The Kindergarten Teacher

DIE MOZARTS VON HEUTE

7,5/10

 

kindergartenteacher© 2018 Koch Films

 

LAND: USA 2018

REGIE: SARA COLANGELO

CAST: MAGGIE GYLLENHAAL, PARKER SEVAK, GAEL GARCIA BERNAL, ROSA SALAZAR, MICHAEL CHERNUS U. A. 

 

Bist du ein Naturtalent, musst du dieses Können nutzen – und etwas daraus machen. Natürlich, klingt irgendwie logisch. Die Frage ist nur, ob man das, was man gut kann, auch wirklich können will. Das wäre natürlich sinnvoll, denn wenn dir etwas leichtfällt, ist das schon die halbe Miete auf dem Weg zum Ruhm. Blöd wird’s dann, wenn du kein Talent hast für etwas, was du aber gerne machen willst. Du tust es – für dich. Allerdings kräht dann kein Hahn danach. Was macht das mit dem eigenen Ego? Nichts Gutes. Besser man lässt es. Oder konzentriert sich auf die, die´s können, aber vielleicht noch zu klein sind, um den Fuß schon in die Tür des Erfolges zu setzen. Sowas hat man mit Mozart auch getan. Mozart ist auf ewig berühmt. Das Genie schlechthin. Die Kindheit dankt für ihre Auszeit, denn die war nicht vorhanden. Das sind halt die Opfer, die ein Wunderkind bringen muss, mag es auch für die Zukunft schaden. Doch anerkannt zu werden, vor allem in Zeiten der Likes und Reactions und Followers, das ist es einfach wert, ungeachtet der Frage, ob es das eigene Leben wirklich braucht oder nicht.

Wenn ein Pädagoge also ein Kind entdeckt, mit unglaublichem Potenzial, das nach Förderung schreit – was tut man da? Und was tut man, wenn dem Kind genau dort der Meister vom Himmel vor die Füße gefallen ist, wo man selbst versagt? Maggie Gyllenhaal als Kindergartenpädagogin steht vor genau dieser unfassbaren Tatsache, einen sechsjährigen Jungen in ihrer Gruppe zu haben, der aus dem Stegreif die schönsten Gedichte formuliert. Die Pädagogin staunt, ist über alle Maßen begeistert – und weiß: wird das Kind nicht gefördert, dann ist das Verschwendung. Sie schreibt die Gedichte also auf – und trägt sie im eigenen Poesie-Kurs vor. Die Kollegen sowie auch der Lehrer sind nicht weniger sprachlos. Was sie aber verschweigt, das ist deren Herkunft. So genießt sie diese Anerkennung ganz für sich, während sie gleichzeitig versucht, den Knaben für den kommenden Erfolg zu rüsten, der ihm als genialen Poeten in die Wiege gelegt worden sein muss. Das Problem: den Eltern ist das relativ egal. Wichtig ist nur, dem Jungen geht’s gut. Mit Talent aber, so denkt Maggie Gyllenhaal, geht man nicht so um. Sagt eine, die den Neid aufs Kind mit obsessiver Behütung kompensiert.

In ähnlichen Filmen wie Jodie Fosters Wunderkind Tate oder Begabt mit Chris Evans waren die Kids mit ihrer Hochbegabung nicht alleine, zumindest ein Elternteil hatte da ein Auge drauf. In The Kindergarten Teacher, des Remakes eines 2014 erschienen isaraelischen Films, sind es nicht die Eltern, sondern eine Fremde – und das hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Maggie Gyllenhaal agiert als vom eigenen Nachwuchs ignorierte Mutterfigur in der Existenz- und Erziehungskrise mit befremdender Beharrlichkeit und verstörendem Idealismus. Ihre Figur hat Tendenzen zu Robert De Niros verzweifeltem Ringen nach Anerkennung in Martin Scorseses The King of Comedy. Andererseits aber moderiert sie erstaunlich ambivalent die Überlegungen dieses wirklich bemerkenswerten Independentdramas, das über der alltäglichen Selbstbehauptung in einer Leistungsgesellschaft nachdenkt, in dem der Wert eines Menschen lediglich an seinem Können, und nicht an seinem Charakter bemessen wird. Wo Talent alles ist, und ein glückliches, zufriedenes Leben, das für einen selbst genug ist, immer weniger bedeutet.

The Kindergarten Teacher

Begabt

TROTZDEM KIND SEIN

7/10

 

begabt© 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

REGIE: MARC WEBB

MIT CHRIS EVANS, McKenna Grace, Octavia Spencer, Lindsay Duncan u. a.

 

Kann denn das wahr sein? Mit sprachlosem Staunen und heruntergeklappter Kinnlade starren Mama oder Papa auf den Befund der Psychologin, die den IQ des eigenen Kindes ausgetestet hat. Und da steht es schwarz auf weiß: Der Nachwuchs ist hochbegabt. Was kann es Schöneres und Stolzeres für die Elternschaft geben, als die Gewissheit, dass der Erbe es mal zu etwas Erstaunlichem bringen wird. Was Anderes kommt ja schließlich gar nicht infrage. Wenn schon hochintelligent, dann muss diese Gabe auch eingesetzt werden. Zum Wohle aller, zum Wohle der Menschheit. So ein Superhirn muss fortan nun Dinge verstehen und begreifen, die andere nicht mal ansatzweise verstehen. Und Probleme lösen, von deren Existenz wir alle keine Ahnung haben. Da kann man wirklich stolz sein. Da sind ja die Eltern sofort und quasi automatisch auch gleich mit hochintelligent, obwohl sie so gut wie gar nichts dazu beigetragen haben. Na gut, den Drill dahinter, damit der Status Quo nicht ungenutzt bleibt. Diese Gabe, die ist einfach da. Manche Kinder haben den Durchblick auf die Welt einfach mit im Programm, wie Haarfarbe, Augenfarbe oder das Muttermal hinter dem Ohr. Nur für Haar- und Augenfarbe muss das Kind nicht seine notwendige Kindheit verwirken, auf die es menschenrechtsmäßig einen Anspruch hat. Für seine Intelligenz mitunter schon. 

Hochbegabung ist beileibe keine Auszeichnung, sondern viel mehr eine Bürde. Denn nichts will ein Kind weniger, als nicht dazuzugehören, auch wenn es etwas Besonderes ist. Mit dem Attest der Hochbegabung bekommt man den Status des Außenseiters gleich mit. Ist schon seltsam, so viel Verstand. Damit kann vielleicht Sheldon Cooper umgehen – die Mehrheit dieser Kinder allerdings nicht. Oder nur schlecht, wenn sie nicht behutsam begleitet werden und Kind sein dürfen, wir alle anderen auch.  

Spätestens da stellt sich Captain America Chris Evans quer. Seine Nichte und Ziehtochter, die Lehrerin und Mitschüler mit ihrer exorbitanten Auffassungsgabe beeindruckt, hat zuallererst mal das Recht auf eine normale Kindheit. Sonderschule nein danke. Ein Leben, so natürlich wie möglich. Ohne allzu viel Druck, ohne Angst, zu versagen. Damit hat der Onkel, der selbst in einer Wohnwagensiedlung lebt und seine Schwester, die allerdings ebenfalls hochbegabt war, zu Grabe tragen musste, durchaus recht. Doch ein Extrem muss das andere Extrem nicht ersetzen. Oder ausschließen. Ist ein sich entwickelnder Geist unterfordert, kann das durchaus weniger liebsame psychologische Folgen haben. Daher: ab zur Elite. So wünscht es sich wiederum die Oma. Was folgt ist ein Diskurs über Sorgerecht, Verantwortung und die Sicht aufs Leben. Da sieht es fast so aus, als würde der Onkel, der es nur gut meint, den Kürzeren ziehen.

Spiderman-Regisseur Marc Webb fügt dem Genre des pädagogischen Films mit dem behutsamen Familiendrama Begabt neue, ergänzende Aspekte hinzu. Seine Jungdarstellerin McKenna Grace ist wiedermal das Ergebnis eines geglückten Castings. Das blonde Mädchen balanciert ihre Rolle geschickt und glaubwürdig zwischen kindlich-altkluger Überheblichkeit und der Sehnsucht, Kind sein zu dürfen, und das mit ganz viel Freispiel. Die Erkenntnis, mehr zu begreifen als andere, kann und wird das Leben ändern. Wie sehr, und in welchen Bereichen des Lebens dies betreffen soll – darüber lässt sich streiten. Begabt ist ein Film über die Grauzonen der richtigen Erziehung, dem Ideal einer Kindheit unter extremen Bedingungen und dem Bedürfnis, für das Kind die beste aller Welten zu wollen. Kluges Kino, dass zum Über- und Nachdenken anregt.

Begabt

The Book of Henry

ÜBER DEN TOD HINAUS

7/10

 

bookhenry@ 2017 Universal Pictures / Quelle: upig.de

 

LAND: USA 2017

REGIE: COLIN TREVORROW

MIT JAEDEN LIEBERHER, JACOB TREMBLAY, NAOMI WATTS, DEAN NORRIS

 

Zivilcourage beginnt bei einem selber. Die kann man nicht auf andere abladen oder andere dafür verantworten. Bevor nichts getan wird, muss etwas getan werden. Schon klar, warum Verbrechen, die in aller Öffentlichkeit passieren, meist ignoriert werden. Es ist die Angst davor, selber draufzuzahlen. Der Selbstschutz ist nun mal stärker als der Altruismus. Verbrechen können auch totgeschwiegen werden, wenn es um Bürger geht, die Macht besitzen. Mit Macht in den Händen darf man so ziemlich alles. Blöd nur, dass es immer Dumme gibt, die dieser Macht folgen. Denn ohne Anhänger wäre der Mächtige auch selbst ziemlich schutzlos. Aber das nur am Rande. Viel wichtiger ist es, anderen zu helfen und notfalls aus ihrer Misere zu befreien. Genau das überlegt sich Henry, ein hochbegabter, überdurchschnittlich intelligenter zwölfjähriger Junge, der mit ansehen muss, wie die Tochter des Nachbarn missbraucht wird. Was kann er schon dagegen tun? Zumindest mal allererst einen Plan verfassen. Einen Plan zur Rettung des Mädchens, das noch dazu in sie selbe Klasse geht wie der schulpflichtige Geistesriese mit ausgeprägtem Familiensinn und der bis obenhin angefüllt ist mit Liebe für seine Mutter und vor allem für seinen kleinen Bruder. Dumm nur, dass Henry im Krankenhaus landet. Diagnose: Hirntumor.

Colin Trevorrow, Regisseur des wunderbar verschrobenen, absolut sehenswerten Indiedramas Journey of Love (auch bekannt als Der Zeitreisende), aber auch Regisseur des sagenhaft missglückten Dino-Sequels Jurassic World, hat anscheinend wieder zu den Wurzeln budgetär überschaubarer, kleiner aber feiner Dramen zurückgefunden. Vom Set des kommenden Star Wars Spin-Offs Solo: A Star Wars Story hat sich der Filmemacher aufgrund angeblicher Drehbuch-Differenzen entfernt. The Book of Henry dürfte zwischen Dem Dino-Erfolg und Star Wars entstanden sein. Der vereitelte Idealist wird sich in Zukunft wohl mit niedriger dimensionierten Filmprojekten abfinden müssen – was aber kein Schaden für das Kinopublikum sein muss. The Book of Henry ist nämlich, genauso wie Journey of Love, ein ungewöhnlicher Genre-Mix, diesmal aber einer zwischen Jugend-, Familien- und Selbstjustizdrama. Was in erster Linie ins Auge sticht, sind die Darbietungen der beiden Brüder. Jaeden Lieberher als Mastermind, der es schafft, auch über seinen Tod hinaus Botschaften zu vermitteln, beweist gemeinsam mit seinem Co-Filmpartner Jacob Tremblay, den wir bereits aus Raum kennen, dass beim Casting von heranwachsenden Supertalenten in Hollywood stets ins Schwarze getroffen wird. Beide stehlen Naomi Watts den ganzen Film hindurch die Show, einzig abgelöst vom grimmig dreinblickenden Stiefvater der Nachbarstochter, dargestellt von Breaking Bad-Star Dean Norris. Die Jungs dominieren den Film, und die Zuneigung der beiden füreinander ist in jeder Spielminute spürbar. Was The Book of Henry auch noch auszeichnet, oder sagen wir zumindest in Erinnerung bleiben lässt, ist eine der wohl schmerzlichsten und intensivsten Sterbeszenen, die ich jemals in einem Filmdrama miterleben durfte. Das reduzierte, fesselnde Spiel des 14jährigen Lieberher geht an die Nieren, der Moment des Todes ist fast so, als wäre man Teil der Familie. Wenn man selber Kinder hat, so ist die Szene fast schon unerträglich und verursacht einen Kropf im Hals, der nur sehr langsam oder bis zum Ende des Films gar nicht mehr verschwindet. Denn die Trauer des hinterbliebenen Bruders ist nicht weniger berührend als der alles verändernde Schicksalschlag innerhalb der Familie.
Der Tod, so zeigt uns The Book of Henry, ist längst kein Grund, unerledigte Dinge unerledigt zu lassen. Schon gar nicht, wenn es um Zivilcourage geht. Da gibt es immer noch dieses Mädchen, das befreit werden muss. Und plötzlich ist Henry wieder allgegenwärtig, dank seiner vorausschauenden Geistesgegenwart, seines Scharfsinns und seiner Opferbereitschaft im wahrsten Sinne.

Auch wenn einige Kritiker The Book of Henry verrissen haben, ist der Film aus meiner Sicht in keiner Weise ein wild fabulierendes, konfuses Kitschdrama. Ganz im Gegenteil. Taschentücher und Hollywood-Schmalz sucht man in der Erzählung über Mut und Verantwortung vergebens. Tränendrüsen werden zwar gedrückt, aber irgendwie anders. So wie der ganze Film auch irgendwie anders ist. Wie der wache Geist eines hochbegabten Kindes.

The Book of Henry

Die Poesie des Unendlichen

WER ES FASSEN KANN, DER FASSE ES

7/10

 

poesieunendlich

Regie: Matt Brown
Mit: Dev Patel, Jeremy Irons, Toby Jones

 

Manche Menschen sind einfach von Geburt an mit Begabungen gesegnet, die wir Normalos nicht mal ansatzweise nachvollziehen können und wo wir schon nach den ersten Metern erschöpftes W.O. geben würden beim Versuch, die Welt in ihren Grundstrukturen zu erfassen. Die Dimensionen der Mathematik sind da das wohl deutlichste Beispiel dafür, welchem Spektrum sich der menschliche Verstand bedienen und wie weit der Mensch in die „Matrix“ unserer Welt vordringen kann. Doch hinter den Vorhang des Sichtbaren zu blicken und dabei nicht den Verstand zu verlieren, ist eine Gratwanderung. Vor allem bei so einer Begabung, die gleich einer geistigen Mutation einfach da ist, gleichermaßen quält und zur Erkenntnis führt. Ruhelose Geister sind das. Der Mathematiker John Nash zum Beispiel war schizophren und litt Zeit seines Lebens an Wahnvorstellungen. Russel Crowe hat ihn im Film A Beautiful Mind ein Denkmal gesetzt. Überhaupt legen Menschen mit autistischen Zügen sagenhafte kognitive Fähigkeiten an den Tag. Wunderkinder, Hochbegabte. Wie zum Beispiel Sitcom-Nerd Sheldon Cooper.

Natürlich tauchen solche Superhirne auch in entlegenen Ecken der Welt auf. Und wenn sie die Chance dazu haben, und den Mut aufbringen, dieses Potenzial des Welterklärens nutzen zu wollen, kann man von diesen Leuten später sogar in den Geschichtsbüchern lesen. Wie zum Beispiel bei Srinavasa Ramanujan. Der indische Büroangestellte wollte in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, also noch in der tiefsten Kolonialzeit Großbritanniens, sein Recht durchsetzen, sein mathematisches Verständnis universitätstechnisch absegnen zu lassen. Und zwar an keiner geringeren Institution als Cambridge. Diesen Weg dorthin als steinig zu bezeichnen, ist geradezu ein Euphemismus. Hätte er nicht den Mathematikprofessor G. H. Hardy an seiner Seite gewusst, wäre der Rest nicht Geschichte geworden. Ist es aber. Ramanujan hat das Weltbild zukünftiger Zahlenwissenschaftler grundlegend verändert. Doch das Faszinierendste auf diesem Weg dorthin war die Tatsache, dass der Wunder-Inder mathematische Rätsel lösen konnte – doch erklären konnte er sie nicht. Wie die Gabe eines Mutanten aus dem X-Men-Universum. Wie ein Wunderheiler oder ein parapsychologisches Medium war Ramanujan nicht imstande, für seine prophetischen, sagenhaft präzisen Botschaften eine mathematische Formel zu finden. Mit Ergebnissen allein lässt sich Mathematik nicht lehren. Oder gar verstehen.

Regisseur und Drehbuchautor Matt Brown hat auf historischer Basis eine unaufgeregte, zurückhaltende Biografie ersonnen, die sich dem Thema des menschlichen Genies von einer ganz anderen Seite nähert. Für Brown ist Ramanujan keine Attraktion, sondern ein akribischer Ehrgeizling mit einem Gehirn als rätselhaftes Werkzeug, das sich erst gar nicht und später nur sehr widerwillig und nach großer Anstrengung nutzen lässt. Hochbegabung kann sich nicht alleine überlassen werden. Dazu ist sie zu komplex, selbst für den, der sie besitzt. Die Poesie des Unendlichen lädt ein in eine fremde Welt des Begreifens und Verstehens. Aber auch in eine Epoche des unreflektierten Klassendenkens und Menschenverachtens. Dev Patel lässt seinen berühmten Landsmann mit sehr viel Sympathie zur historischen Person straucheln und wieder aufstehen, leiden und lieben. Dafür nimmt sich der Film sehr viel Zeit, und oft sind es nur nüchterne Dialoge, welche die Geschichte vorwärts bringen. Zeit, Geduld und Interesse sollte man mitbringen – dann wird der Filmabend zu einem berührenden Streifzug durch die Terra Incognita eines menschlichen Geistes.

Die Poesie des Unendlichen

Hidden Figures

DER STOFF, AUS DEM DIE HELDINNEN SIND

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hiddenfigures

Die Apartheid der Vereinigten Staaten – das dunkelste Kapitel in deren Geschichte. Und längst keine Fußnote, sondern eine fürchterlich und quälend lange Epoche aus Unterdrückung und Erniedrigung über Jahrhunderte hinweg. Begonnen mit dem Deportieren westafrikanischer Menschen nach Übersee, offiziell beendet mit den Civil Rights Acts Ende der 60er Jahre. Allerdings, wenn man genauer hinsieht. herrscht mancherorts immer noch blanker Rassismus, der meist im Missbrauch einer faschistoiden Exekutive eskaliert und weitreichende Unruhen nach sich zieht. Ein Problem ist es also immer noch. Und dass die Vereinigten Staaten hier lange Zeit auf Regierungsebene tagtäglich Menschenrechtsverletzungen begangen haben, das ist etwas, womit das Land erst langsam klarkommen muss.

So bewusst geworden ist es zumindest dem amerikanischen Film vor allem in den letzten Jahren. Kein Academy Award-Wettbewerb, der nicht Filme unter den Kandidaten hat, die sich mit der Geschichte der Schwarzen in Amerika auseinandergesetzt haben. Regisseure und Drehbuchautoren gehen völlig unterschiedlich an die Sache heran – Quentin Tarantino zum Beispiel lieferte mit Django Unchained eine lautstarke Black Power-Hommage an den Italowestern ab. Steve McQueen mit Twelve Years a Slave bohrte mit dem Finger in den offenen Wunden, welche die beschämende Ära der Sklaverei hinterlassen hat. Und Selma erinnerte auf bewegende Weise an einen Moment in der jüngeren Geschichte des Landes, der Vieles verändert hat. Das sind nur einige wenige Beispiele, die mir spontan in den Sinn gekommen sind und einen gewissen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Wir sehen, vor allem in der Kunst, und vor allem in jener der bewegten Bilder, engagiert man sich geradezu ruhelos, die Schmach der Vergangenheit aufzuarbeiten und den großen Teil der schwarzen Bevölkerung Amerikas zu rehabilitieren.

Auch das Jahr 2017 steht ganz im Zeichen dieses wichtigen Auftrages. Unter diesen Filmen findet sich auch ein klassisch erzähltes Tatsachendrama rund um den ersten Orbitalflug John Glenns im Jahre 1962. Nun, was hat die Geschichte der Raumfahrt mit der Rassentrennung zu tun? Ganz einfach: angestachelt vom Eifer der Russen, die Juri Gagarin bereits ein Jahr zuvor in den Himmel geschossen haben, ließ die NASA nichts unversucht, im Wettlauf um die Eroberung des Weltraums mitzuziehen. Dumm nur, dass damals die hellsten Köpfe am Weltraumcampus Afroamerikanerinnen waren. So wird aus einem geschichtlichen Thriller, der in seiner Erzählweise stark an Der Stoff aus dem die Helden sind erinnert und auch als eine ins Detail gehende Ergänzung gesehen werden kann, ein starkes Plädoyer für Gleichberechtigung, Vernunft und gemeinsamem Fortschritt. So konventionell auch die eine oder andere Szene des Filmes daherkommen mag – die Geschichte hat eine mitreißende, kraftvolle Wirkung, verschließt sich nicht vor seinem Publikum und lässt es teilhaben an all den Gefühlswelten der drei Protagonistinnen, die ihren Weg zwischen Ablehnung, Skepsis, Selbstbehauptung und überdurchschnittlicher Intelligenz bis zum erfüllenden, geradezu ruhmreichen Ziel ihrer Laufbahn als Mensch und Mitwirkende einer der größten Momente der Menschheit je gegangen waren. Hidden Figures führt jeden kleinkarierten, vorurteilsvollen Denkansatz ad absurdum, würdigt und beurteilt den Menschen für das, was er leistet. Und nicht, was er ist.

Regisseur Theodore Melfi (St. Vincent mit Bill Murray) hat einen wichtigen, aufschlussreichen und spannenden Film gemacht, der das Wissen und auch so manche Denkweise anhand dieses tatsächlichen großartigen Beispiels bereichern kann. Ein Wiedersehen mit dem souverän aufspielenden Kevin Costner ist übrigens ebenso garantiert wie die gern gesehene selbstironische Rolle von Jim „Sheldon Cooper“ Parsons, der das Zepter des allwissenden Superhirns – unfreiwillig aber doch – diesmal jemand anderem überlassen muss. 

 

Hidden Figures

Birnenkuchen mit Lavendel

RAIN MAN IN LOVE

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birnenkuchen

Autismus? – Ja klar, da weiß ich Bescheid. Ich habe Rain Man gesehen…“ Dank Barry Levinsons Roadmovie aus den späteren Achtzigern mit Oscarpreisträger Dustin Hoffman ist die Diagnose des Autismus auch in jene Teile der aufgeschlossenen Bevölkerung vorgedrungen, die mit Neurologie bis dato nichts anzufangen wusste. Dass mit dieser popkulturellen Offenbarung eigentlich fast gar nichts über diese psychische Erkrankung verlautbart wurde, mag zwar der Tatsache entsprechen – ein Anfang war aber gemacht.

Ein weiterer Film zu diesem Thema ist Eric Besnard´s französische Tragikomödie Birnenkuchen mit Lavendel. Auch hier bringt ein verhaltensauffälliger junger Mann das Leben einer bildschönen Witwe und deren Kinder durcheinander. Der Autismus des hier dargestellten Eremiten Pierre, der im Hinterzimmer einer Buchhandlung wohnt, ist mit dem Asperger-Syndrom gleichzusetzen. Dabei handelt es sich um eine schwächere Form dieser Entwicklungsstörung, die sich vor allem im sozialen Bereich und in der Strukturierung des Alltags widerspiegelt. Dass Autismus nicht zwingend mit einer außergewöhnlichen Intelligenz zu tun haben muss, wird vor allem im Film gerne außen vorgelassen. Film-Autisten werden gerne als hochbegabt dargestellt. Sheldon Cooper aus der Fernsehserie Big Bang Theory zum Beispiel weist ebenfalls Merkmale des Asperger-Syndroms auf. Könnte sein, dass da was dran ist.

Nun ist es unvorstellbar, dass sich ein Mensch mit einem derart sozialen Handicap als familientauglich erweist. Auf den ersten Blick, würde ich sagen. Birnenkuchen mit Lavendel belehrt uns aber eines Besseren. Auch Menschen wie Pierre können ihr Glück in einer Beziehung finden. Und das Leben „normaler“ Menschen durch ihren veränderten Blickwinkel auf die Welt durchaus bereichern. Vor allem, wenn deren Leben drauf und dran ist, zu entgleiten. Spätestens, wenn die Farmerin Louise die geliebten Birnenbäume ihres verstorbenen Gatten mit dem Traktor entwurzelt, kann es schlimmer nicht mehr werden. Und dann kommt Pierre. Und ordnet die Bruchstücke eines traurigen Alltags neu. Diesem Prozess zuzusehen macht Freude. Spendet Trost und Zuversicht. Und läuft in keiner Szene Gefahr, das Thema zu verkitschen, zu idealisieren oder allzu plump erscheinen zu lassen. Schon gar nicht auf Kosten des eigenwilligen Mathematik- und Hackergenies, der das Herz am rechten Fleck hat und im Grunde genauso fühlt wie jedes andere menschliche Wesen. Gespielt wird dieser von dem jungen, hageren Schauspieler Benjamin Lavernhe, der dem Charakter seiner Filmfigur und den besonderen Anforderungen, die diese Rolle mit sich bringt, mehr als gerecht wird. Ihm zur Seite der Inbegriff des Sommers in der Provence schlechthin: Virginie Efira, die sowohl im Arbeitsoverall als auch – und ganz besonders – im luftigen Kleidchen Lavernhe fast schon die Show stiehlt. Und das trotz dessen Bonus, ein verliebter Rain Man sein zu dürfen, der andere zwickt, um seine Zuneigung zu gestehen.

Birnenkuchen mit Lavendel ist ein sonnendurchfluteter, warmherziger Liebesfilm. So anmutig wie eine Blumenwiese, so wohltuend wie ein weißer Spritzer, so erdverbunden wie das Setzen von Sämlingen. Und so schräg, wie Menschen manchmal eben sind.

Birnenkuchen mit Lavendel

Bauernopfer

SCHACHBRETT VORM KOPF

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bauernopfer

Dass die meisten Menschen nur zehn Prozent ihres Gehirns nutzen, ist ein alberner Mythos. Zwangsläufig müssen wir als denkende Spezies sehr wohl mehr als diesen Anteil nutzen, sonst würden Teile unseres Denkapparates unweigerlich degenerieren. Dennoch gibt es Menschen, die tatsächlich ihre Hirnkapazitäten intensiver nutzen der Großteil der Menschheit. Es mag ja eine Art Geschenk sein, tiefer in die Komplexität des Lebens und die Mathematik der Natur vorzudringen. Allerdings geht dieses Geschenk Hand in Hand mit einem Fluch, der die zwischenmenschliche Komponente oder überhaupt die Komponente der Wahrnehmung heimsucht. Hochintelligente Menschen wie der Amerikaner Bobby Fischer zum Beispiel, der in den 70er Jahren den Schach-Code geknackt zu haben schien, war so ein Gesegneter. Aber auch ein von paranoiden Wahnvorstellungen, übertriebener Eitelkeit und hypersensibler Wahrnehmung geprägter Geist. Ein bemitleidenswertes Häufchen Mensch. Allerdings eines, dass wie kein zweiter die Prinzipien mathematischer Wahrscheinlichkeit und die Mechanismen des Königsspiels Schach absorbiert hat. Unter diesen Voraussetzungen wurde Bobby Fischer zu einer Galionsfigur der Vereinigten Staaten und deren neue Hoffnung, sich gegen das kommunistische Monstrum namens Mütterchen Russland zu behaupten. Dem Feind im Osten kam diese Offensive gelegen. Die Großmacht war bereit dem genialen, aber unausstehlichen Amerikaner Fischer mit dem hauseigenen Schachweltmeister Boris Spasski die Stirn zu bieten. Letzten Endes barg ihre Konfrontation 1972 im isländischen Reykjavik wohl eines oder überhaupt das unglaublichste Schachspiel seit Menschengedenken. Weil Bobby Fischer Strategien ins Feld führte, die völlig neu waren.

Bis es überhaupt so weit kommen konnte, mussten noch allerhand Allüren, unangekündigte Abwesenheiten, Spielausfälle und jede Mange großspuriges Gehabe von Fischers idealistischen Begleitern und Betreuern ausgeglichen werden. Regisseur Edward Zwick, Liebhaber historischer Stoffe und betulicher, sorgfältiger Erzähler sperriger Stoffe, hat den kalten Krieg auf 8×8 Feldern ausgetragen. Und nicht nur das – Bauernopfer (im Original Pawn Sacrifice) ist vor allem in erster Linie eine lupenreine Biografie und das Psychogramm eines Mannes, der von der Welt mehr verstand als ihm lieb war. Dass die meisten folglich daran scheitern, ist eine logische Konsequenz. Dieses Schicksal durfte Bobby Fischer mit Denkern wie dem Mathematiker John Forbes Nash teilen, der in Ron Howards grandioser Biografie A Beautiful Mind bereits verewigt wurde. So könnte das Bauernopfer auch Fischer selbst gewesen sein. Seine außergewöhnliche Begabung ist eine Medaille mit zwei Seiten, der Fluch ist inbegriffen. So schreitet die Realitätsentfremdung voran, die Welt wird zum Schachbrett, und jedermann führt etwas im Schilde. Was A Beautiful Mind und Bauernopfer gemeinsam haben, ist nicht nur die Psychostudie eines Superhirns. Auch beide Darsteller leisten Großartiges. Russel Crowe´s Performance ist hinlänglich bekannt. Ex-Spiderman Tobey Maguire steht ihm um nichts nach. Sein Spiel ist durchdacht, akribisch und leidenschaftlich. Genau so könnte der echte Bobby Fischer gewesen sein. Der irre, abwesende Blick, dann wieder das selbstverliebte Grinsen. Und dann die totale Konzentration. Eine oscarwürdige Leistung in jedem Fall. Ebenso Liev Schreiber skizziert seinen scheinbar stoischen Russen sehr realitätsnah. Zurückgezogen, arrogant, aber zeitweise genauso verwirrt und überempfindlich wie sein amerikanischer Gegenspieler aus Chicago.

Diese Nähe an der Dokumentation macht aus dem nüchternen, im Grunde schwierig umzusetzenden Thema ein faszinierendes Tatsachendrama mit ergänzender Allgemeinbildung zur Geschichte des Denksports. Psychologisch, aufschlussreich und bizarr. Und es erinnert daran, wieder mal das vertaubte Schachbrett aus dem Keller zu holen… oder wo immer ihr es verstaut habt.

Bauernopfer