Maigret (2022)

DIE MÄDCHEN UND DER KOMMISSAR

6,5/10


Maigret et la jeune morte© 2022 Pascal Chantier / Ciné@/F comme Film


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2022

REGIE: PATRICE LECONTE

BUCH: PATRICE LECONTE, JÉRÔME TONNERRE, NACH DEM ROMAN VON GEORGES SIMENON

CAST: GÉRARD DEPARDIEU, JADE LABESTE, MÉLANIE BERNIER, AURORE CLÉMENT, CLARA ANTOONS, ÉLIZABETH BOURGINE, ANDRÉ WILMS, PASCAL ELSO U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Als hätte der österreichische Künstler Gottfried Kumpf den Geist eines ikonischen Polizeiermittlers entworfen, gegossen aus Messing, mit Hut und Mantel, und vielleicht einer Pfeife; die Hände in den Manteltaschen, vor sich hin sinnierend, mit melancholischem Blick. So sieht Gérard Depardieu schließlich aus, wie ein Fels in der Brandung, still im Denken, grübelnd, behutsam. Nicht nur Kumpf hätte an dieser Figur herumgewerkt haben können, sondern auch einer wie Friedrich Dürrenmatt, der mit seinem Kommissär Bärlach einen ähnlichen Kapazunder mit tief ins Privatleben eindringenden Fällen hadern hat lassen. Jules Maigret ist im ähnlich. Georges Simenons Paradeermittler Frankreichs ist wie der Bulle von Tölz an der Seine, nur weniger kauzig, dafür introvertiert und wortkarg. Gérard Depardieu gibt diesem Mann ein eigenes Gesicht, und das, obwohl wir das Konterfei des Stars zur Genüge kennen. Er ist der Paradeschauspieler Frankreichs, somit ist es naheliegend, dass dieser auch mal in eine Rolle schlüpft, die vor ihm bereits Jean Gabin, Heinz Rühmann oder gar Rowan Atkinson innehatten.

Und so schiebt sich der selten lächelnde Mann durch ein Paris jenseits touristischer Attraktionen. Wir sehen maximal den Invalidendom als Kulisse eines Filmstudios. Sonst aber fällt die Metropole der Liebe einem scheinbar letzten Herbst anheim. Der Asphalt ist grau, das Gemüt des kriminologischen Denkers ebenso. Es fällt ihm schwer, sich noch nach Dienstschluss an einen neuen Tatort zu quälen, doch er ist pflichtbewusst und hat eine Mission. Vor ihm liegt eine junge Tote ohne Identität, Messerstiche zieren Brust- und Bauchbereich, das Abendkleid ist rot von Blut. Kommissar Maigret geht fortan den kleinsten Hinweisen nach, die wie Brotkrumen in der Stadt verteilt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die Identität des Opfers lange Zeit unklar bleibt. Doch wie sich nach und nach das Gesamtbild eines Motivs ergibt, bringt Patrice Leconte (u. a. Die Verlobung des Monsieur Hire) angenehm entschleunigt und präzise auf die Leinwand. Wenn auch diese Episode so scheint, als wäre sie nur eine x-beliebige aus einer ganzen Reihe bereits abgedrehter Reihenkrimis.

Zum Glück arbeitet Gérard Depardieu dagegen, und zwar mit einer gewissen Ehrfurcht vor einer Kultfigur, die man nicht so ohne weiteres uminterpretieren kann. Sein Maigret ist keiner, der über den Fällen steht, sondern einer, der nichts dagegen hat, befangen zu sein, weil ihn irgendetwas an seine eigene Biografie erinnert. Mit sichtbarer Lust an der Reduktion lässt Depardieu so ziemlich offen, ob der Art und Weise seiner Arbeit geplantes Kalkül oder intuitive Herangehensweise zugrundeliegt. Diese Unklarheit bereichert Maigret um eine geheimnisvolle Komponente, wenn er fast schon eins werdend mit der urbanen Kulisse über den Bürgersteig wandelt – wie ein Geist, wie eine nicht immer moralische, vielleicht doppelbödige, aber gerechte Institution. Warum Leconte gerade diesen Roman als Vorlage gewählt hat, nämlich Simenons Maigret und die junge Tote, ist vielleicht damit zu erklären, da dieser aufgrund eines recht schlichten Plots eben die Möglichkeit bietet, aus diesem herbstkalten Krimi voller Melancholie viel eher das Psychogramm eines Auserwählten zu kreieren.

Maigret (2022)

Memories of Murder

JAGD AUF EINEN UNSICHTBAREN

8/10

 

memories-of-a-murder© 2003 WVG Medien GmbH

 

LAND: SÜDKOREA 2003

REGIE: BONG JOON-HO

CAST: SONG KANG-HO, KIM SANG-KYUNG, HIE-BONG BYEON, JAE-HO SONG U. A. 

LÄNGE: 2 STD 10 MIN

 

Was genau haben all die uns bekannten und so verehrten Meister des Filmschaffens eigentlich so berühmt gemacht? Steven Spielberg, Roman Polanski, Jean Pierre Jeunet oder Quentin Tarantino – sie alle konnten mit ihren ersten Arbeiten ihr außerordentliches Talent unter Beweis stellen, ihren Stil aus der Taufe heben oder zeigen, in welchen Kategorien sie bestimmt keinen Meister mehr bräuchten. Eines dieser sogenannten Lehrstücke oder Anfangswerke hat auch Oscarpreisträger Bong Joon-Ho vorzuweisen. Ein Werk, schon 17 Jahre alt, erstaunt mit einer narrativen Selbstsicherheit, hinter der ein wahres Naturtalent stecken muss. Ich bin sogar versucht zu sagen, dass das Kriminaldrama Memories of Murder zu den besten Arbeiten zählt, die der Koreaner jemals aufs Kinopublikum losgelassen hat. Dabei ist mein persönlicher Favorit immer noch die postapokalyptische Parabel Snowpiercer, unmittelbar gefolgt von einem Film, der stark an das Vokabular eines David Fincher erinnert, insbesondere an dessen True Crime Drama Zodiac.

Auch Memories of Murder beruht vage auf wahren Begebenheiten, oder sagen wir: hat sich davon inspirieren lassen. Schauplatz ist natürlich Korea, allerdings das Korea der 80er Jahre, das noch unter der Fuchtel des Militärs stand. Ein Frauenmörder treibt zu dieser Zeit sein Unwesen. Und zwar einer, der nirgendwo Spuren hinterlässt, der aber anscheinend immer zu einer bestimmten Wetterlage seine Verbrechen verübt. Darauf angesetzt werden ein Kommissar und seine Entourage, wobei diese alles andere als geeignet dafür scheint, gewissenhaft und fokussiert der Sache nachzugehen. Prestige unter den Kollegen ist immer noch oberstes Gebot. Der Fall will gelöst werden, unter welchen Voraussetzungen auch immer. Da kann es durchaus sein, dass so manch Unschuldiger, der sich nicht wehren kann, zum Handkuss kommen könnte.

Und genau hier schafft das koreanische Kino wieder mal etwas, was selbiges aus anderen Ländern sonst nicht kann – oder auch nicht will, weil die Gefahr vielleicht zu groß wäre, durch konterkarierende Elemente und Stimmungen den eigenen Film zu verhauen: es ist die Sache mit der selbstironischen Überzeichnung. Memories of Murder nährt mitunter den Eindruck, in einer genrebezogenen Parodie zu stecken, die mit grotesken Charakterstudien nur so um sich wirft. Kenner des österreichischen Kottan-Fernsehkults werden sich vielleicht manchmal daran erinnert fühlen, allerdings: sobald sich auch nur die geringste stilistische Tendenz für diesen Film manifestieren will, ist der Eindruck auch schon wieder weg. Joon-Ho kontert mit melodramatischen, teils epischen Versatzstücken. Lässt die Kriminaltragödie wie Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder wirken. Lässt seine imperfekten Figuren in ihrer Verantwortung straucheln wie in Dürrenmatts Krimiszenarien. Dazwischen das in fast schon abstrakten Details eingefangene Verbrechen, wie Panels einer Graphic Novel. Dieser Mix ist aber kein Potpourri roter Fäden, sondern ein wohlkomponiertes Stück großes Krimikino, das berührt, irritiert und sich selbst nicht immer ernst nimmt. Sowas kann leicht in die Hose gehen, sowas kann geschmacklos und fahrig sein. Nicht in Memories of Murder: hier ist die Psyche der Ermittelnden genauso relevant wie die Psyche des Mordenden, hier findet die Ohnmacht vor etwas Unberechenbarem seine Bühne für irrationales Verhalten. Dieses Versagen einer Mission – ob resignativ, schadenfroh oder einfach nur melancholisch traurig – so dermaßen facettenreich herauszuarbeiten, ist beeindruckende Filmkunst, auch wenn man fernab jeglicher Genugtuung ratlos zurückbleibt.

Memories of Murder

Feuerwerk am helllichten Tage

DER WÄRMENDE MANTEL DES SCHWEIGENS

7,5/10

 

feuerwerk-hellichter-tag© 2014 Weltkino

 

LAND: CHINA, HONGKONG 2014

REGIE: DIAO YINAN

CAST: LIAO FAN, GWEI LUN MEI, XUE-BING WANG, JING-CHUN WANG, AILEI YU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN

 

Ich weiß nicht genau, was es ist, aber Chinas Filmwelt ist neben historischem Ausstattungspomp unter anderem auch ein Spezialist dafür, melancholische Kriminaldramen zu erzählen. Wie macht es das? Und vor allem: wieso funktioniert das so gut, obwohl die Tempi der Geschichten aufs Notwendigste gedrosselt werden und der Kriminalfall als solcher mehr als ungeöffnete Büchse der Pandora im Hintergrund die Zeiten überdauert, während im Vordergrund menschliche, insbesondere zwischenmenschliche Dramen von Obsession, angeknackster Psyche und autoaggressiver Treue erzählen? Das sind haargenau jene Zutaten, die einen Film Noir erst so richtig sehenswert machen. Der beste seines Genres für mich: Der dritte Mann von Carol Reed, expressionistisch und innovativ, ein Nachkriegsfilm voller ramponierter Seelen und vieler Geheimnisse.

Feuerwerk am helllichten Tage erzeugt eine ähnliche Faszination, allerdings eindeutig rezenter, weniger abstrakter, aber die Zutaten stimmen: Regisseur Dao Yinan erzählt ein tragisches, diffuses Epos mit langem Atem, der sichtbar wird, wenn der Film druch die Wintermonate trägt. Im Zentrum ein Kommissar, der in dürrenmatt´scher Obesssion wie Kommissar Bärlach in Das Versprechen (eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe) einem Mordfall auf die Spur kommen will. Anfangs scheint es nämlich so, als könnten die vielen Puzzleteile noch zueinanderfinden. Und das sind sie, im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Leiche, die gefunden wird, ist zerstückelt und per Güterwaggons in alle Himmelsrichtungen der Stadt verteilt worden. Wie es das Schicksal aber will, werden wie durch Zufall all jene mundtot gemacht, die vielleicht etwas wissen könnten. Und da gibt es noch die junge Frau namens Wu, die Witwe des Ermordeten. Die aber nicht nur ihn, sondern auch schon einen anderen Liebhaber auf gewaltsame Weise verloren hat. Eine Männermörderin? Kommissar Zili geht der Sache nach – und kommt nicht mehr los von diesem unlösbaren Mysterium und genauso wenig von der aparten Schönheit, die als Verdächtige gilt.

Die Taiwanesin Kwai Lun-Mei ist eine unnahbare und gerade durch diese Attitüde faszinierende Gestalt. Liao Fan, der bereits in Asche ist reines Weiß seine Männlichkeit und seine Sicht auf die Welt eines mutigen Frauenbildes hinterfragen musste, liefert als grummeliger, obszöner und gleichzeitig leidenschaftlicher Inspektor außer Dienst, der diesen seinen Fall noch unbedingt lösen muss, eine wunderbar ergänzende, intensive Performance ab. In diesem entschleunigten Rhtythmus kann sich eine hochkomplexe, detailverliebte Geschichte wie diese bestens entfalten. Feuerwerk am helllichten Tage (ja, dieser Titel ist nicht nur so daherpoetisiert) erzählt von Mitschuld, Manie und Selbstaufgabe. Die Protagonisten sind, wie für einen Film Noir, allesamt und auf gewisse Weise traumatisiert, ein Opfer ihrer Pflicht und ihres verbissen gelebten Alltags. Identifikationen sind sie keine, dafür aber tastet sich das Genre des Kriminalfilms weg von der Plakativität des Ermittelns und Erhaschens. Hin zu einer balladenhaften Schwermütigkeit ohne eine Spur von Selbstmitleid. Dafür aber mit dem Stolz des verträumten Verlierers.

Feuerwerk am helllichten Tage

Die Hölle

DER FEIND IN MEINEM AUTO

7/10

 

hoelle

REGIE: STEFAN RUZOWITZKY
MIT VIOLETTA SCHURAWLOW, TOBIAS MORETTI, ROBERT PALFRADER

 

Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen? Der Titel eines von Rainhard Fendrich in den 80er Jahren geschriebenen Austropop-Ohrwurms passt wie bestellt zumindest in die erste Hälfte des von Oscarpreisträger Stefan Ruzowitzky inszenierten urbanen Psychothrillers, der neben jeder Menge Suspense tatsächlich auch großzügige Actionszenen in der ewigen Wienerstadt aus dem Ärmel schüttelt. Doch die Action ist bei Österreichs Regie-Glückskind eigentlich nur als Bonus zu betrachten. Ruzowitzky´s große künstlerische Liebe gilt seiner Hauptdarstellerin – Violetta Schurawlow. Das Gesicht der gebürtigen Ukrainerin ziert nicht nur das Filmplakat im Großformat, auch so ziemlich die ganze Laufzeit des Streifens über schwelgt Kameramann Benedict Neuenfels in der bockigen Trostlosigkeit ihres Blickes – meist im Profil, und oft auch im Close up. Schuwawlow erinnert an Hillary Swank in Million Dollar Baby – so verbissen, selbstzerstörerisch und rebellisch geistert die junge Frau durch ein fremdes, unnahbares, flirrendes Wien. Und boxen kann sie auch. Allerdings Kickboxen ganz so wie van Damme, und das mit verheerender Wirkung, bevorzugt jenseits des Rings.

Unsere Anti-Heldin, die der Hölle entkommen muss. ist eine gescheiterte, missbrauchte Existenz, die ihrer Welt mit Wut und Zorn begegnet, stets begleitet von einer unterschwelligen Aggression ihrer Familie, den Männern und dem Gesetz der Straße gegenüber. Ihr zur Seite steht ein ausnehmend famoser Tobias Moretti. Sein schnauzbärtiger Kommissar ist unfreundlich, grantelnd und gleichzeitig fürsorglich. Vor allem jemand, der sich sein Leben genauso anders vorgestellt hat wie sein taxifahrender Schützling. Eine verkorkste, nach Nähe suchende Figur, die David Fincher verwenden würde, gäbe es eine Wiener Version von Sieben. Wien eignet sich ja für bizarre Krimis ja besonders gut. Die Stadt ist eine Metropole des Morbiden, die vor allem in ihren alten Zinshäusern und engen Hinterhöfen, die an Polanski erinnern, ausreichend Platz für Suspense bieten. Natürlich ist Die Hölle nicht so radikal und ausweglos wie Sieben. Denn Sieben hatte so jemanden wie Schurawlow nicht. Eine Kämpferin, die sich den Widrigkeiten ihres Lebens trotzig entgegenstellt. Und vor allem einem Peiniger, der sündigen Musliminnen die Hölle des Koran auf Erden bereitet. Ein nicht weniger grauenerregender Ritualmord, ebenfalls religiös motiviert wie die sieben Todsünden. Ruzowitzky erspart uns die Morde im Detail. Sein Film setzt auf die düstere Stimmung eines klassischen Serienkiller-Thrillers wie Copykill und orientiert sich, wie bereits erwähnt, stark an Wegbereitern aus dem französischen und amerikanischen Kino, wahrscheinlich, um sein Werk auch international erfolgreich vermarkten zu können. Was ihm aber nur bedingt gelingen wird. Zu manieriert, ja vielleicht sogar zu austauschbar ist sein Film. Spannend, das natürlich. Und weniger belanglos als Cold Blood, der trotz guter Besetzung inhaltlich ziemliche Schwächen aufwies. Aber im Genre des Psychothrillers sind die Plätze für denkwürdig innovative Filmperlen so gut wie durch die Bank besetzt. Und da hat Hollywood, und auch Frankreich schon so gut wie alles gesagt.

Für den kinomuffeligen Österreicher allerdings kann Die Hölle zu einem mitreißenden Genuss werden, vor allem, weil er mal neben Tatort, Kottan und Trautmann auch mal düstere Spannung jenseits des bewährten Wiener Lokalkolorits präsentiert bekommt. Somit kann Die Hölle überall spielen. So bleibt Ruzowitzky´s neuester Film neben all der lehrbuchartigen Geradlinigkeit eines klassischen Thrillers vor allem eines: atmosphärisch, latent depressiv und überraschend gut besetzt – und das ganz ohne Heimvorteil.

Die Hölle