle natürlich begrüßen, weil wir uns damit wohler fühlen, weichen muss.

Nichtsdestotrotz weiß das mysteriöse Verhaltens-Drama ganz genau, wie es seine Allegorie zu setzen hat – und wofür Vincent Must Die eigentlich die Lanze bricht: Für ein Ende sinnloser Gewalt, denn welche andere gibt es denn sonst noch außer jene, die zwar Argumente ins Feld führt, um legitimiert zu werden, letzten Endes aber vermieden werden kann. So grund- und sinnlos hier der eine auf den anderen eindrischt, den Schädel gegen die Kühlerhaube des Autos donnert oder sein Opfer in der Jauchegrube zu ersticken versucht (hoher Ekelfaktor!), so sinnlos ist auch das Leid, das der Mensch dem Menschen tagtäglich zufügt. Aus dieser wechselwirkenden Spirale auszubrechen, scheint unmöglich. Wenn der Blick in die Seele des anderen der Auslöser dafür ist, seiner Aggression freien Lauf zu lassen, ist das letzte Kapitel geschrieben, die Hoffnung verloren. Wie in Bird Box könnte das oberste Gebot dann lauten: Schließe deine Augen, um nicht dir selbst, sondern mir nicht wehzutun.

Vincent Must Die (2023)

Athena

DIE PLEBEJER PROBEN DEN AUFSTAND

6,5/10


athena© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: ROMAIN GAVRAS

BUCH: ROMAIN GAVRAS, LADJ LY

CAST: DALI BENSSALAH, SAMI SLIMANE, ANTHONY BAJON, ALEXIS MANENTI, OUASSINI EMBAREK U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Natürlich beginnt jede Revolution damit, dass einer, der sich vom System unverstanden und ausgenutzt fühlt, nicht auf stilles Kämmerlein macht, sondern diesen Missmut in die Welt hinausposaunt. Dazu braucht es Mumm und den notwendigen Groll. Dazu braucht es einen impulsgesteuerten Antrieb und auf gar keinen Fall Vernunftdenken. Denn würde man das tun, gäbe es Alternativen, die nicht sofort die Anarchie beschwören würden, sondern taktisch vorgehen ließen. Aber so gelingt keine Revolution. Ein Aufstand lässt sich nur mit unkontrollierten Emotionen vom Zaun brechen – der wiederum niederbricht, wenn die Exekutive versucht, dieser Wucht an Wut Herr zu werden, indem sie kühlen Kopf bewahrt. Hitzköpfe haben dabei weniger zu verlieren, geben aber lediglich dem Gefühl ihrer persönlichen Kränkung nach, ohne wirklich ein höheres Ziel zu verfolgen. Dass damit ein ganzes Viertel mit in den Untergang gerissen wird, nehmen Wutbürger in Kauf, die niemals gelernt haben, besonnen zu reagieren. So geht Revolution. Ob das als Auszeichnung für den denkenden Menschen zu werten ist?

Zumindest scheint es nicht so, als würde der halbwüchsige Rabauke Karim nach dem gewaltsamen Tod seines kleinen Bruders Idir durch angeblich zwei Polizisten seinen Denkapparat wirklich nutzen. Für ihn zählt Rache, Gewalt und Anarchie. Und die Befriedung der eigenen Befindlichkeit. Oder viel besser noch: Durch dessen Fähigkeit, das altersgenössische Volk als Anführer um sich zu scharen, wie ein mittelalterlicher Heerführer aus Zeiten, in denen Stärke das einzige Argument einer Gesellschaftspolitik war, fühlt sich Abdel trotz seiner Trauer als ein martialischer Heros, der politische Reformgedanken wie Katapulte vor sich herschiebt. Reform ist etwas, dass sich am einfachsten mit Schwert und Schild durchsetzen lässt. Führung mag zwar Karims Stärke sein, Erfahrung ist es nicht. Und somit haben wir den Salat: Der Mob besetzt die Barrikaden eines Wohnblocks und fordert die Herausgabe der Polizisten, die Idir auf dem Gewissen haben. Das aber wäre als Plot zu simpel: Es gibt da noch Bruder Abdel. Der aber arbeitet für die Polizei, findet sich also auf der anderen Seite wieder und setzt alles daran, Karim vom Weg des Hasses, der Gewalt und der Rache abzubringen. Doch wie verbohrt und stur so ein Junge sein kann, der die Jugend des Viertels um sich schart, zeigt Romain Gavras, Sohn von Constantin Costa-Gavras (Z, Vermisst), in einem postmodernen Schlachtenepos, das trotz seines gegenwärtigen Settings ein Flair wie aus dem Hundertjährigen Krieg vermittelt, fernab jeglichen Fortschritts und gefangen in einer granitharten Rechthaberei, die keiner der Parteien auch nur um Millimeter abrücken lässt.

Athena, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig gar eine Einladung zum Wettbewerb um den Goldenen Löwen erhalten hat, erinnert nicht von ungefähr an den Oscar-Anwärter Die Wütenden – Les Misérables von Ladj Ly. Dieser verfasste für Athena mit Romain Gavras gemeinsam das Skript, und diesmal haben seine kaum klar definierbaren Pro- und Antagonisten noch weniger zu verlieren als im Thrillerdrama aus dem Jahr 2019. Diesmal entfesselt Gavras ein in Rage geratene Menge in einem hitzigen Spektakel aus Nacht und Nebel; aus Tränengas, Feuerwerkskörpern und Projektilgeschoßen. Der Krieg in Athena fühlt sich echt an, rabiat und natürlich auch dumm. Wie jeder Krieg. Dabei gestaltet es sich äußerst schwierig, für die zentrale Figur des Karim, und dann später auch für Abdel, der im letzten Dritten des Films eine völlig radikale, aber wenig glaubwürdige Wandlung durchläuft, auch nur ansatzweise irgend so etwas wie Nähe, Sympathie oder Verständnis zu empfinden. Wer so vorgeht, zu dem hält man Distanz. Zumindest mir erging es so. Denn die Gewalt, die führt zu nichts, das sieht man als Zuseher von der ersten Minute an, als der Mob das Polizeirevier stürmt und den Waffenschrank plündert. Da sieht man schon, wie wenig vorausschauend das ist. Da wundert man sich nur, zu welchen Widersprüchen und zu welchem autoaggressiven Egoismus dieses Vorgehen führt. Denn: Auch wenn der Tod des jungen Bruders den Bürgerkrieg entfacht, ist das Unglück der Mutter keinen Cent wert.

Diese groteske Unlogik erschwert den Zugang zu einer ansonsten wuchtigen Tragödie, die, mit brachialen gewalttätigen Exzessen gespickt, den Menschen als ein Wesen erkennt, dass sich wohl bis auf ewig von seinen Impulsen wird steuern lassen.

Athena

Dogman

DAS UNRECHT DES STÄRKEREN

7,5/10

 

dogman© 2018 Alamode Film

 

LAND: ITALIEN, FRANKREICH 2018

REGIE: MATTEO GARRONE

CAST: MARCELLO FONTE, EDOARDO PESCE, NUNZIA SCHIANO, ADAMO DIONISI U. A.

 

Es gibt wenig Vergleichbares wie die Rolle des Hundes, wenn es darum geht, eine Metapher zu finden für die guten und schlechten Eigenschaften des Menschen. Für die Mechanismen der Gesellschaft und den Urinstinkten hinter vermeintlich sozialer Kompetenz. Der Hund, der ist nicht nur im Abenteuer- und Familienformat eines Lassie oder Beethoven zu finden – er ist in letzter Zeit angesichts der globalen politischen Entwicklung nun auch vermehrt als unmissverständliches politisches Gleichnis zu entdecken, in Filmen wie Isle of Dogs von Wes Anderson, wo es um den Umgang mit Minderheiten geht. In Filmen wie dem ungarischen Underdog, der vom Widerstand der Unterdrückten handelt. Oder eben in Filmen wie Alpha, der zwar nicht sinnbildlich gesehen werden kann, dafür aber die Wurzel des Zusammenlebens zwischen Menschen und Hund in ein pittoreskes Abenteuer verpackt. Der italienische Regisseur Matteo Garrone, der sich intensiv mit den gesellschaftlichen und historischen Strukturen seines Landes beschäftigt und unter anderem mit der phantastischen Anthologie Das Märchen der Märchen barocke Legenden zum Leben erweckt hat, nutzt auch für seinen jüngsten, für die Golden Palme nominierten Film Dogman die Allegorien rund um den Hund.

Kurz nachdem der Film zum ersten Mal aufblendet, kläfft dem Publikum bereits die Aggression entgegen – die Großaufnahme eines wildgewordenen Köters, der sich dem Hundefriseur Marcello unterwerfen muss, um gewaschen und geföhnt zu werden. Marcello bekommt das hin, er kann gut mit Hunden, mit dem gezähmten Wilden, solange es keine Menschen sind. Mitunter hält er die Vierbeiner in engen Drahtkäfigen, was nicht wirklich hundefreundlich ist, doch verwahrlosen und hungern lässt er sie nie. Dennoch – hier lässt sich bereits erkennen, dass Marcello manchmal gerne so wäre wie Simoncino, ein Schläger und Krimineller, ein Soziopath und selbsternannter Tyrann eines heruntergekommenen Viertels irgendwo an der Küste Italiens, das so wirkt wie der Anti-Vergnügungspark des Inkognito-Künstlers Banksy, ein zwielichtiger Randbezirk wie in Jacques Audiard´s Dheepan, wo der Arm des Gesetztes zu kurz geworden scheint und die Starken ihre eigenen Gesetze den Schwächeren aufoktroyieren. Was bleibt dem geschiedenen Vater einer Tochter also anderes über, als sich mit dem Stärksten und Mächtigsten zu arrangieren, das in dieser Gegend herrscht und gebietet. Wenn der Ex-Boxer Simoncino ruft, muss Marcello parieren. Wie ein Hund an der Leine, aus Angst, Gewalt zu erleiden. Das Recht des Stärkeren ist unangreifbar, und eine andere Lösung als dem Gewalttäter klein beizugeben sieht Marcello nicht. Zuckerbrot für die Peitsche in Form von Drogen sollen die Bedrohung mildern, die tagtäglich vor den Jalousien des kleinen Hundeladens auf und ab schleicht. Bis irgendwann der tumbe, menschenverachtende Riese zu viel des Guten will – und der Hundemann dafür büßen muss, wie ein Sündenbock ohne Hörner, der nirgendwo dagegen laufen kann, wiederum aus Angst, alles zu verlieren.

Erst vor Kurzem gab es auf derstandard.at eine Umfrage, welche Filme denn gut, aber zu deprimierend seien, um sie ein zweites Mal anzusehen. Zu diesen Filmen würde ich von nun an auch Dogman zählen. Selten hat eine Parabel wie diese die Gesetze von Gewalt und Macht so behutsam obduziert, zuletzt vielleicht Dustin Hofmann in der Rolle des völlig aus der Bahn geworfenen und zu drastischen Mitteln greifenden Normalbürgers in Sam Peckinpah´s Wer Gewalt sät. Tatsächlich lässt sich dieser mit Dogman ganz gut vergleichen. Beiden wohnt eine ohnmächtige Hilflosigkeit inne, die sie auf der Stelle treten lässt, sofern die letzte Instanz der Gewalt nicht in Anspruch genommen wird. Der Hundefrisör hat irgendwann keine andere Wahl mehr – seine Zwangslage lässt ihn zu etwas werden, was ihn alsbald nicht mehr viel von der Bedrohung, die wie ein Damoklesschwert über seinem Schicksal hängt, unterscheidet. Letztendlich ist es ein biblisches Bild, das sich auftut – eine Art David gegen einen Goliath, den alle hassen und fürchten. Der Schwache misst sich mit dem Starken, will ihn bezwingen. Dieses Umstoßen einer Machthierarchie führt Matteo Garrone zu einer verstörenden Wahl der Waffen in drastischen Bildern aus Qual, Panik und Schmerz. Kaum zu glauben, wie sich aus der bühnenhaften Sozialstudie voller Underdogs und dem sehnsüchtig verträumten Kolorit eines italienischen Neorealismus die erschütternde Chronik einer Befreiung windet. Zwar unbeholfener und mit mehr Ehrfurcht vor dem eigenen Tun und Handeln, aber nicht weniger radikal wie die Tat eines Travis Bickle. Was bleibt, ist ein David ohne Königreich, das Aufatmen in einer neuen, im Dämmerzustand verharrenden Welt. Angstfrei zwar, aber von allen verlassen.

Dogman