The Holdovers (2023)

EIN WEIHNACHTSFILM FÜRS GANZE JAHR

9/10


holdovers© 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ALEXANDER PAYNE

DREHBUCH: DAVID HEMINGSON

CAST: PAUL GIAMATTI, DOMINIC SESSA, DA’VINE JOY RANDOLPH, CARRIE PRESTON, BRADY HEPNER, IAN DOLLEY, JIM KAPLAN, ANDREW GARMAN, STEPHEN THORNE U. A.

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


Er ist die Antithese zu Robin Williams im uns allen bekannten Club der toten Dichter. Er ist zwar nicht ganz so ein militanter Glamour-Misanthrop wie seinerzeit Jack Nicholson in Besser geht’s nicht, doch mit seinem despektierlichen Zynismus gegenüber seinen Schülern hält er nicht hinterm Pult. Kann sein, dass auch der Direktor der sogenannten Benton-High School aus seiner Sicht nicht gut wegkommt, denn der ist schließlich der größte Arsch. Das wusste er bereits, als dieser noch unter seinen Fittichen weilte. Dieser Jemand ist Paul Hunham, ein Underdog und leidenschaftlicher Geschichte-Nerd unter dem Herrn, mit Traumziel Karthago und schließlich die gesamte antike Welt. Hunham schielt, trägt vorgestrige Kleidung, rezitiert alte Lateiner und motzt herum, wo es nur geht. Verständnis hat er immerhin für Schulköchin Mary, die ihren Sohn in Vietnam verlor. The Holdovers spielt in den Siebzigerjahren, das Weihnachtsfest steht vor der Tür, in Neuengland ist alles tief verschneit, wie es sich eben gehört für einen Weihnachtsfilm, der bei genauerer Betrachtung eigentlich keiner ist. Der zwar die für manche schönste Zeit des Jahres als Katalysator für Emotionen nutzt, der aber weit mehr zu sagen hat als nur, sich unterm Christbaum die Hände zu reichen.

The Holdovers sind jene, die übrigbleiben. Der Rest der ganzen Schule macht Ferien irgendwo bei den Familien und Freunden, nur nicht am Campus. Dort hat Paul nun seine Daseins- und Aufsichtspflicht zu erfüllen, gemeinsam mit Mary, die eigentlich wegkönnte, es aber nicht will, da sie ihren Sohn zum letzten Mal hier gesehen hat. Auch einige Schüler haben den Kürzeren gezogen, darunter der 15jährige Angus, der ebenso wie Paul auf niemanden wirklich gut zu sprechen ist und feststellen muss, dass dessen Mama viel lieber mit der Familie ihres Neuen herumhängen will als mit dem Sohnemann. Letztendlich sitzen die drei am Abstellgleis, so, als würden sie nachsitzen. Ein Breakfast-Club der besonderen Art, zwei Wochen zusammen, zwei Wochen Konflikte und das Aneinanderreiben sturer Persönlichkeiten mit dem Potenzial für große Eskalationen. Alexander Payne, bekannt für sein ausgesprochen fein justiertes Radar, was zwischenmenschliche Bockigkeiten betrifft (u. a. About Schmidt, The Descendants oder Nebraska) bringt ein begnadetes Ensemble zusammen, das mindestens so gut ist wie Nicholson und Helen Hunt, oder eben Judd Nelson, Molly Ringwald und Emilio Estevez. Diese drei, die da notgedrungen auf einer einsamen Insel inmitten unwirtlicher Feiertagslaune gefangen sind, müssen nicht zwingend einen Seelenstriptease hinlegen, das wäre zu offensichtlich und auch zu gewollt. Sie bleiben schließlich, was sie sind, und ändern sich nicht. Entdecken aber Verschüttetes in ihnen selbst, das an die Oberfläche kommen will. Und da gelingt Paul Giamatti wohl die Charakterisierung eines Mannes, den man einerseits so kurios findet wie einen Paradekomiker, der schimpft wie ein Rohrspatz und die Wortpeitsche schwingt, den man aber trotz seinen strengen Fischgeruchs (wie manche sagen) unbedingt in die Arme nehmen will. Giamatti verkörpert die Tragikomik so nuanciert und mit Bravour, dass man diesen Menschen am Ende gar nicht mehr seiner Wege ziehen lassen will. Dieser Paul Hunham, den schließt man ins Herz. Und ebenso Mary. Ihre traurige Lethargie, ihr kaum unterdrückbarer mütterlicher Instinkt und permanentes Understatement bietet unabsichtliche Geborgenheit für Giamattis Ego – und nicht zuletzt der bockige Teenie (der viel älter aussieht, als er sein sollte, aber dass ist egal) wird zum liebgewonnenen Schützling wider Willen.

Hier passiert Menschlichkeit und Wärme wie die chemische Reaktion auf natürliche Umstände. The Holdovers ist ein Herzwärmer für alle Tage, vor allem einer für die kalten. Und die Kälte mag da nicht nur wetterbedingt sein. Soziale Interaktion, Zuhören und gegenseitige Verantwortung können leicht zum pathetischen Lehrstück werden – bei Alexander Payne jedoch ist das niemals der Fall. Wo Scham das Annähern vielleicht ausbremst, sind gerade der Trotz, das Selbstmitleid und die Kampfeslust gegenüber einem ignoranten sozialen Umfeld genau das Richtige, um über den eigenen Schatten zu springen. Das ist menschliche Höchstleistung, in einem Film, der als wohltuendes Meisterwerk zu bezeichnen ist. Seit Green Book gab’s sowas nicht mehr.

The Holdovers (2023)

Do Revenge (2022)

WIE DU MIR, SO ICH DIR

5/10


DO REVENGE© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JENNIFER KAYTIN ROBINSON

BUCH: JENNIFER KAYTIN ROBINSON, CELESTE BALLARD

CAST: CAMILA MENDES, MAYA HAWKE, RISH SHAH, SOPHIE TURNER, AUSTIN ABRAMS, ELIZA BENNETT, ALISHA BOE, TALIA RYDER, SARAH MICHELLE GELLAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Sind die Eltern mal berühmte Schauspieler, werden es deren Kinder oft ebenso. Da bräuchte man nur Uma Thurman und Ethan Hawke als Beispiel nehmen, aus dessen Ehe Stranger Things-Star Maya Hawke hervorgegangen war. Da staunt man wieder, wie lange Andrew Niccols SciFi-Streifen Gattaca zurückliegt, denn am Set dieses Films haben sich die beiden kennengelernt. Maya Hawke ist mittlerweile 24 Jahre alt und schon dick im Geschäft. Dank ihres erfrischenden Spiels im Netflix-Knüller rund um düstere Parallelwelten steht ihr eine schillernde Karriere bevor, und der Weg dorthin wird mit mittelprächtigen Werken gepflastert, in welchen sie wie gewohnt ihr strahlendes Lächeln verbreitet, dieses aber nicht die Handlung ganzer Filme pushen kann. Da braucht es schon noch ein knackiges Drehbuch und eine schlüssige Story, die vor allem im Thriller-Genre eine plausible Basis schaffen muss, auf der dann, aufbauend, eine Wendung die andere bedingt.

Die Programm-Virtuosen bei Netflix denken womöglich nicht zweimal nach, wenn ihnen ein Film ins Haus steht, der einen Star aus Stranger Things im Cast hat. Da scheint ganz egal, worum dieser wirklich handelt. Wichtig ist, Publikumslieblingen präsent zu halten. Und ja, natürlich, Maya Hawke zählt zu den Lieblingen der Serie, vor allem auch, weil sie eine queere Funktion übernimmt, und zwar auf eine Weise, die sich nachvollziehen lässt. Auch in Do Revenge ist Hawkes Rolle ähnlich ausgestaltet – sie gibt Eleanor, eine High School-Schülerin, die nicht gerade die Beliebtheitsskala anführt, sondern eher als duckmäuserische Außenseiterin am besten nicht auffallen will. Krasser Gegenpol zu diesem Charakter ist Drea Torres (Camila Mendes) – ein Social Media-Star und It Girl, überall beliebt und bewundert und so authentisch wie billige Weihnachtsbeleuchtung. So ist das, wenn man nur nach außen hin funktioniert – man vergisst zusehends, wer man wirklich ist und welche Werte man vertritt. Jedenfalls sind es unmöglich die, für die man auf sämtlichen Kanälen Werbung macht. Wie auch immer – eines Tages enthüllt ihr Liebhaber ein Sex Tape. Im prüden Amerika ist sowas natürlich Grund genug, die Blamierte schief anzusehen oder ihr die Freundschaft zu kündigen. Geht ja gar nicht. In dieser Not tun sich Eleanor und besagte Drea zusammen, um Rache zu üben. Allerdings auf eine Art, wie wir es in seinen Grundzügen aus dem Hitchcock-Werk Der Fremde im Zug gewohnt sind. Um ungewünschte Emotionen beim Racheschmieden außen vor zu lassen, soll die jeweils andere dem Subjekt des Hasses eines auswischen. Eleanor Dreas Ex-Freund, und Drea jener Kommilitonin, die Eleanor seinerzeit auf einem Feriencamp grausam erniedrigt hat.

In Anbetracht von wohlgesetzter Rache stellt sich mir die Frage: Sollten die zur Rechenschaft Gezogenen nicht wissen, wer ihnen die Suppe versalzt? Normalerweise funktioniert das so: Wenn man Rache übt, denn es geht ja in erster Linie darum, als Absender unübersehbar zu sein, damit der oder die Vorgeführte den Zusammenhang auch überzuckert und die Chance bekommt, sein oder ihr damaliges Verhalten zu reflektieren. In Do Revenge ist schon mal die Ausgangssituation eine, die über sich selbst stolpert, solange kein letales Kapitalverbrechen mit im Spiel ist, denn da muss der Absender niemandem mehr übermittelt werden. Im Laufe des Films aber werden wir sehen, wohin das führt. Und dennoch: das ganze Konstrukt einer Intrigenkomödie kommt nicht aus seiner selbstgefälligen Convenience-Blase heraus. Mit Hitchcock hat das ganze Hin und Her nichts zu tun, viel mehr mit dem zynischen Young Adult-Thrillern Eiskalte Engel von Roger Kumble oder Heathers von Michael Lehmann, mit Winona Ryder in der Hauptrolle.

In Eiskalte Engel gibt sich Sarah Michelle Gellar die Ehre – lustigerweise (oder vielleicht genau deshalb) darf die Ex-Buffy hier als Schuldirektorin die Next Generation des Intrigantenstadels, dem sie selbst mal angehört hat, an die Kandare nehmen. Das alles hilft aber dennoch nicht viel: Do Revenge fehlt der Biss, den die vorhin genannten garstigen High School-Filme einst hatten. Jennifer Kaytin Robinson, Co-Autorin von Thor: Love and Thunder, läutet scheinbar ein neues Zeitalter von viel zu bequemen Rachefeldzügen ein, die sich kaum mehr ins Zeug legen. Der Story-Twist gegen Ende wirkt aufgesetzt, das Vorführen an den Bildungsstätten oder House-Partys war schon mal zorniger, wenn nicht gar perfider in der Wahl der Mittel. Schwarze Komödie? Manchmal ja, meistens jedoch: nein. Bei Do Revenge ist Rache zwar ein süßes Wort, doch kurz danach hätte man gerne wieder etwas Salziges.

Do Revenge (2022)

Anna und die Apokalypse

ZUCKERSTANGEN FÜR ZOMBIES

6,5/10


annaapokalypse© 2018 Splendid Film


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2017

REGIE: JOHN MCPHAIL

BUCH: ALAN MCDONALD, RYAN MCHENRY

CAST: ELLA HUNT, MALCOLM CUMMING, MARK BENTON, PAUL KAYE, CHRISTOPHER LEVEAUX, MARLI SIU, SARAH SWIRE, BEN WIGGINS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Wie sieht denn der Weltuntergang in einer schottischen Kleinstadt aus? Vielleicht genau so wie in diesem 2017 erschienenen Genremix, der sich gleich dreierlei Stilbrocken bedient, nämlich den Versatzstücken des Musicals, des Zombie- und zu guter Letzt des Weihnachtsfilms. Diese Zutaten fallen jedoch am schwächsten aus, und deswegen lässt sich Anna und die Apokalypse auch ganz bequem nach den Feiertagen genießen, wenn man auch schon ein bisschen genug hat von der ganzen Verwandtschaft, den Weihnachtsliedern und den vielen Keksen, die mittlerweile schon viel zu mürb geworden sind. Glockengeläut und Zimtstern-Folklore fehlt in diesem filmischen Wagnis so ziemlich ganz, dafür schneit es ab und an, aber der Schnee ist dann tags darauf, wenn alles den Bach runtergeht, sowieso schon wieder weg.

Mit Musicals kann man mich schwer hinter dem Ofen hervorholen, doch wenn einer wie John McPhail es drauf anlegt, einige Klischees konterzukarieren und etwas Neues daraus zu machen, noch dazu mit Gesangseinlagen, die tatsächlich mitreißen, so schenke ich Anna und die Apokalypse nicht nur einen Blick, sondern leihe ihr auch ein Ohr. Wer überdies Stranger Things mochte und vielleicht gar nicht will, dass die schönste Zeit des Jahres bald vorbeigeht, der kann der Weihnachtsaufführung an einer High School in New Haven entgegenfiebern, die am Tag vor Heiligabend über die Bühne gehen wird. Was alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Hier bahnt sich womöglich das letzte Weihnachten im Rahmen einer zivilisierten Menschheit an, denn ein Virus greift um sich, das aus allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, zu Zombies macht. Wie diese Kreaturen ticken, wissen wir natürlich zu Genüge. Sie schlurfen und torkeln durch die Gegend, und die schiere Menge an gehirnhungrigen Kreaturen macht es aus, dass die Sache schnell zum Problem wird. Anna, ihr bester Freund John und ein paar schräge Nerds der Schule sowie der Obermacho schlechthin müssen sich zusammentun, um zumindest Annas Vater, der vom tyrannischen Direktor Mr. Savage festgehalten wird, zu befreien, um endlich dem Schlamassel entfliehen zu können. An Christbaumkauf und Weihnachtsgans ist sowieso nicht mehr zu denken. Dieses Fest fällt heuer ins Wasser, und da kommen selbst grinchgrüne Kerzenscheinbanausen schadenfroh grinsend voll auf ihre Kosten, wenn die Harmonie zu den Feiertagen einfach nicht halten will.

Während das Escape-School-Szenario prinzipiell nichts Neues bietet, und auch die Charaktere mitunter etwas stereotyp erscheinen: die wirklichen Gewinner dieses blutigen Last Christmas-Spaßes im wahrsten Sinne des Wortes sind die ausgewogenen, enorm rhythmischen und daher auch eingängigen Gesangsnummern. Ella Hunt hat eine volle Stimme, und auch alle übrigen, bis hin zu Hunts Filmvaterfigur, entfachen die richtigen Vibes. Musikalisch dreht Anna und die Apokalypse geschickt am Regler. Was hier abgeht, hört man gern, und vielleicht auch immer wieder, wenn man den Soundtrack auf Spotify sucht. Die Nummern Hollywood Ending und Human Voice sind ganz besonders hier zu erwähnen, weil sie, verteilt auf diverse Rollen, Ensemblestücke abliefern, die mitreißende Dramatik besitzen. Dem Filmgott sei’s gedankt, dass die deutsche Snychro die Finger davon lässt, die Lyrics der einzelnen Lieder einzudeutschen, denn das ist stets ein No-Go, wie Socken zu Sandalen.

In gutem britischem Englisch singen also all die jungen Leute, die vielleicht noch irgendwo den Highway entlang eine Zukunft haben, von Vorhersehbarkeiten und Sehnsüchten, menschlicher Nähe und Selbstreflexion. Anna und die Apokalypse ist ein Weihnachtsfilm, der gut und gern als feiermüder Digestif genossen werden kann, der die Wende schafft vom Kitsch zum kleinen Kult, ganz so wie die siebte Folge aus der sechsten Staffel von Buffy – The Vampire Slayer, in welcher Sarah Michelle Gellar, James Marsters und Co plötzlich alle ihre Stimmlagen proben. Da treffen Zyniker, Musical-Muffel und Bühnenromantiker aufeinander, und alle bringt der Film an einen Tisch. Man möchte fast meinen: eine Art Weihnachtswunder, während es draußen finster wird.

Anna und die Apokalypse

Love, Simon

IMMER NOCH DER SELBE BLEIBEN

7/10

 

lovesimon© 2018 Twentieth Century Fox GmbH

 

LAND: USA 2018

REGIE: GREG BERLANTI

MIT NICK ROBINSON, KATHERINE LANGFORD, ALEXANDRA SHIP, JENNIFER GARNER, JOSH DUHAMEL U. A.

 

Erstaunlich, und eigentlich unerwartet, dass in Zeiten von Life Ball und Regenbogenparade das Thema eines Coming Out einen ganzen Film zu tragen vermag. Wie es aussieht, ist es längst noch nicht selbstverständlich, homosexuell zu sein. Dabei dacht ich, die gleichgeschlechtliche Liebe ist zum Glück nicht mehr etwas, das geheim gehalten werden muss. Angesichts der gegenwärtigen Situation können Defizite aber noch locker aufgeholt werden, und zwar insbesondere an den Schulen. Dort, wo alles, was nicht einer gewissen Norm entspricht, Gefahr läuft, entweder in geschäftiger Übertriebenheit verstanden oder abgelehnt zu werden. Schlimmstenfalls wird gemobbt, das ist dann die schädliche wie schändliche Lösung all jener, die mit dem Anderssein gar nicht umgehen können. Vielleicht, weil sie es auch selbst sind – nämlich anders. Und diesen Umstand niemals zugeben würden.

Simon ist also anders. Aber nur sexuell. Das wird ihm irgendwann bewusst, und irgendwann nimmt er seine Veranlagung auch als gegeben hin. Dass Homosexualität unbedingt abnorm sein muss, sei dahingestellt. Es gibt sie jedenfalls, und das nicht zu gering. Es muss in der Natur einen Grund dafür geben, den wir bislang aber noch nicht kennen. Damit steht das Phänomen nicht alleine da – die Evolution an sich ist ein ganzes Buch voller sauschwerer Sudoku-Rätsel, die keiner lösen kann. Lösen lässt sich nur der soziale Aspekt dieser Andersartigkeit – am Besten mit einem Outing. Erst noch anonym, aber auch nur, weil ein gewisser Blue sich getraut hat, seine Veranlagung publik zu machen. Simon tut das Gleiche, outet sich als Unbekannt – und findet in Boy X, soweit es online möglich ist, einen Vertrauten. Das wäre ja mal nur der halbe Film, gäbe es an amerikanischen Schulen wie dieser hier im Film nicht Kollegen, die Mr. Anonymus entlarven und Stillschweigen gegen Hilfeleistung in Sachen Liebe fordern. Das kann nicht gut gehen, das ist von vornherein schon klar. Irgendwann kommt es ans Licht – warum also nicht dem Erpresser den Wind aus den Segeln nehmen. Und warum nicht den innigsten Freundeskreis einweihen? Gut, da sollte Simon mal mit der eigenen Familie beginnen.

Homosexuell zu sein hat für einen Erwachsenen weniger weit reichende Konsequenzen als für einen Schuljungen. Dawsons Creek-Autor Greg Berlanti hat sich dieser Problematik mit sehr viel Fingerspitzengefühl angenommen und erreicht mit Love, Simon ein Level, dass in den Achtzigern John Hughes mit seinem Breakfast Club geschafft hat. Solche sozialpädagogisch enorm wertvollen Filme stehen und fallen mit der Auswahl seiner Schauspieler, welche die Rollen, die sie verkörpern müssen, auch ausreichend ernst nehmen. Das gelingt nicht, wenn das Star-Ego allem voran steht. Das gelingt, wenn die Figur nur für die Momente der Dreharbeiten wichtiger wird als die reale Person dahinter. Es geht darum, die Ängste, Sorgen und Bedürfnisse nachvollziehen zu können – nicht einfach nur darzustellen. Dazu braucht es einen Regisseur, der teamfähig ist, für eine gute Stimmung am Set sorgt und innerhalb dieser inszenatorischen Geborgenheit viel, wenn nicht alles, aus seinem Ensemble herausholt. Das ist Berlanti gelungen. Nick Robinson als Simon ist ein hin- und hergerissener, tougher und bildhübscher Zweifler, den nicht nur seine Freunde, sondern auch das Publikum schätzt und mag – genauso läuft es mit den anderen Jungdarstellern, die so spielen, als wären sie in ihrem echten Leben. Love, Simon ist aus einem Guss, eine fehlerlos runde Geschichte, jede Rolle respektiert die andere, jedes Outing und jeder Konflikt zu seiner Zeit, die noch dazu, wie es scheint, souverän gemanaged ist. Die einfühlsame Highschool-Tragikomödie überlässt nichts platten Attitüden, wirkt niemals lächerlich oder beschämend, ist aufrichtig, witzig und klug. In Zeiten wie diesen wäre der Breakkfast Club um einen Nachsitzenden reicher, eben vielleicht um Simon, der sich an diesem Samstagvormittag geoutet hätte.

Vielleicht ist Love, Simon in seiner stringenten Lösungsfindung zu glatt geraten. Dass sich im echten Leben all die gesellschaftlichen Knackpunkte längst nicht so vorhersehbar entwickeln, muss natürlich klar sein. Love, Simon ist da schon ein idealisierter Zustand, manchmal zu naiv im berechenbaren Verhalten der Schüler. Doch der Mensch ist im Geiste kein Naturgesetz. Etwas, was Love, Simon nicht weiß oder gar nicht wissen will – umso schöner daher, wenn das Erwachen sexueller Identität so schnörkellos lehrplanmäßig mit einem Selbstbewusstsein einhergeht, an welchem sich alle ein Beispiel nehmen können. Genau dafür ist Love, Simon schließlich da – Als Mutmach-Kino für die Generation Z.

Love, Simon

Power Rangers

DER STOFF, AUS DEM DIE SPIELZEUGHELDEN SIND

4/10

 

powerrangers

REGIE: DEAN ISRAELITE
MIT ELIZABETH BANKS, BRYAN CRANSTON, BECKY G, NAOMI SCOTT, DACRE MONTGOMERY

 

„Bis zur Unendlichkeit, und noch viel weiter!“ Das Leitmotiv kennen wir doch, oder? Niemand geringerer als der legendäre Buzz Lightyear, Beschützer des Universums, hat dieses motivierende Credo drauf. Dabei ist der grünweiß gepanzerte Knilch eine Spielfigur aus Toy Story, die auf Knopfdruck die Arme heben, Heckspoiler aufklappen und einige blecherne Onliner von sich geben kann. Da sind die Power Rangers nicht viel anders. Auch sie beschützen das Universum, und auch sie sind nur Spielzeug. Dass man Spielzeug zu einer Bedrohung werden lassen kann, wissen wir spätestens seit Transformers. Und frühestens seit Masters of the Universe. Es ist Zeit, es zuzugeben – ja, auch ich habe diese Fantasygurke mit Dolph Lundgren als Halbwüchsiger genossen, ungeachtet aller haarsträubenden Logiklöcher. Mittlerweile ist in Sachen Spielzeugverfilmungen einiges weitergegangen – doch weiter als bis zur Wiederbelebung totgeglaubter Actionfiguren dann doch auch wieder nicht. Dabei fängt der zu erwartende infantile Science-Fiction-Spaß sogar ganz vielversprechend an.

5 Teenager, allesamt Außenseiter, die an die Nachsitzrunde des Breakfast Clubs erinnern, geraten zufällig und sogar erst ungewollt aneinander, um dann gemeinsam auf ein seit prähistorischen Zeiten dahinsiechendes, eingegrabenes Raumschiff zu stoßen, dass als mobile Zentrale der ersten Power Rangers reaktiviert wird. Natürlich sind die fünf Freunde die Auserwählten, keine Frage. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Da ist es scheinbar egal, ob der Retter der Welt ein Charakterschwein ist oder ein Intellektueller mit sozialer Ader. Welch ein Zufall, dass genau die richtigen das Schiff betreten haben. Richtig zumindest im Sinne des Castings. Alle 5 sind neue, motivierte Gesichter, und könnten bald in kommenden Serienformaten wiederentdeckt werden. Im Bordcomputer der entdeckten Basis steckt „Walter White“ Bryan Cranston, der wie durch ein Wunder amerikanisches Englisch spricht. Wenn er doch zumindest so herumstottern würde wie Max Headroom. Ihm zur Seite ein seltsam aufgeweckter Roboter mit ALF-Attitüden. Der Film hat seine besten Momente, als jeder einzelne der Kandidaten oder Kandidatinnen seine bzw. ihre Superkräfte entdeckt. Ein bisschen Mystery, ein bisschen Chronicle. Dieser lockere Independentanspruch verblasst dann, wenn Elizabeth Banks als üble Antagonistin die Bühne betritt.

Was passiert hier? Zuerst als Mumie wiedererweckt, mutiert der Tribute von Panem-Star zu einer Trash-Ikone Marke Xenia. In ihrem relativ textilfreien Hartschalen-Kampfbikini und dem goldenen Zepter ist Bösewicht Rita Repulsa ungefähr so ernstzunehmend wie Dolph Lundgren mit blonder Föhnfrisur. Eine zum Fremdschämen lächerliche Figur, was aber nicht an den schauspielerischen Ambitionen von Elizabeth Banks liegt, sondern an der Figur an sich. Und dann der Supergau: Blecherne Dinos und Riesenkäfer ackern sich durch eine Kleinstadt und beeindrucken mit der Beschaffenheit aufgeblasenen Plastikspielzeugs. Dagegen wirken Michael Bay´s Transformers-Kreaturen wie ernstznehmende Bedrohungen. Der Anspruch, martialischen High-Tech anders zu gewanden als Optimus Prime & Co, geht nach hinten los. Power Rangers verspricht anfänglich ein vergnügliches, erfrischendes Aha-Erlebnis, um dann auf ganzer Linie zu enttäuschen. Tatsächlich ist die lebendig gewordene Spielzeugwelt mehr Schein als Sein. Trivialer Kinderkram, hinter dem sich leider kein lohnenswertes Cinematic Universe verbirgt.

Power Rangers

Spider-Man: Homecoming

DEADPOOL FÜR TEENIES

7,5/10

 

spiderman

Der Spinnenmann kehrt zurück, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Frage ist nur, ob wir uns darauf freuen sollen oder nicht. In erster Linie aber flüchtet der ungewöhnlich schlagkräftige Teenie in die mütterlichen Arme der Marvel Studios. Homecoming – das verlorene Schaf ist zur Herde heimgekehrt, rein in den Kosmos der Avengers, da wo er eigentlich hingehört. Angebahnt hat sich das Ganze schon in The First Avenger – Civil War. Die Marvel Studios sind mit grundlegend neuem Konzept die Sache von der Maschekseite angegangen. Ihr Spider-Man präsentiert sich mit Tom Holland als unerwartet unspektakulärer, burschikoser Nerd, der auf Star Wars und Mädchen steht und sich von Superhelden sehr leicht beeindrucken lässt. Holland ist ein Bursche, der unaufgeregt normal daherkommt und das verschmitzte gewisse Etwas besitzt, das erst durch sein Tun und Handeln so richtig zutage tritt. In Civil War war ich schon mal positiv überrascht. Wie wird wohl Homecoming sein, allen bisherigen Fehlzündungen zum Trotz?

Zugegeben, Spider-Man ist wohl jener Superhelden-Charakter, der bislang mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Und damit meine ich nicht abgrundtief fiese Superschurken, sondern Sam Raimi und Marc Webb, die beide versucht haben, Spiderman auf die Leinwand zu bannen. Beide sind an diesem Unterfangen ziemlich gescheitert. Das lag zum einen am Cast. Weder Toby Maguire als manisch-romantischer Jungspund noch Andrew Garfield als Gentlemen mit allzu gewollt lockerer Note haben die Figur so interpretiert, als dass sie interessant geworden wäre. Weder Sally Field als Aunt May und die verkitschte Teenie-Romanze, sei es mit Kirsten Dunst oder Emma Stone, haben zur Qualität beigetragen. Und am Wenigsten die seifenopernhaften Superschurken, die so plakativ und unbeholfen dem Spinnenmann kontra gegeben haben, dass niemand auch nur jemals daran gezweifelt hätte, dass Spider-Man alles zum Guten wenden wird. Bei dieser Vorhersehbarkeit bleibt die Spannung auf der Strecke. All diese fünf vorangegangenen Filme haben immer mehr und mehr versucht, ihre dramaturgischen Mängel mit Bombast zu kompensieren. Höhepunkt des Untergangs war The Amazing Spider-Man – Rise of Electro. Elendslang, überladen und auf seine Effekte reduziert, blieb uns auch nicht erspart, Spider-Man aus allen erdenklichen Perspektiven von Haus zu Haus springen zu sehen. Das Publikum war somit übersättigt. Bitte keinen Spiderman mehr.

Es sei denn, Sony schickt den Burschen wieder heim. Und Marvel integrierte Spider-Man in sein Cinematic Universe, als wäre er nie weg gewesen. Es gelingt somit ein kleines Wunder. Spider-Man: Homecoming ist die bisher beste Verfilmung des Strumpfhosenteenies. Warum?

Weil Marvel mit der Zeit geht. Und – anders als Kollegen wie Michael Bay – weil Marvel bemerkt hat, dass das Effektkino seinen Zenit erreicht hat. Das Superheldenkino schafft es kaum mehr, mit visueller Raffinesse das Genre-Publikum zu überzeugen. Das spezialeffektverwöhnte Auge aller Geeks und Nerds hat im Grunde alles schon gesehen, was CGI zu bieten hat. Was bleibt also übrig als vom Gipfel des Klotzens wieder herabzusteigen, Drehbücher vom Reißbrett zur Seite zu legen und sich wieder vermehrt auf die Geschichten zu konzentrieren. Vielleicht sogar vermehrt auf schräge Charaktere, die seit dem Erfolg der Big Bang Theory salonfähig geworden sind. Bei Spider-Man Homecoming haben die Macher nicht das Tempo, aber Action und Effekte bewusst runtergeschraubt. Und vermehrt ihren Star Tom Holland freie Bühne gelassen. Der sympathische Junge verhält sich wie Deadpool für Teenies. Klug, wortgewandt, mit Hang zum Sarkasmus und mit ganz viel Anfängerglück. Überfordert mit seinen Fähigkeiten und dem Gadget-Anzug von Tony Stark, strudelt er mehr recht als schlecht durch die Nachbarschaft, um Waffenschiebern das Handwerk zu legen. Leider zum Missfallen des arroganten Schnösels und Möchtegern-Mentors Iron Man (strotzend vor Überheblichkeit: Robert Downey), der Peter Parker unter Kuratell stellen will. Spider-Man hilft sich also selbst – und beweist, dass weniger manchmal mehr oder zumindest gleich viel sein kann. Und Michael Keaton gibt den Waffenbauer angenehm pragmatisch und nicht hochgekünstelt wie die sinistren Wirrköpfe, die wir mittlerweile schon leid sind. Gemeinsam erreicht das freche Ensemble aus Nerds, Ganoven und bekannten Avengers-Ikonen die Qualität eines pfiffigen Comicabenteuers zwischen McGyver, Malcolm mittendrin und Kick-Ass. Zwar eindeutig fürs jüngere High School-Publikum gemacht, fügt sich der Film aber nahtlos in den humoristischen Infinity-Kosmos ein und bleibt dankenswerterweise am Boden.

Die Spinne hat sich nach Spider-Man: Homecoming eindeutig rehabilitiert. Und den Gadget-Anzug letztens Endes ehrlich verdient.

Spider-Man: Homecoming