Blood & Sinners (2025)

TANZ DER VAMPIRE

8,5/10


© 2024 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


ORIGINALTITEL: SINNERS

LAND / JAHR: USA 2025

REGIE / DREHBUCH: RYAN COOGLER

CAST: MICHAEL B. JORDAN, MILES CATON, HAILEE STEINFELD, JACK O’CONNELL, WUNMI MOSAKU, JAYME LAWSON, OMAR BENSON MILLER, LI JUN LI, DELROY LINDO, DAVID MALDONADO U. A.

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Get Out!, hatte Jordan Peele damals seinem verzweifelt in der Klemme steckenden Daniel Kaluuya zugerufen, dem inmitten den Films längst schon klar geworden war, wie sehr ihn der perfide Rassismus einer selbsternannten Herrenrasse vereinnahmt hat. Get In!,ruft seit Kurzem Black Panther-Virtuose Ryan Coogler seinem Ensemble zu, das in einer mondhellen Nacht völlig unbeabsichtigt mit zum Niederknien guter Musik das Böse beschwört. Denn solange Vampire nicht irgendwo hineingebeten werden (sofern die Lokalität nicht sowieso öffentlich zugänglich ist), bleibt diesen nur die Möglichkeit, die Lebenden aus der Reserve zu locken. Mit manipulativen Worten, betörendem Geschwafel und herausfordernden Blicken mit Augen, die ein glühendes, nicht menschliches Funkeln in sich tragen.

In den Dreißigerjahren rund um das Delta des Mississippi, wo Alligatoren in der Hitze schlummern, Flechten von den Bäumen hängen und Moskitoschwärme aus der feuchtheißen Luft eines alle Sinne lähmenden Sommers aufsteigen, ist der Rhythmus des Blues die Antwort auf alle Fragen, ob sie gestellt werden oder nicht. Mit dem Blues lässt sich die Zeit anhalten, lässt sich die Hitze, das Liebesleid und all die Repressalien ertragen, welche die White Supremacy bis zum heutigen Tage der schwarzen Bevölkerung angedeihen lassen (siehe The Order mit Jude Law). Der Blues ist Stellungnahme und Eskapismus gleichzeitig, er erzählt von den afrikanischen Wurzeln genauso wie von einer möglichen Zukunft, die eine neues, selbstbewusstes Narrativ finden könnte. Er öffnet die Pforten zu anderen Dimensionen, bittet Vergangenheit und Zukunft an einen Tisch. Und weiß genau, dass das Böse, dass die Dunkelheit, genauso nicht anders kann, als den Klängen der Gitarre und den wimmernden, leidenden, kraftvollen Stimmen zu folgen, während das tanzende  Auditorium zeitgleich akkurat und im Rhythmus mit den Füßen stampft. In dieser Nacht werden sie kommen, die Untoten. Sie werden mehr werden. Und sie werden tanzen.

Zum letzten Mal schwangen Untote den Huf beim Musical Anna und die Apokalypse, zuvor noch im legendären Musikvideo von Michael Jackson zum ewigen Hit Thriller. Draculas Entourage hingegen machten zuletzt bei Roman Polanskis Schauermär Tanz der Vampire ganz dem Titel des Films entsprechend das gebohnerte Parkett unsicher, aufgerüscht im Look des Rokoko. Doch so, wie die nach Blut dürstenden Gestalten in Blood & Sinners ihren ganz privaten Hexensabbat schmeißen, gab es den Genremix noch nie. Ryan Coogler hat mit dieser episch anmutenden, enthusiastischen Ballade von realen und mystischen Monstern ein schwer niederzuringendes Highlight des Vampirfilms geschaffen, und so wie Jordan Peele die Themen überkreuzt, um etwas ganz Eigenes zu wirken, gelingt dies auch hier, dank der konzentrierten Arbeit eines Visionärs, der genau wusste, was er will, der die Ideen seines Horrors nicht aus der Hand gegeben hat, um ihn durch andere verwässern zu lassen. Blood & Sinners ist Ryan Coogler ganz eigenes Baby, und das erkennt man zweifelsohne an der geölten Stringenz und an dem Flow dieses Films, der so beginnt, als wäre er ein historisches Gangsterdrama im Dunstkreis des rassistischen Südens der Dreißiger.

Michael B. Jordan, Cooglers erste Wahl, wenn es um die Besetzung seiner Filme geht, darf sich hier gleich doppelt in Schale werfen – als personifizierte Coolness gibt er beide Cousins, die nach längerem Aufenthalt in Chicago wieder in ihre Heimat zurückreisen, um ein Etablissement zu eröffnen. Und nein, das ist nicht der Titty Twister aus From Dusk Till Dawn, sondern eine zum „Juke Joint“ umfunktionierte Scheune, in der zum Einstand des Unternehmens ordentlich gefeiert wird. Dafür rekrutieren die beiden alte Bekannte, allen voran den jungen Preacher Boy Sammie, der die besondere Gabe hat, beim Blues die Schleusen der Hölle zu öffnen. Völlig ungeplant wird die Nacht zur entbehrungsreichen Tragödie, zur blutigen Belagerung. Wer noch Freund war, wird zum seelenlosen Feind, wer noch küssender Lover, beißt plötzlich kräftig zu. Dabei ist der Vergleich mit Rodriguez und Tarantinos Splatter-Feuerwerk nicht nur, was den Schauplatz betrifft, ein zulässiger. Auch der Aufbau der Geschichte, das Heranführen des Publikums an mehr als ein Dutzend Charaktere, die wunderbar gezeichnet sind, erinnert an Tarantinos vorallem vorletztes Werk The Hateful Eight. Wenn Blood & Sinners beginnt, bricht ein neuer Tag an, der in drohender Vorahnung dahinkriecht, in dem sich Menschen begegnen und wiederfinden, die alle an einen Ort gelangen, der die Realität um hundertachtzig Grad dreht und das Paranormale heraufbeschwört.

Grandios, wie Coogler seine Szenen setzt – welche er prophetisch vorwegnimmt, was er darstellt und was nicht. Jetzt schon kultverdächtig ist das Gitarrenspiel des Preacher Boy, während die große Party steigt. Dabei werden die Ahnen wach, verschwimmen die Epochen, zeigen sich Visionen der Zukunft. Dazwischen folgen manche Szenen dem Rhythmus der Musik, als gerate der Film in eine Art Trance. Längst ist Blood & Sinners nicht nur mehr Rassismus- oder Südstaatendrama, sondern wird zum Gangsterfilm, zum Thriller, zum Horror. Zur tragischen Liebesgeschichte, zum Veitstanz einer schwarzen Gesellschaft, die erst durch die Aggression der Blutsauger auf Augenhöhe mit den Weißen gerät. Und immer, immer wieder diese hypnotische Musik; der ungebremste, sich verselbstständigende Erzählfluss, die getriebene Handlung, in der sowohl das angststarre als auch das todbringende Ensemble lückenlos miteinander harmoniert. Diese Opulenz bringt dabei die Tragweite eines erfrischend wiederbelebten Vampirismus zurück, den Anne Rice vor vielen Jahrzehnten schon entworfen und mit Interview mit einem Vampir eine ungewohnt geglückte Verfilmung verdient hat. Blood & Sinners könnte nun eine Art Nachfolger dieses Klassikers sein; neu durchdacht, innovativ arrangiert, doppelbödig und progressiv – ohne dabei aber darauf zu verzichten, was schon seit jeher in solchen Albträumen für Faszination sorgt. Diesem Albtraum aber gibt man sich hin, man lässt sich mitreißen, dabei verblassen mühsame Nachahmungen wie Nosferatu von Robert Eggers, insbesondere in der Darstellung der spektakulären Schlusssequenz, die Vampire, den Blues und den Sonnenaufgang über dem Mississippi zu einer immersiven, spektakulären Kinoerfahrung macht.

Wichtig dabei ist: Es gibt eine Post-Credit-Szene, die man nicht verpassen sollte, denn mit ihr schließt sich der Kreis.

Blood & Sinners (2025)

How to Blow Up A Pipeline (2022)

BREAKING BAD FÜR DEN GUTEN ZWECK

7/10


howtoblowuppipeline© 2023 Plaion Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DANIEL GOLDHABER

DREHBUCH: ARIELA BARER, JORDAN SJOL & DANIEL GOLDHABER, NACH DEM BUCH VON ANDREAS MALM

CAST: ARIELA BARER, KRISTINE FROSETH, LUKAS GAGE, FORREST GOODLUCK, SASHA LANE, JAYME LAWSON, MARCUS SCRIBNER, JAKE WEARY, IRENE BEDARD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Verbrechen zahlt sich aus? Vielleicht in der Politik, da merkt man nicht sofort, was im parlamentarischen Hinterzimmer alles beredet wird. Oder, wenn ein ganzes Volk an einem Strang zieht. Sowas nennt man dann Revolution, die wiederum Sinn macht, wenn Alleinherrschaften gestürzt werden sollen. Verbrechen aber im Gewand von linkem oder rechtem Idealismus zieht meist einen Rattenschwanz aus Ahndung und Vergeltung nach sich. Niemand kann verstehen, wie Gewalt – sei es nun gegen Menschen oder gegen Dinge – als gesetztes Zeichen für eine bessere oder andere Welt jemals genau dorthin führen soll. Um andere aufzurütteln? Die, die es vielleicht zum Umdenken bringen könnte, haben längst schon ihre Türen geöffnet, bevor sie eingerannt werden. Die anderen hängen in ihrer Borniertheit sowieso an ihrer Meinung. Und können statuierte Exempel wie im vorliegenden Film nur verurteilen oder geringschätzend belächeln.

Einen Kreuzzug gegen die kapitalistische Weltherrschaft zu führen ist, als würde man eine Festung mit Graffitisprays stürmen. Klimakleber blockieren zwar die Straße, blockieren aber auch ein Umdenken, weil Aktionen wie diese ganz andere Emotionen auslösen, nicht aber jene, die die Umwelt betreffen, die im Argen liegt. Idealisten, die eine Pipeline sprengen wollen, um den Ölfluss und damit die Konzernroutine zu stören, packen das Übel nicht an der Wurzel, sondern reißen dem Unkraut lediglich die Blätter aus. Ihre Vorgehensweise ist eine persönliche, und keine fürs globale Allgemeinwohl. Das erfährt man, wenn man sich How to Blow Up A Pipeline ansieht, basierend auf dem gleichnamigen Ratgeber für aktivistische Kriegsführung. In diesem Independentdrama treffen acht vom Leben im Stich gelassene, junge Menschen aufeinander, die sich in der Wüste von Texas einem Sabotageakt verschreiben, der, wie der Titel schon sagt, die Ölzufuhr eines Rohstoffgiganten an zwei auseinanderliegenden Stellen zumindest eine Zeit lang stoppen soll. In die Wege geleitet soll dies mit ordentlich Sprengstoff werden – einem vorzüglich selbst gemixten. Und schon erinnert das ganze Szenario ein bisschen an Breaking Bad – nur statt Crystal Meth, das ja wirklich nicht fürs Allgemeinwohl, sondern nur für den eigenen Profit hergestellt wird, mixt der in Sprengstoffen versierte Autodidakt Michael mit angehaltenem Atem und ruhiger Hand ein ganz anderes Pulver zusammen. Eines, dass Stahl, Nieten und alles andre in seine Einzelteile zerlegen soll. Die anderen sieben helfen dabei, füllen ganze Fässer mit Ammoniumnitrat, checken die Lage und schwören sich auf ein Gelingen des Anschlags ein, der tunlichst keine Menschenleben gefährden soll, denn schließlich geht es ja um die Menschlichkeit, um ein besseres Leben, um ein Umdenken. Mord wäre da das falsche Signal. Und Sachbeschädigung?

Regisseur Daniel Goldhaber bewundert seine acht Seelen, die im Winter der amerikanischen Wüste die Welt verändern wollen. Ja, er sympathisiert gar mit ihnen und erklärt sie zu Kreuzrittern, die sich Gehör verschaffen müssen. Andererseits aber schnipselt er ins fast schon semidokumentarische und genau beobachtete Making Of eines Anschlags die in groben Eckdaten zusammengefassten persönlichen Beweggründe jeder und jedes einzelnen. Dabei wird klar, dass selten der globale Zustand unserer Welt der Motor für die nun vor uns liegende Aktion darstellt, sondern ausschließlich persönliche Kränkungen, Benachteiligungen und gesundheitlicher Schaden. Ist das Ganze dann nicht eher eine Frage der Rache? Der Vergeltung? Die einzige Möglichkeit, sich den eigenen Schmerz und die Ungerechtigkeit rauszuschreien, weil ihn sonst keiner hört?

How to Blow Up A Pipeline ist fraglos eine spannende Chronik, und bietet aufgrund der unterschiedlichen Charaktere, die mit ihrer desillusionierten Grimmigkeit schließlich doch etwas gemeinsam haben, potenziellen Zündstoff, der das ganze Vorhaben bereits intern hätte scheitern lassen können. Das gemeinsame Ziel allerdings – die Aussicht, nichts mehr verlieren zu können, schweißt alle zusammen. Verzweiflung, Gruppendynamik und Teamgeist bilden die Essenz, die vorhanden sein muss, um Tabula rasa zu machen. In Goldhabers Film steht also primär die Erforschung der Parameter im Vordergrund, die zur praktischen Umsetzung radikaler Ideen führen. Andererseits kann Goldhaber auch nicht anders, als die Wahl extremer Mittel, um ein Statement zu setzen, für vertretbar zu befinden.

Von daher ist sein Film durchaus imstande, zu beobachten und zu provozierien. Am Ende wird das Charaktedrama gar zum – zugegeben etwas konstruierten – Thriller inklusive Story-Twist. Darüber, ob How to Blow Up A Pipeline nun aber Partei ergreift oder nicht, lässt sich streiten. Ich zumindest meine, er tut es. Doch wenigstens liegt hier – zwischen Wut und Pipeline – eine logische Verbindung vor, während das Anschütten berühmter Gemälde mit Tomatensuppe vielleicht doch am Ziel vorbeipatzt.

How to Blow Up A Pipeline (2022)

Till – Kampf um die Wahrheit (2022)

DER HASS AUS DEM WESTEN

7/10


till© 2022 ORION RELEASING LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: CHINONYE CHUKWU

BUCH: CHINONYE CHUKWU, KEITH BEAUCHAMP, MICHAEL J. P. REILLY

CAST: DANIELLE DEADWYLER, JALYN HALL, WHOOPI GOLDBERG, FRANKIE FAISON, HALEY BENNETT, JAYME LAWSON, TOSIN COLE, SEAN PATRICK THOMAS, KEVIN CARROLL U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Immer wieder erstaunt es, obwohl man es schon längst wissen sollte – aber vermutlich nicht wahrhaben will: Der Mensch ist in seiner Bösartigkeit jedes Mal aufs Neue Weltmeister. Mit Argumenten wie anderer Mentalität, dem Empfinden einer anderen Wahrheit oder entschuldigenden Beschwichtigungen, die besagen, dass die Täter es nicht besser wussten, lässt sich in Fällen wie diesen nicht mehr beikommen. Das hier sind Manifestationen  kanalisierten, vorsätzlichen Hasses, wie er niederträchtiger kaum sein kann. Unter einem solchen Lustgewinn feierten in Europa Rechtsextreme auf Kosten der jüdischen Minderheit ihre ungehemmte Macht, bevor der Weltkrieg losbrach. Das Trauma der USA hingegen ist der beschämende Umgang mit dem Bevölkerungsanteil, der afrikanischen Ursprungs ist und dessen Vorfahren gewaltsam aus ihrer Heimat verschleppt wurden.

Im 19. Jahrhundert gab es, wie wir alle wissen, den Sezessionskrieg, dann die Befreiung der Sklaven – jedoch kein Umdenken vor allem im Süden, in welchem nicht nur der gesellschaftliche, sondern auch der institutionelle Rassismus die längste Zeit noch seine menschenverachtenden Regeln exekutieren wird. In diesen toxischen Dunstkreis der 50er Jahre will sich der vierzehnjährige Till begeben, der seine Verwandten im Süden besucht. Mama ist da zwiegespalten – sie weiß von den Schikanen da unten im Sumpf, sie bangt um ihren Sohn, bevor er noch seine Taschen packt. Doch er freut sich wie ein Schneekönig, und er soll seine Freude haben. Vorausgesetzt, er benimmt sich unterwürfig genug den Weißen gegenüber, die jede noch so kleine Verhaltensauffälligkeit ahnden würden.

Es kommt leider, wie es kommen muss. Und das noch so schlimme Worst Case-Szenario aus den Angstträumen der Mutter wird von den kommenden realen Ereignissen eingeholt. Emmet Till spricht in einem Laden eine weiße Frau an – und muss dafür büßen. Wie er mitten in der Nacht im Haus seines Onkels und seiner Tante vom lynchbereiten Mob aus dem Bett gezerrt und entführt wird, ist eine Szene, da bleibt einem so ziemlich alles im Halse stecken, was sich gerade dort befindet. Diese Hilflosigkeit, diese Ohnmacht der schwarzen Familie lukriert Panik nicht nur bei den Mitspielenden, auch beim Publikum. Was tun, um diesen armen Jungen die Hölle auf Erden zu ersparen? Letzten Endes ist alles umsonst. Der Junge wird gefoltert, getötet und in den Fluss geworfen.

Wer glaubt, dass dieser Umstand schon die Schwere des Films zur Gänze ausgelotet hat, irrt. Es wird noch tragischer und erschütternder. Spätestens dann, wenn Danielle Deadwyler als trauernde Mutter und spätere Menschenrechtsaktivistin den bis zur Unkenntlichkeit entstellten toten Körper ihres Sohnes in den Arm nimmt, ist das Leid und die Untröstlichkeit so dermaßen greifbar, dass man sich selbst ohne Schwierigkeiten zu impulsiven Rachegelüsten hinreißen lässt, um all diese reuelosen Verbrecher vom Planeten zu tilgen. Der Anblick des Toten schmerzt und verstört, die Zurschaustellung des Opfers mag zwar Grund zur Diskussion über Pietät und Respekt vor den Toten sein, verfehlt aber ihren Zweck, den sie erfüllen sollte, um keinen Millimeter. Wie sehr Deadwyler die Rolle einer Schmerzensfrau einnimmt, die mit Würde ein unerträgliches Schicksal ertragen muss – diese Leistung brachte ihr eine Golden Globe-Nominierung.

Überdies ist es beeindruckend, wie sehr Regisseurin Chinonye Chukwu emotionalen Floskeln ausweicht, auch wenn ihr Film Till – Kampf um die Wahrheit all die Eigenschaften eines konventionellen Dramas trägt, dass vielleicht Gefahr laufen könnte, einer gewissen Tränendrüsen-Sentimentalität zu erliegen. Traditionell, souverän ausgestattet und klassisch Hollywood mag ihr Film sein – die darin eingebettete True Story erreicht aber schon allein aufgrund ihrer so bizarren wie quälend ungerechten Umstände eine selten dagewesene Tiefe, welche den Kummer der Betroffenen aufrichtig ernst nimmt. Das ist Anti-Rassismus-Kino, das mit offenen Armen sein nicht weniger betroffenes Publikum mit auf die Straße holt, um sich einem sinnbildlichen Lichtermeer anzuschließen, das für „Niemals wieder!“ steht.

Dekaden später wird sich ein Drama wie dieses leider noch des Öfteren wiederholt haben.

Till – Kampf um die Wahrheit (2022)

The Woman King

ES WAR EINMAL IN AFRIKA

7/10


thewomanking© 2021 CTMG, Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, KANADA 2022

BUCH / REGIE: GINA PRINCE-BYTHEWOOD

CAST: VIOLA DAVIS, THUSO MBEDU, LASHANA LYNCH, SHEILA ATIM, JOHN BOYEGA, JORDAN BOLGER, JAYME LAWSON, ZOZIBINI TUNZI, HERO FIENNES TIFFIN, ANGÉLIQUE KIDJO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 15 MIN


Wie denn, es zeigt sich kaum jemand echauffiert, dass eine amerikanisch-salvadorianische Filmemacherin einen US-amerikanisch-kanadischen Film über historische afrikanische Ethnien dreht? Ja darf die denn das? Und wie sehr kann der afrikanische Spirit denn da überhaupt nachempfunden werden, wenn niemand, weder die Regie noch alle am Skript Beteiligten, keinen entsprechenden Background vorweisen können? Aber gut, ich will hier keine schlafenden Hunde wecken. Von mir aus kann sich jede und jeder jedem Thema annehmen, es braucht nur gut gemachte Hausaufgaben. Denn was natürlich niemand will, ist eine kolportierte Folklore, die jenes geklittete Bild von Afrika vermittelt, dass exotische Wilde zeigt, die man begaffen kann.

Gina Prince-Bythewood (The Old Guard) wäre nahezu lebensmüde gewesen, hätte sie bei ihrem Film nicht gewissenhaft recherchiert oder sich selbst einige Experten auf dem Gebiet der Völkerkunde zur Seite gestellt. Wir wissen, wie leicht man sich in dieser Thematik in die Nesseln setzen kann. Was sich aber kulturhistorisch bestätigen lässt: Das resolute Volk der Dahomey zeichnete sich aus durch etwas ganz Besonderes: den Agojie – ein Regiment an Kriegerinnen, die den Feinden das Fürchten lehrten. Martialische Heldinnen, bis zu den Haarwurzeln gestählt, trainiert und schlau; taktisch versiert und trotz der im Vergleich zu Männern geringeren Stärke kampftechnisch um Nasenlängen voraus.

Im Zentrum dieser Episode aus dem Jahr 1823 steht die Kriegerin und Kommandantin Nanisca, die unter der weitestgehend besonnenen Führung von König Gezo immer wieder nach neuen Rekrutinnen sucht, um ihre Einheit zu erweitern und zu stärken. Darunter findet sich die gerade mal volljährig gewordene Nawi, die, anstatt an einen reichen Miesepeter verheiratet zu werden, lieber den Weg der Kriegsnonne geht. Und ja, sie macht sich – trotz aufmüpfigen Verhaltens und eigenem Kopf. Wie das eben so ist, bei zukünftigen Heldinnen, die aus der Masse herausstechen werden, weil sie selbst denken, statt nur Befehle zu befolgen. Dass es hier Spielraum geben muss, beweist der Erfolg. Oder das Retten so mancher Gefährtin aus misslichen Lebenslagen. Während an der Küste des heutigen Benin die Portugiesen ihre Sklaven kaufen, droht die Gefahr des Gegners in Gestalt der berittenen Oyo. Dafür muss trainiert, dafür muss alles gegeben werden. Während wir also zusehen, wie Nawi zur toughen Frau heranreift und Nanisca mit ihrer erschütternden Vergangenheit konfrontiert wird, offenbart sich ein ungewöhnliches und pittoreskes Stück afrikanischer Geschichte. Einer Geschichte, die in den Schulen wohl kaum unterrichtet wird, und die wir proaktiv womöglich auch nie nachgelesen hätten, die aber so richtig Aufschluss gibt über ein Afrika, das abgesehen von Hungersnöten, islamischem Terrorismus, Armut und Genozide ausnahmsweise mal stolz erhobenen Hauptes auf Ahnen wie diese zurückblicken kann.

Natürlich ist The Woman King kein afrikanischer Film. Wäre er dies, hätte er ein ganz anderes Vokabular verwendet, wäre auch tiefer in Glauben und Gebräuche lokaler Völker eingedrungen. Wäre metaphysisch geworden, während dieser Film hier jene kulturellen Eigenheiten herausfiltert, die profan genug sind, damit sie überall vertraut erscheinen. The Woman King wird dadurch etwas generisch, steht aber mit beiden Beinen fest am Boden eines repräsentativen Afrikas früher Reisender. The Woman King ist ein amerikanischer Film und folgt einem ganz klassischen, hollywood‘schen Erzählduktus, bei dem ich manchmal nicht weiß, ob mir dieser nicht manchmal zu gefällig wird. Es fällt aber schwer, trotz einiger weniger Längen, die sich aus einem bemühten Plot-Konstrukt ergeben oder John Boyegas schwachbrüstigen Auftritt Bythewoods Film nicht trotzdem als schauspierisches Schwergewicht zu betrachten und als einen Historienfilm, der diesmal nicht die epische Polfilter-Handschrift eines Ridley Scott trägt, sondern lieber seine Heldinnengeschichte ohne kinematographische Extras in den blutbesudelten Staub zeichnet. Viola Davis, Lashana Lynch (der ich stundenlang zusehen könnte) und allen voran Thuso Mbedu als Nawi rauben einem den Atem. Kraftstrotzend, vital und sinnlich sind sie. Intelligent und faszinierend. Von Mbedu (The Underground Railroad) wird man zukünftig noch mehr sehen, ich hoffe es inständig. Sie lässt ihre Rolle in stetigem Fluss, entwickelt sich und reift heran. Hier ist nichts, was nicht in ihre Biografie passt. Ein starkes Stück, das sie hier abliefert. Und ein starkes Stück von allen hier Beteiligten, die sich mit flippernden Zungen ins Gefecht stürzen, mit geölten Körpern und geschliffenen Macheten. Unterstützt von den Trommeln im Score, schmettert der Film mit resonanter Wucht eine Performance auf die Leinwand, die erkennen lässt, wo die Marvel-KriegerInnen aus Wakanda ihren Ursprung haben. Dort, im Königreich Dahomey, liegt der eigentliche Quell des Black Panther.

The Woman King